Kitabı oku: «Menschenversuch», sayfa 4
ANNA
Ich sitze unter diesen unbeteiligt wirkenden blassen Menschen in ihren schönen Anzügen und perfekten Kostümen. In mir tobt es ohne Unterlass, mein Schrei macht Angst, er schmerzt hinter meinen Augen, bleibt stumm. Nur ich kann ihn hören. Oh Gott, ich bin so wütend und so erbarmungslos wach. Ich stelle mir vor, diese ahnungslosen fremden Mitreisenden könnten meinen Schrei vernehmen, mich dann ängstlich anstarren. Die Frau vor mir würde sicher hysterisch nach einem Uniformierten rufen, versuchen, sich in ihrem Sitz unsichtbar zu machen. Eine Wahnsinnige im sauber geputzten ICE. Meine Phantasie geht wieder mit mir durch.
Ich sehe aus dem Fenster, um mich etwas zu beruhigen. Mein Blick fällt auf die Lektüre meines Sitznachbarn »Sicherheit auf all Ihren Wegen« prangt vom Deckblatt – Scheiße, denke ich und fast bereue ich, dass meine schmalen Deutschkenntnisse ausgerechnet dazu ausreichen, diesen Blödsinn zu entziffern. Ich spüre, wie Zorn in mir aufsteigt. Wie von selbst wandern meine Gedanken zurück, weit zurück, in Zeiten voller Angst und ohne jede Art von Sicherheit. Damals wusste ich nicht, ob ich den nächsten Tag noch erleben würde. In meinem rechten Arm beginnt zu heftig zu ziehen, es pocht wild und ich weiß nicht, ob meine Gedanken den Schmerz auslösen, oder ob er dort beginnt und Verdrängtes in mein Herz pumpt. Es ist diese Klarheit, die gleichzeitig so weh tut und vor der ich einst so große Angst hatte, dass ich sie lange mit Alkohol zu unterdrücken versuchte.
Viele Jahre habe ich in Dunkelheit verbracht. Das Verrückte war, je dunkler es um mich wurde, umso klarer wurde es in meiner Seele. Fast so, als würde ich in den eigenen Kellergewölben umhergehen, um Gespenst nach Gespenst mit einer Fackel zu beleuchten, meinen schlimmsten Feinden, meiner größten Angst ins Gesicht zu blicken. Ein wichtiger, aber schonungsloser Film, der immer wieder in mir abläuft. Ich sehe mich als kleines Mädchen auf dem Handkarren meines Vaters sitzen. Noch heute tauchen Gerüche auf, vertraute Gerüche nach nassem Schmutz und Verwestem. Dann ist mir, als würde meine ganze Haut danach riechen und ich gerate in Zwiespalt, mir den Dreck sofort abwaschen zu wollen, während ein anderer Teil in mir, diesen elenden Geruch halten möchte.
Drei Jahre war ich, als mich mein Vater zum ersten Mal in diesen Teil unserer Stadt mitnahm, der so völlig anders aussah als der Ort, wo ich mit meinen Eltern und meinen beiden Schwestern wohnte: Eine kleine Baracke, die etwas mehr Schutz bot als die Hütten aus Pappkartons, die viele als ihr Zuhause bezeichneten. Mama arbeitete in einer dieser großen Lederfabriken und um unser Haus flossen die Abwässer der Fabrik und töteten alles was grün war, und Halt in dieser Erde zu finden suchte. An diesem Abend war es kalt und Mama hatte mir eines ihrer dicken, bunten Tücher um die Schultern gebunden und übers Haar gestrichen. Daran erinnere ich mich noch so genau als wäre es heute, denn diese Art liebevoller Geste hätte ich mir öfter gewünscht. Ich zweifelte nicht an ihrer Liebe, aber der Kampf ums Überleben fraß all das Zarte und Schöne auf. Ich schloss die Augen und spürte die grenzenlose Traurigkeit meiner Mutter, die Nacht mit all dem Neuen und Unbekannten und die Gegenwart meines Vaters vorn an der Deichsel.
