Kitabı oku: «Mein Walk of Fame», sayfa 2

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Dass die Mathieu dem Interviewer gleich ein Privatständchen bringen würde, ahnte er da noch nicht. Foto: Marion Wahl

Jean Marais
kämpfte sich als Degenheld, Fantomas und
Graf von Monte Christo in die Filmgeschichte
Im August 1987 machte in Paris ein Gerücht die Runde, das unglaublich klang, obwohl die Franzosen von ihrem Jean Marais schon einige aktionsreiche Überraschungen gewohnt waren. Auch ich war mir nicht sicher, ob es nicht ein PR-Gag für seinen neuesten Mantel- und Degenfilm war. Aber eigentlich brauchte er weder Reklame noch Werbekampagnen, hatte er sich doch durch seinen genialen „Graf von Monte Christo“, den Kino-Mehrteiler „Fantomas“, das Fantasiemärchen „Die Schöne und das Biest“ und unzählige Leinwand-Abenteuer als Ritter ohne Furcht und Tadel längst in die allererste Reihe der französischen Zelluloid-Stars gespielt.
Glaubte man der unglaublichen Geschichte, die sich später als wahr erwies, so hatten Nachtschwärmer in der Rue Norvins auf dem Montmartre-Hügel nach Mitternacht Seltsames beobachtet: Eine Gestalt, die an der Fassade des Hauses 22 eine gefährliche Kletterpartie ins obere Stockwerk wagte, in schwindelnder Höhe einen Fensterladen aufbrach und im Inneren der Villa verschwand. Klarer Fall: ein Einbrecher! Die Passanten alarmierten flugs die Polizei. Die drang ins Haus ein, stellte den tollkühnen Fassadenkletterer und staunte nicht schlecht, als sie Monsieur Marais erkannte. Er entschuldigte sich für die Ruhestörung und erklärte den verblüfften Beamten, dass er leider seinen Haustürschlüssel in der Wohnung vergessen habe – und da die unteren Fenster vergittert seien, habe er sich eben nach oben begeben müssen. Immer an der Wand entlang bis zu einer Einstiegsmöglichkeit im oberen Stock. Die Flics schüttelten fassungslos den Kopf, ließen sich von dem vergesslichen Filmstar Autogramme geben und wünschten eine gute Nacht. Die inzwischen angesammelte Gruppe der Neugierigen applaudierte begeistert.
Damals war der bereits zum Mythos gewordene Schauspieler 73 Jahre und schreckte offensichtlich nicht davor zurück, seine spektakulären artistischen Filmkunststücke auch im wahren Leben zu vollführen, wenn es unerlässlich ist und die Situation erfordert – getreu seinem Prinzip: Was ich an gewagten Dingen anpacke, erledige ich ohne Double und Trick höchstselbst. Dass er als verwegener Filmabenteurer seine Stunts in Eigenregie meisterte, erhöhte seine darstellerische Glaubwürdigkeit beim Publikum, das ihm dafür doppelte Anerkennung zollte. Seinen eindeutigen Standpunkt dazu hatte er schon in einem früheren Dokumentarfilm so formuliert: „Wenn man ein Drehbuch liest, in dem gefährliche Szenen vorkommen und glaubt, diese Szenen nicht bewältigen zu können, dann muss man diese Rolle ablehnen oder sie eben selbst spielen. Ich finde, das gehört zum Beruf.“ So war es für ihn selbstverständlich, sogar in einer Doppelrolle wie die des geheimnisvollen Maskenmannes Fantomas für zwei zu fechten.
Deshalb traute ich dem durchtrainierten Sportsmann sein nächtliches Kletterkunststück an der Hauswand seiner Villa durchaus zu. Zudem wurde es durch eine seriöse Quelle bestätigt. Frankreichs Nachrichtenagentur AFP berichtete darüber in genüsslicher Ausführlichkeit und erhob damit das Gerücht in den Rang einer Tatsache.
Das signalisierte mir, dass er sich wieder mal in Paris aufhielt. Das war nicht selbstverständlich, drehte er doch auch noch im hohen Alter Filme im In- und Ausland, war begehrter Gast auf Filmfestspielen in aller Welt und weilte oft auf seinem Anwesen in Vallauris an der Côte d’Azur, wo er in gleich drei Ateliers mit Töpferei, Malerei und Bildhauerei den wichtigsten seiner künstlerischen Hobbys frönte.