Der Zug hält und ich freue mich doch, dass ich etwas von der Lautsprecheransage verstehe. Zehn Tage bin ich schon in Europa unterwegs und es ist mir sehr schwergefallen, Paolo in Frankreich zurückzulassen. Je älter er wird, um so mehr ähnelt er Ernesto und so dankbar ich bin, dass es ihm in Frankreich gut geht, so schwer ist es, ihn so weit weg von mir zu wissen. Plötzlich fühle ich mich unendlich alt und allein in diesem fremden Land. Der Zug fährt wieder an und draußen beginnt es zu schneien. Schnee – der Wahnsinn. Das Bild einer weißen, sauberen Decke drängt sich mir auf. Wie es wohl aussehen würde, wenn sich diese weiße, saubere Decke gnädig über all den Schmutz und das sichtbare Elend in unserer Favela legen würde? Aber so weit reicht meine Vorstellung nicht. Dieses dunkle, leere Gefühl welches sich in meinem Bauch zuhause fühlt, gehört es unabdingbar zum Menschsein? Hier in diesem Augenblick bin ich ganz allein, allein unter vielen Menschen, bin meinen Gedanken ausgeliefert, liege auf kaltem Zellenboden.
Und wieder fällt mein Blick auf eine dieser Überschriften: »Sicherheit im Krankheitsfall«. Ich spüre förmlich den schmalen Grat auf dem ich mich bewege. Ist es möglich, dass mehrere Welten zugleich existieren? Leben wir tatsächlich alle auf dem gleichen Planeten?
Meine Welt bestand in den vergangenen Jahren aus Gewalt und Ungerechtigkeit. Ich rannte gegen Mauern, Mauern die mich einschlossen, mir das Leben abschnitten, Mauern an denen ich mich schwer verletzte. Ernesto, sein Blick als er von den Schüssen getroffen vor mir zusammenbrach. Oh Gott, ist es unvermeidlich, dass wir so leiden müssen? Wenn ich damals nicht gewusst hätte, dass ich mit Paolo schwanger war, dann wäre ich gern mit ihm gestorben. Wie viele mutige Menschen in meinem Land müssen noch sterben, bevor wir alle die gleichen Rechte haben. Was ist mit all den reichen Großgrundbesitzern? Ist es zu begreifen, dass 500 Familien das Land unter sich aufteilen und Tausende von »Ernestos« nicht die Erde unter den Fingernägeln als ihr Eigen betrachten dürfen? Meine Finger werden feucht und mein Sitznachbar geht zur Toilette. Das Jetzt hat mich wieder, Gott sei Dank. Hoffentlich wartet Maria schon am Bahnhof. Maria,- der Gedanke, sie gleich umarmen zu können, beruhigt mich, macht mich glücklich.
Wie viele Jahre habe ich gebraucht, um zu verstehen, welchen Sinn mein Leben hat, welche Aufgabe mir das Leben zugedacht hat. Es dauerte lange, bis ich bereit war, dieses Leben so zu akzeptieren und mit dem Kämpfen aufzuhören. Seit dem ersten kindlichen Erschrecken über die Not meines Vaters, auf dieser elenden Handkarre, seit damals kenne ich das Gefühl der Hilflosigkeit und ohnmächtigen Wut, die mir nur einen Ausweg zeigte. Wie viele meiner Freunde habe ich auf diesem Weg verloren? Allein die Angst sich irgendwie zu verraten, andere in Gefahr zu bringen. Schreiben war überlebenswichtig für mich, zugleich gefährlich. Ich weiß nicht mehr, wie viele Papiere ich dem Feuer übergab. Ob irgendeiner in diesem Zug jemals sein Tagebuch verbrennen musste? Sie sollten sich verdammt noch mal glücklich schätzen. Im Augenblick wünsche ich mir einfach nur einen vertrauten Menschen an meiner Seite. Hol mich hier raus Maria, halt mich fest, lass mich nicht mehr los. Berlin-Hauptbahnhof wird angesagt und ich stehe auf. Ob sich Maria verändert hat? Liebe alte gute Freundin, wie viel Zeit ist vergangen? Sind es wirklich schon fast zwanzig Jahre her, seit wir Seite an Seite demonstrierten, immer den gefürchteten uniformierten Feind vor Augen.
Wenn ich heute in den Spiegel blicke, schaut mir ein von tiefen Falten gezeichnetes Gesicht entgegen. Ich trage wie fast alle meiner Freunde, das Erlebte im Angesicht und halte vergeblich Ausschau nach dem Kind auf dem Handkarren von damals. Ich denke an das Prägen von Münzen. Die Vertiefungen, die sich ins Metall graben, geben der nackten Münze erst ihren Wert. Meine Vertiefungen haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin und ich achte jede meiner Falten. In unserer Generation versucht jeder auf andere Art, das Vergangene zu bewältigen und zu verarbeiten. Beim letzten Treffen mit Paolo in Italien waren wir auf der Biennale. Der Pavillon unseres Landes war mit Abstand der düsterste. Aber glücklich der Künstler, der auf so kreative Art ein Stück Angst loslassen darf.
Die Angst um meine Lieben, um mein eigenes Leben, dieser ständige Kampf und immer wieder in Gefangenschaft, all das hat mich mürbe gemacht. Aber alles hat zwei Seiten, denn auf diesem Weg traf ich viele Menschen, die unsere Idee unterstützen. Über kulturelle und sprachliche Hindernisse hinweg verbindet uns eine gemeinsame Sehnsucht. Es tut mir gut zu sehen, wie viel Solidarität und mutige Initiativen es in Europa gibt. Und doch ist es anstrengend, immer wieder auf Widerstand zu stoßen. Hier bei Maria darf ich mich mit all meiner Müdigkeit zeigen, kann aufhören, anderen Mut zu machen, sie zu motivieren. Denn im Grunde brauche ich selbst Hilfe, ich bin so erschöpft.
Nach und nach schieben sich die Menschen vor mir in Richtung Ausgang. Meine Augen wandern durch die großen Fenster über viele fremde Köpfe hinweg. Da steht sie, ganz klein an eine Tafel gelehnt. Maria. Ich winke ihr zu, aber die Scheiben dieser modernen Züge gewähren den Augen der Wartenden keinen Durchblick. Stimmengewirr, laute Ansagen, kalter Wind und Marias warme Hände. Früher habe ich mir das Weinen untersagt, aber heute bin ich alt genug, um es mir wieder zu erlauben, wir sind beide alt genug. Nur raus aus dem Bahnhof. Maria verstaut mein Gepäck in ihrem kleinen Käfer. Ich glaube, sie ist die letzte Käferfahrerin in ganz Europa. Auf jeden Fall habe ich bisher nie andere gesehen. Zuhause auf unseren Straßen gibt es viele von ihnen, abenteuerlich geflickt, so wie die meisten unserer Autos.
Der heiße Kaffee am Bahnhofs-Kiosk tut uns gut. Wir trinken und schauen uns einfach nur an. Ich kann mich jedoch nicht entspannen. Wir wollen noch weiter zu Sabine, bei ihr werde ich die nächste Zeit bleiben können. Der Schnee auf der Straße macht das Fahren sicher nicht einfacher. Aber Maria lacht und meint, dass sie sich inzwischen mit dem Schnee angefreundet habe. Bei uns wäre das eine Sensation und Katastrophe gleichzeitig. Endlich sitzen wir im Auto, sie kneift ihre Augen zusammen und die Falte zwischen ihren Augen erscheint noch tiefer. Sie ist konzentriert und mit dem dichter werdenden Abendverkehr beschäftigt. Ihr Gesicht ist mir vertraut, aber Maria ist alt geworden. Meine Gedanken verirren sich, während ich in das Schneegestöber blicke. »Der Wind braucht Widerstand, Bäume, Häuser, Menschen, damit er hörbar wird und du wirst auch Widerstand sein, Anna.« Ich spüre den Blick, mit dem mich mein Vater ansah, als er dies sagte. Mir wurde warm und gleichzeitig furchtbar kalt. Wie schnell mein Leben verlaufen ist, oder kommt es mir nur so vor? Gern würde ich mit Maria sprechen, aber der Schnee fällt immer stärker und ich bleibe mit meinen Gedanken allein. All die Jahre war so wenig Platz für Wünsche, Träume, Pläne, privates Glück. Erst jetzt, mit etwas Abstand, finde ich Puzzelstücke der Frau, die ich verdrängen musste, um zu überleben. Ernesto, Paolo, meine Familie, meine lieben Freunde … wie ein Zeiger, der sich viel zu schnell dreht. Sabine hat mir erzählt, dass in der deutschen Sprache der wichtigste Teil einer Uhr »Unruh« genannt wird, das beschreibt mein Gefühl in etwa, mir fällt das spanische Wort dafür nicht ein, vielleicht gibt es keins. Ich sehne mich nach einem Becher Mate, aber im Zug habe ich meine Flasche nicht auffüllen können, darauf ist man hier nicht eingestellt. Zuhause läuft jeder mit einer Thermosflasche herum, um immer und überall Mate trinken zu können. Ob Maria sich im Exil unsere vertrauten Rituale abgewöhnt hat?