In vielen Sätteln zu Hause
Dass der Unruhegeist selten in seinem Domizil an der Seine zu Hause war, hatte ich schon eine geraume Zeit beobachtet. Denn jedesmal, wenn ich mit Marion 130 Meter über Paris auf der „Butte de Montmartre“ die Basilika Sacré-Cœur und die Maler auf der Place du Tertre besucht habe, gingen wir noch einige Schritte weiter zur imposanten Stadtvilla des Kinostars, die sich wie das massive Festungsgemäuer einer altehrwürdigen Burg stolz über die Dächer der pittoresken Altstadt erhebt. Stets waren die Jalousien heruntergelassen und das Palais machte einen verwaisten, unbewohnten Eindruck. Nie habe ich abends den Lichtschimmer einer Außenlampe wahrgenommen. Zudem hielt ein fest verschlossenes, schweres schmiedeeisernes Tor ohne Glocke und Klingel ungebetene Gäste auf Distanz. Da wusste ich jedesmal, dass ich meinen sehnlichen Wunsch nach einem Interview mit dem prominenten Filmfranzosen wieder vertagen musste.
Nun aber war er endlich mal wieder in greifbarer Nähe und ich wollte ihn nicht wieder entkommen lassen. Aber es gelang ihm auch diesmal. Erst zweieinhalb Jahre später, Anfang 1990, eröffnete sich eine reale Chance, als er über einen längeren Zeitraum in Paris war. Da gab er zu Ehren des verstorbenen französischen Poesie-Gottes Jean Cocteau im Renaud-Barrault-Theater nahe den Champs-Elysées eine Reihe literarischer Abendvorstellungen.
Sollte es mir bei Beibehaltung meiner Hartnäckigkeit nun endlich im fünften Jahr meiner journalistischen Frankreich-Zeit gelingen, ihn vor Mikrofon und Kamera zu bekommen? Von diesem Gedanken war Marion noch begeisterter als ich. Nachdem sie als blutjunges Mädchen den französischen Tausendsassa als Grafen von Monte Christo in ihrem Erfurter Kino gesehen hatte, war sie hin und weg. Aus dem DEFA-Programmheft zum Film hatte sie sein Konterfei ausgeschnitten, eingerahmt und auf ihren Jungmädchen-Nachttisch gestellt. Da stand er nun und sah mit Zylinder, Spazierstock und vornehm gräflichem Cape so strahlend schön aus, dass ihn seine Verehrerin samt Nachttisch gleich noch einmal ablichtete.
Das hatte er auch verdient, der unverwüstliche Kinomann mit der üppigen Haarwelle, dem markanten Kinn, den kühn geschwungenen Augenbrauen über einer ausdrucksstarken blauen Pupille im scharfkantigen Männergesicht. Wenn auch platonischer Natur, so war er doch ihre erste große Liebe, der edelgesichtige, streitbare Haudegen, der für Recht und Gerechtigkeit durch die Lande galoppiert, alle Duelle gewinnt und die Damenherzen im Sturm erobert. Auch das von Marion. Deshalb musste Herwig, ihr erster Freund in der Erweiterten Oberschule, auch ein Degenfechter sein, der es sogar bis zum DDR-Meister brachte – ob angespornt von seinem berühmten Rivalen, bleibe dahingestellt.
Der elegante Abenteurer wurde ihr Dauerschwarm. Sie wollte keines seiner Degen-Kunststücke verpassen – am liebsten solche in Filmen mit royal verklärter Romantik. „Der Geliebte der Königin“, „Ritter der Nacht“, „Mein Schwert für den König“, „Der Graf mit der eisernen Faust“, „Im Zeichen der Lilie“, „Des Königs bester Mann“ oder „Die eiserne Maske“ – Marion kannte sie alle, konnte nicht genug davon bekommen. Dass der athletische Draufgänger schon damals und lange vor einem Belmondo die meisten gefährlichen Actionszenen in seinen nahezu siebzig Filmabenteuern ohne den doppelten Boden personeller oder technischer Trickserei selbst durchstand, erhob die Heldenverehrung ins Reich der Vergötterung.
Komplettiert wurde die breite Palette seiner Schauspielkunst zusätzlich zu seinen Kostümstreifen durch Paraderollen in opulent ausgestatteten Historien- und Liebesfilmen wie „Napoleon“, „Versailles – Könige und Frauen“, „Austerlitz – Glanz einer Kaiserkrone“, „Geliebte um Mitternacht“, „Die Ritter der Tafelrunde“ oder „Weiße Margeriten“. Noch mit 60 Jahren meisterte Monsieur Marais im deutsch-französischen Fernseh-Dreiteiler „Cagliostro“ eine halsbrecherische Situation, indem er mit Muskelkraft und akrobatischem Geschick eine hohe Schlossmauer erklomm.Auch das überraschte mich nicht, weil der Grandseigneur der französischen Kinematografie sowohl im Film als auch in der Realität immer mal wieder gewagte Sprünge machte. So kletterte er als durchtriebener Schurke und mysteriöser Maskenmann mit dem Geisternamen „Fantomas“ in schwindelnder Höhe von einem Kranarm auf eine am Hubschrauber hängende Strickleiter und flog dem tollpatschigen Kommissar Paul Juve alias Louis de Funès mit wehenden Rockschößen davon. Da konnte Marais voll ausspielen, was er sowohl an Stunt-Festigkeit als auch an komödiantischem Talent draufhatte. Weil’s allen gefiel, gab es gleich zwei Fortsetzungen der Kriminalkomödie – nicht zuletzt wegen der sportlichen Einlagen seines Hauptdarstellers, der bei den Dreharbeiten auch schon über 50 war. Das erstaunt nicht, wenn man weiß, dass er selbst noch mit 76 beim Musketier-Festival in der Gascogne eine flotte Klinge schlug.
Seine darstellerische Vielfalt scheint auch in den verschiedenen Genres der Leinwandkunst unerschöpflich. Sie reicht von der Verkörperung des Bösen in der Person des römischen Präfekten Pontius Pilatus in dem Sandalen-Spektakel „Statthalter des Grauens“ über die Figur des heiratswütigen Königs in dem Erwachsenen-Märchen „Eselshaut“ bis zu dramatisch-seriösen Rollen in so anspruchsvollen Streifen wie Bertoluccis „Gefühl und Verführung“ oder Viscontis Dostojewski-Adaption „Weiße Nächte“ gemeinsam mit Marcello Mastroianni.
Dass er nicht nur auf dem Rücken der Pferde zu Hause war, sondern in vielen Sätteln, bewies er als künstlerisches Multitalent. Er hatte sich neben Bühne und Kino einen Namen gemacht als Regisseur, Choreograf, Bühnen- und Kostümbildner, Buchillustrator, Grafiker, Maler, Zeichner, Architekt, Töpfer, Designer, Lithograf, Schriftsteller und Bildhauer. Als solcher hatte er sogar einer romantischen Ecke von Montmartre seinen Stempel aufgedrückt. Da preist ein ungewöhnliches Kunstwerk seinen Meister: Aus einer mit hellen Quadern geschichteten Wand ragen ein männlicher Oberkörper mit Kopf, ein voranschreitendes rechtes Bein und eine linke Hand. Eine geteilte Bronzefigur auf dem Platz des Literaten Marcel Aymé, dessen Novelle „Ein Mann geht durch die Wand“ die Gestaltungsidee lieferte. Geschaffen wurde die Skulptur – wie eine kleine Tafel ausweist – von Jean Marais, der seinem Kunstwerk zudem die Gesichtszüge des Schriftstellers gegeben hat.
Nur logisch, dass der Skulpteur Marais nun nach 57 Jahren rastloser Kino- und Bühnenpräsenz in das historische Filmgewand des von ihm verehrten französischen Bildhauer-Riesen Auguste Rodin schlüpfen will. Das – so wird er mir bei unserem Treffen sagen – sei seit jeher einer seiner sehnlichsten Wünsche.
Beeindruckt hatte er mich auch durch seine humanistische Gesinnung. Es war bei einem Massenmeeting gegen die Apartheidpolitik des Botha-Regimes in Südafrika. In einer Zelthalle auf dem Marsfeld am Fuße des Eiffelturms wurde ein Ende der Rassentrennung und die sofortige Freilassung von Nelson Mandela gefordert. Auch Politiker und Künstler waren aufgerufen, im wahrsten Sinne des Wortes Farbe zu bekennen. Jean Marais war durch Dreharbeiten verhindert, ließ es sich aber nicht nehmen, sein Plädoyer für die Gleichberechtigung zwischen Schwarz und Weiß per Video zu halten. Ohne Starallüren und ohne Honorar.
Da war mir endgültig klar, dass der Filmgraf von Monte Christo kein abenteuerlicher Schönling und Schwerenöter ohne Gehirn war, sondern ein lebenskluger Zeitgenosse, auf dessen nicht filmische reale Person, Denkweise und Charakterstruktur ich nun noch neugieriger wurde. Ich wollte ihn mir selbst, seiner Verehrerin Marion und unserem Fernsehpublikum liebend gern nahebringen.
Geschocktes Frankreich: Cocteau als Intimfreund
Um ihm nicht nur im Leinwandformat, sondern im Original zu begegnen, gab es nun also endlich eine Gelegenheit. Mitten in Paris, im Renaud-Barrault-Theater nahe den Champs-Elysées, würdigte Jean Marais den 100. Geburtstag seines einstigen Freundes, Förderers, Arbeits- und Lebenspartners Jean Cocteau. Der 1963 verstorbene literarische Kreativ-Geist und universelle Künstler mit poetischem Glanz und ästhetischer Federführung genoss vor allem als genialer Schriftsteller, Romancier, Dichter, Dramatiker, Filmemacher, Schauspieler, Theatermann, Regisseur, Bildhauer, Zeichner und Maler Wertschätzung weit über die Landesgrenzen hinaus. Er war „Kommandeur der französischen Ehrenlegion“, Ehrendoktor der University of Oxford und gehörte zu den sogenannten Unsterblichen, wie die auf Lebenszeit berufenen Mitglieder der Pariser Académie française heißen, eine Gemeinschaft streng auserwählter Intellektueller, die eine der ältesten und prestigeträchtigsten Institutionen im geistigen Leben Frankreichs repräsentieren.