Nein, ich habe nicht aufgehört, unser Land zu lieben, aber die Tatsache, dass auch heute noch Militärs unter dem Deckmantel der Demokratie die Geschicke lenken, macht mich zornig. Kurz bevor ich nach Europa aufbrach, war es dem Verteidigungsministerium gelungen, mit fadenscheiniger Begründung unser Bürgerradio zu schließen. Auch heute ist es ihnen noch möglich, unsere Stimmen ganz legal zu knebeln. Selbst Sabine, die mit viel Engagement Spenden für unser Radio sammelte, uns mit Hilfe ihres Vereins neue Funk-Ausrüstung besorgte, war nach diesem letzten Rückschlag total entmutigt. Und ich, mit all meiner Erschöpfung, ausgerechnet ich, sollte ihr Mut machen.
Ich bin nicht mehr die Frau von damals. Damals, als kein Raum zum Nachdenken blieb, weil es um unser Leben ging. Später im Gefängnis verloren wir das Gefühl für Raum und Zeit. Ohne unsere intensiven Kontakte untereinander hätte keine von uns jemals wieder an dem Faden, der uns mit Außen verband, anknüpfen können. Vieles verschob sich in unserer Wahrnehmung und ich erinnere mich noch an Aktionen von Freunden draußen, die für uns drinnen kaum nachvollziehbar waren. Wo war der Sinn und wie hoffnungsvoll durften wir noch sein nach so langer Zeit, einem menschenverachtenden System nackt ausgeliefert? Jede von uns im Frauengefängnis war ihren Gedanken ausgeliefert, unterbrochen von den täglichen Qualen, die uns körperlich und seelisch zugefügt wurden. Die vielen Wunden meiner Hülle sind nichts gegen die Wunden meiner Seele. Auch heute reagiert mein Körper mit Ekel und Schmerz, wenn ich den Geruch von Urin wahrnehme. Es ist mir unmöglich, hier im Zug auf die Toilette zu gehen.
Ohne dass wir miteinander sprechen, blickt Maria mich kurz an und wir wissen beide um unsere Verbindung. Auch Maria war viel zu lange in der kalten, nassen Dunkelheit gewesen, die sich mit nichts vergleichen lässt. Marias Flucht ins Exil nach Deutschland hatte auch uns Zurückgebliebenen neue Kraft gegeben. Nach dem was ich über die neuere deutsche Asylpolitik weiß, wäre Marias Leben heute keine Peseta mehr wert.
Es ist so paradox: Die Verfolgten bleiben in allen Ländern immer nur geduldet. Die ehemaligen Folterer und Schlächter hingegen gehen frei aus. Das zu akzeptieren fällt mir mehr als schwer. Ich sehe mich noch wie heute in diesem Wartezimmer mit Paolo im Arm, der vor Fieber glühte. Mir stockte der Atem, als ich in diesem Arzt meinen einstigen Folterer erkannte. Er war es, der nach kurzem Abhören meiner Herzschläge, die Fortführung von Elektroschocks erlaubte. Wie könnte ich jemals dieses Gesicht vergessen! Aber ich konnte damals nichts tun, denn es war nach dem Scheitern der Strafverfolgung ehemaliger Militärs, genau wie heute völlig legal, wenn er wieder praktizierte. Leben Tür an Tür mit den ehemaligen Folterern, ist bis heute unsere Realität.
Und immer wieder bin ich auf mich selbst zurückgeworfen: 50 Kilogramm Mensch mit zunehmender Vergangenheit und stetig abnehmender Zukunft. Was will ich auf dieser Welt? Habe ich mir als Kind mein Leben so vorgestellt? Aber wann war je Zeit darüber nachzudenken? Die Ereignisse überstürzten sich und selbst die Liebe zu Ernesto war schrecklich kurz. So ängstlich ich mich immer als Kind fühlte, so mutig wurde ich mit Ernesto gemeinsam. Unser Traum von einem gerechten, freien Land ohne Armut und Hunger verband uns, gab uns Kraft. Die Art wie er alle Menschen mit Respekt zu behandeln suchte, hat mich damals sehr angerührt und auch ich fühlte mich mit ihm lebendig und wertvoll. Ich erinnere mich noch an diesen letzten warmen Oktoberabend, an unsere Hilflosigkeit, an dieses Gefühl, den anderen nicht mehr in die Augen schauen zu können. Es tat weh, diese Verzweiflung auch bei den anderen zu spüren. Wir waren wie eine Herde Schafe, geblökt hatten wir genug, zu viel, als dass es ein Zurück in die Anonymität hätte geben können. Raul war es, der an diesem Abend die ersten Waffen mitbrachte. Erschrocken und mit dem Mut, den nur Ertrinkende empfinden können, beschlossen wir, uns zu wehren. Ja, da war auch das Wissen, mit diesem Schritt unseren Feinden ähnlicher zu werden, aber es gab keine Alternative, jedenfalls sahen wir keine. Bereits am Tag darauf wurden Pedro und Carmen nachts aus ihren Betten geholt. Ich habe keinen der Beiden je wiedergesehen. Unsere Entscheidung war unwiderruflich.
Ganz allein mit mir, hatte ich viele Fragen an Gott. Ein »Warum« war da in mir, ein nicht fassbares Entsetzen, dass dies das mir zugedachte Leben sein sollte. Mein Kinderglaube war längst zerstört und doch war da ein Suchen nach Halt, nach einer Erklärung außerhalb dieses Chaos. Meine Träume von damals waren geprägt von Gewalt. Ich sah mich, wie ich mit der Waffe in der Hand in ohnmächtiger Wut in diese verhassten Gesichter schoss – immer wieder, bis ich aufwachte und mich in der Realität wiederfand, die meinem Traum an Angst und Gewalt in nichts nachstand. Was war ein Leben wert? Meine Wut und mein Hass hatten mich verändert – ich war bereit zu töten.
In einem Buch habe ich gelesen, dass niemand durch dieses Leben gehen kann, ohne Schuld auf sich zu laden. Ohne Schuld? Nein, sicher nicht, wenn man meinem Land zur Welt kommt. Für viele waren wir Hoffnungsträger und manchmal stellte ich mir vor, was sie wohl empfinden würden, wenn sie uns in unseren dunkelsten, kaputtesten Momenten erleben könnten. Ob sie dann immer noch hofften?
Der Schneesturm hat den gleichen Effekt wie unsere abendlichen Lagerfeuer am Rande der Stadt. Er zieht einem die Gedanken aus dem Kopf und da bleibt nichts als gnädige Leere, wenn auch nur für Sekunden. Bewundernd sehe ich zu Maria hinüber, aber ich fühle auch ihre Anspannung und sehe wieder aus dem Fenster. Vor uns fährt ein riesiger Wagen mit Hölzern auf das angezeigte Autobahnkreuz zu. Ob da auch Eukalyptusbäume aus meinem Land dabei sind? Aber diese Baumstämme hier scheinen so gewaltig, dass ihr Zuhause bestimmt einst der Urwald war. Entwurzelt wie sie fühlte ich mich damals auch; man hatte uns die Zufuhr zur Lebensenergie gekappt. Aber hatte ich eine Wahl? Habe ich heute eine Wahl? Was ist Schicksal? Ein alter Mystiker hat einmal erklärt, dass sich das Wort Schicksal aus den zwei Worten »Schicken« und »Sal« für Heilen zusammensetzt. Dies alles also, um meinen Lebensplan zu erfüllen? Menschsein war noch nie einfach. Ich musste trotz allem schmunzeln, meine augenblicklichen Wünsche waren so profan; ein heißes Bad, ein Becher Mate und schlafen, einfach nur schlafen.
Draußen hört und hört es nicht auf zu schneien. Den meisten Fahrern auf dieser Autobahn scheint das wenig auszumachen, aber mir geht alles viel zu schnell und ich hoffe nur, dass Maria die Ruhe behält. Ich sehe wieder aus dem Fenster und plötzlich rast ein Wagen so dicht an uns vorbei, dass wir ins Schleudern geraten. Marias Gesicht ist so weiß wie der Schnee auf der Straße. Ich fühle nur noch dumpfe Schläge, mit denen etwas auf die Straße knallt. Oh Gott, jetzt habe ich all diese schrecklichen Qualen überlebt, um auf dieser Straße fern der Heimat zu sterben? Es sind Sekunden, aber mir scheint es ewig bis Stille eintritt.
ATOMFUCHS
Das ist gerade nochmal gut gegangen. Der Kerl meinte wohl, mich überholen zu können – mich! Ein kleiner Druck aufs Pedal, mein Alfa macht einen Satz und zischt schon ab; prompt hör‘ ich es hinter mir krachen. Vor der Ausfahrt aufs Autobahnkreuz, dieser Spielwiese für Anfänger, hab‘ ich nur noch die eine Ampel. Aber ich kann nichtmal in den Spiegel seh’n, weil ich vor mir so einen Lahmarsch von Golf hab‘, der bei Gelb schon auf die Bremse steigt. Warum soll ich nicht noch vorbei machen, auch wenn das Licht schon ziemlich rötlich ist. Die meisten dieser Straßenverstopfer sollte man gleich aus dem Verkehr ziehen.
Das gilt auch für die Ämter und die Typen, die da rumsitzen. Wenn wir keine Ideen hätten, könnte das Baureferat doch dicht machen; statt dessen schmeißen die einem immer neue Steine in den Weg. Die Referentin neulich war echt das Letzte – schon wie die aussah, da hätte sich nichtmal ein Nilpferd rangetraut. Und dann ihre Argumente: Die Baugenehmigung für den Reaktor müsse nochmal überprüft werden, weil das Gelände am Fluss nicht nur hochwassergefährdet ist, sondern weil die Gegend überdies nicht als erdbebensicher gilt. In Bayern! Da zittert die Erde doch nur, wenn solche Figuren wie die drauf rumtrampeln. Was wäre das für ein Zeit- und Lust-Gewinn, wenn diese ganzen Bedenkenträger und Aktenbestäuber in den Zoo geschickt werden könnten!
Überhaupt – Marktwirtschaft pur ist doch ein klasse Ausleseprozess; je weniger Regeln und Gesetze, umso besser. Die sind ja bloß von Wichtigtuern und Spargelköpfen erfunden worden, die Angst davor haben, man würde sie sonst gar nicht bemerken. Mit Recht. Was bringen die der Gesellschaft, was bringen die mir eigentlich ein? Und dann diese angebliche Rücksicht auf Arbeitslose. Dass ich nicht lache! Wer zu blöd ist, abzusahnen, der hat doch selber schuld – muss man das auch noch prämiieren? Das ganze Geld, was da rausgeschmissen wird, wäre woanders besser aufgehoben. Zum Beispiel bei mir.
Na, da wären wir bei meiner hübschen Geldfabrik. Das Gerüst steht ja inzwischen, aber die beiden blöden Bäume haben sie immer noch nicht umgelegt. Und wenn’s zehnmal verboten ist: Ich will die hier nicht mehr sehen. Diese Scheiße mit den Kastanien und dem ganzen Laub im Herbst – nee. Dass die Mieter hierzulande besseren Rechtsschutz haben als der Hausbesitzer ist typisch für diese Gesellschaft und ihren Zustand, die ‚soziale Marktwirtschaft‘ dieser christliche Sozialismus ist bloß eine abendländische Gemütskrankheit, garniert mit kommunistischen Speiseresten. Wenn mir was gehört, will ich auch darüber verfügen können. Bis jetzt hat das nur bei der Alten im vierten Stock funktioniert – mein immer mal wieder wirksames Rezept: Ausfall von Strom und Wasser ohne Vorankündigung, Verbot des Benutzens von Toiletten übers Wochenende, Abstellen der Heizung und soviel Krach wie möglich. Alles natürlich mit dem Umbau begründet. Dass die Alte bald nach ihrem Auszug gestorben ist, ist nicht mein Problem; mein Haus ist doch kein Sanatorium.
Der Skandal liegt darin, dass sich das ganze Marktwirtschaft nennt, obwohl du nichtmal die Preise festlegen darfst – schon kommen die Mieter angewackelt und schreien Alarm und halten dir den Mietenspiegel vor die Nase, den irgendwelche minderbemittelten Klugscheißer erfunden haben. Du kannst sie auch nicht rausschmeißen, wenn sie dir unsympathisch oder mal mit der Miete im Rückstand sind. Du brauchst also Entmietungs-Fachleute und musst die bezahlen, ohne das von der Steuer absetzen zu können. Dabei will ich ja nur mein Recht, also anständigen Profit, sonst nichts. Was gehen mich die Wohnprobleme von Leuten an, die zu blöde sind, ihre Miete zu verdienen? Höchstens zehn Jahre: dann muss der Kaufpreis für so ein Haus durch Mieten und Steuervergünstigungen wieder reingekommen sein. Dann hast du eine hübsche Geldfabrik, die auch in schlechten Zeiten funktioniert. Ich bin doch nicht so bescheuert, die öffentlichen Rentenkassen aufzufüllen und dann bei der nächsten Währungsreform wieder alles los zu sein. Nee.
Die war ja echt hübsch eben. Kam wohl aus dem dritten Stock – muss ich mir merken. So ein lässig-straffer Gang und die scharfe Figur, dazu diese Mischung aus Anmache und verschämt ironischem Lächeln: ganz mein Typ. Wird auch Zeit, dass ich mir mal ‘ne Abwechslung gönne. Die schöne Susanne und ihre verstaubten Lustfelder wecken mich nicht mehr auf und Birgit ist ja ganz reizvoll, aber ihr vieles Gequatsche über zärtliches Familienleben und so nerven mich. Dazu kommt, dass sie dich immer erst ranlässt, wenn sie einen in der Krone hat und das kann lange dauern. Frauen sind – manchmal – gut fürs Bett; alles andere besorge ich mir schon selbst. Heiraten heißt doch nichts anderes, als dir so ‘ne Tussi vor den Bauch zu binden und wenn du sie loswerden willst, kannst du dafür auch noch bezahlen. Dann halt ich mir für das Geld lieber zwei Wohnungen und brauch' mir dann nur zu merken, wen ich für welches Bett einteile. Und die Wohnung hier, zwei Stockwerke ins Dach gebaut, die wird erst richtig super.
Scheiße, dass ich den Slomann nicht zu fassen gekriegt hab‘ – wozu fahr ich denn überhaupt her? Aber ich hab‘ ihm meine Meinung schon auf den Anrufbeantworter gegeigt: Schließlich bezahle ich ihn und nicht zu knapp. Irgendwann muss ich ja mal wissen, was der ganze Umbau kostet – und wie fett er das Baureferat schmieren muss, damit wir ‘ne schnelle Genehmigung kriegen. Noch kann ich die Penunsen aus dem Topf ziehen, den mir der Konzern für die Grundstückskäufe und die gute Stimmung im Stadtrat aufgemacht hat; im Vorfeld von Baugenehmigungen musst du liquide sein wie bei einem Stapellauf. Erst recht, wenn’s um ein AKW geht. Aber der Chef kommt verdammt gut weg, so billig wie ich uns den Baugrund unter den Nagel gerissen hab. Die Extras kann sowieso keiner kontrollieren, und so ganz genau brauchen die in der Zentrale das auch nicht zu wissen; das verwirrt die nur. Das einzige, was zählt, ist der Erfolg und davon will ich auch mal profitieren – die können doch froh sein, dass sie mich haben, oder? Ich bin sowieso der Größte.
Das hat auch das Gespräch mit den Typen von der Regierung und unserer Konzernspitze über einen Energiekonsens im Land gezeigt. Die wollen doch allen Ernstes auch die Gegner der Atomindustrie irgendwie einbinden und kriegen deshalb kein Bein vor das andere. Energiekonsens – das klingt für mich wie die Hochzeit von Zwittern. Statt durchzustarten und uns grünes Licht zu geben, haben sich diese liberal-konservativen Scheißer bald in die Hosen gemacht vor lauter Angst, man könnte ihnen auf die Schliche kommen. Natürlich würden sie unsere Investitionen und die entstehenden neuen Arbeitsplätze begrüßen – am meisten dann, wenn sie nichts dafür bezahlen müssen. Und natürlich auch unsere saftigen Wahlkampfspenden – deren Tarnung wieder nur unser Geld kostet. Sie schätzen auch unsere Anzeigenserien und Werbebroschüren zugunsten der sauberen Kernkraft, weil sie sich das damit nicht nur selber sparen können, sondern auch den Eindruck erwecken, sie hätten damit nichts zu tun.
Aber: nach dem Tschernobyl-Unfall zittern diese staatstragenden Fettsäcke doch vor allen Umfragen, weil die eine Mehrheit der Bevölkerung gegen Kernkraftwerke – vor allem in ihrer näheren Umgebung – zeigen; das müssten Parteien, die von Wählerstimmen abhängen, berücksichtigen. Außerdem seien die anderen Parteien gegen neue Atomkraftwerke und man könnte allenfalls mit den Sozis pokern, wenn man ihnen im Gegenzug weitere Subventionen für den Kohle-Abbau zusichert. Doch dann gäbe es immer noch die Grünen, die ständig mehr Zulauf hätten, gerade weil sie so massiv gegen die Atomindustrie auftreten. Schließlich müsste man auch Rücksicht auf die Wähler vor Ort nehmen; deren Widerstand habe schon so manche Pläne begraben. So weit diese Litanei, die ich bereits kenne und nicht so schrecklich ernst nehme.
Deshalb habe ich eingewandt, dass schon oft in der Geschichte technische Neuerungen anfangs bekämpft wurden – vom Bau der Eisenbahn über die Einführung der Elektrizität bis hin zum Bau von Autos und Autobahnen –, dass man also eine Durststrecke einkalkulieren muss, bis sich das auch in den Augen der Gesellschaft auszahlt. Und dass wir in diesem Fall ja das Kostenrisiko fast allein auf uns nehmen. Natürlich haben wir die Frage der Entsorgung nicht angeschnitten, ein heikles Thema für alle Seiten. Doch die beamteten Schlotterdärme fingen immer wieder mit den Wählerstimmen an und wollten uns allen Ernstes überreden, den Antrag für das AKW zurückzuziehen und erst nach der nächsten Wahl in zwei Jahren neu zu stellen. Dabei ließen sie durchblicken, dass man Genehmigungen auch verzögern könnte … am liebsten hätte ich geantwortet: Wahlkampfspenden auch.
Inzwischen hat sich die lahme Konzernspitze doch noch dazu durchgerungen, einen schön gepolsterten Genehmigungsantrag zu stellen. Dazu hatte ihnen auch unser Börsenmakler Karl Ernst geraten und sein Argument war nicht übel: wenn das bekannt wird (und dafür werden wir schon sorgen), kann zumindest der Kurs unserer Aktien davon profitieren. Was wir also den Politikern hinten reinstecken müssen, kriegen wir durch diese Wertsteigerung wieder raus. Sowieso sind die AKW ja ein besonderes Geschäft, weil du dich um den strahlenden Müll nicht weiter kümmern musst: das besorgen die Regierungen schon selbst – aus lauter Angst vor der öffentlichen Meinung. Und die, auch das war ein Rat von Karl Ernst, kann man durch lancierte Informationen und geschmierte Journalisten immer mal ein bischen aufmischen.
Das tun unsere Gegner allerdings auch – und verteufeln damit gleich die ganze Atomindustrie. Diese irgendwo im vorigen Jahrhundert stehengebliebenen Körnchenfresser und Schweißfußzigeuner haben immer noch nicht geschnallt, dass unsere Wirtschaft nicht von Koksöfen und Dampflokomotiven abhängig sein kann und dass die drei Sonnenstrahlen pro Monat auch nicht viel bringen. Aber sie krallen sich an jedes Unkraut und jede morsche Birke im Auwald, möchten am liebsten wieder mit dem Dreirad auf Sandwegen fahren und statt Fabrikschornsteinen Windräder bauen. Wahrscheinlich sollen die Leute dann von Steckrüben mit Himbeermarmelade leben.
Gestern, bei der Ortsbesichtigung mit dem Bürgermeister, hingen auch so ein paar Typen rum und hielten ein Schild hoch, auf das sie ihre Obdachlosenlyrik gekritzelt hatten: »Wer den Auwald zerstört ins Kittchen gehört.« Die sahen nicht so aus, als ob sie einer regelmäßigen Beschäftigung nachgingen und glotzten uns irgendwie haßerfüllt an. Den Bürgermeister haben unsere ersten Zahlungen an die Stadtkasse schon benommen – trotzdem fing er nochmal mit dem Biotop Auwald und den mangelnden Erholungsflächen im Stadtbereich an, ließ sich davon aber schnell wieder abbringen, als ich ihm klar machte, wie viele Arbeitsplätze allein der AKW-Bau bringen würde und wie viele Millionen das Steueraufkommen später. Um ihn endgültig zu vernebeln sagte ich zu, unsere Beteiligung an der Anlage eines Parks in einem aufgelassenen Industriegelände zu prüfen und über einen Zuschuss zur geplanten neuen Stadthalle zu reden: unverbindliche Geschichten eben.
Natürlich ist der Bauplatz Auwald schwierig – schon wegen des Untergrunds. Wir müssen die ganze Flussschleife ausbetonieren und auch der Hochwasserschutz ist nicht ohne; wenn wir uns gut abdichten, läuft das Wasser in der Stadt umso höher auf. Doch das ist nicht unser Problem. Wir haben dafür einen Super-Standort: bloß ein paar hundert Meter zum Hafen und damit auch nicht weit zum Stadtzentrum auf der anderen Seite des Flusses, näher zum Flugplatz als zum Hauptbahnhof. Und der Boden spottbillig, weil kein Mensch glaubte, dass da was gebaut werden darf. Den Tip gab uns Karl Ernst, und der trat dann zugleich unverfänglich als Käufer auf – mit unserm Geld, klar. Von ihm stammte auch die Idee, an der Zicke vom Baureferat vorbei gleich zum Bürgermeister zu gehen und ihm die Vorteile für die Stadt ins Auge zu reiben. Er war ganz beglückt von der Einladung zum Lachsessen bei ‚Käfer‘ in der Landeshauptstadt. Wir ließen ein Buffet wie für den Schah von Persien auffahren – im Séparée und mit zwei flotten Hostessen, die sich gleich an ihn ranschmissen. Eine davon legte er in seinem Appartement im Bayerischen Hof aufs Kreuz; wir haben davon vorsichtshalber ein paar Fotos gemacht. Aufkommende Bedenken lassen sich damit schön – und meistens auch sehr wirksam – abbügeln.
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