Jeder Franzose wusste, dass Marais mit Cocteau eng zusammengearbeitet hatte und unter seiner Regie Filme von Weltgeltung entstanden waren – allen voran die Fantasie-Fabel „La Belle et la Bête“, bekannt als „Es war einmal“ oder „Die Schöne und das Biest“, ein klassisches Meisterwerk des poetischen Kintopps, eine märchenhafte Parabel über die Kraft der Liebe, ein Vorläufer des Fantasyfilms, in dem Jean Marais die Doppelrolle des Prinzen und der Bestie verkörpert. Es war beileibe kein Geheimnis, dass der hochbegabte Cocteau den bislang namenlosen Mimen in enger Vertrautheit in seine vom Genius der schönen Künste beflügelte Geisteswelt eingeführt hatte. Trotzdem ging ein Schrei der Überraschung durchs Land, als Marais 1975 in seiner Autobiografie „Geschichte meines Lebens“ in einer freimütigen Lebensbeichte bekannte, dass er als Intimfreund des Poesie-Genies 25 Jahre lang nicht nur das Interesse für Film und Theater mit ihm geteilt hat, sondern auch Tisch und Bett.
Jean Marais bezeichnete als wichtigsten Tag in seinem Leben jenen im Juli 1937, an dem die produktive Zweisamkeit mit dem doppelt so alten Jean Cocteau begann. Der hatte den 24-jährigen attraktiven Adonis als Anfänger auf der Bühne gesehen und fand ihn auf Anhieb äußerst beeindruckend, hingerissen von seinem betörend ebenmäßigen Gesicht, seinem kraftvollen Körper und seiner ästhetischen männlichen Gesamterscheinung. Er ließ dem Jüngling ausrichten, er möge ihn schnellstens in seinem Hotel de Castillo auf der Place de la Madeleine aufsuchen. Dort eröffnete er dem 24 Jahre jüngeren Marais: „Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich habe mich in Sie verliebt.“ Dieses Geständnis sei seine „zweite Geburt“ geworden, wird Jean Marais mir im Interview sagen. Wörtlich: „Ich bin 1913 geboren, aber ich denke, dass ich eigentlich 1937 geboren wurde, als ich Cocteau begegnet bin.“
Damit wurde „Jeannot“, wie der Meister ihn liebevoll nannte, sein Zögling, dem er maßgeschneiderte Paraderollen auf den Leib schrieb. Cocteau, der auch Maler und Bildhauer war, modellierte einen Künstler nach seinem Bilde. Für den recht unbedarften Jüngling war es ein Quantensprung seiner Entwicklung, der ihn in den Folgejahren nicht nur in den Olymp der beliebtesten französischen Film- und Bühnenschauspieler katapultierte, sondern auch international zu Ruhm, Geld und Ehren verhalf. Allein in Deutschland erhielt er viermal den Medienpreis „Bambi“ als beliebtester ausländischer Filmstar.
Traumatische Kindheit
Nun bewunderte ich den Mut und die Kraft des alten Herrn auf schmuckloser Bühne, die nur seine alleinige Anwesenheit füllte. Ich sehe noch heute im Rückspiegel der Zeit, wie er mit seinen damals 76 Jahren das Publikum zweieinhalb Stunden in seinen Bann zog – mit gedankentiefen Rezitationen der besten Cocteau-Texte. Ein von ihm selbst ausgesuchtes Repertoire bekannter und auch unveröffentlichter Werke, in deren Aussagen er sich und seinen nicht mehr gegenwärtigen Partner im seelischen Gleichklang wiederfand. Eine Textmontage, mit der er eine Art harmonische Personenverschmelzung herstellte – nicht nur deklamierend, sondern bravourös schauspielernd, tanzend, gestikulierend, erzählend, im Dialog mit dem Publikum und dem Verstorbenen. Mein Eindruck war: Er spielte Cocteau nicht, er war es. Mit Leichtigkeit und Schwermut, mit Freude und Traurigkeit, in Prosa und Poesie. Ein – wie er es nannte – „Mono-Drama“, in dessen weitem Universum alles um die Sonne Cocteau kreist. Seit 1983, da er diese Laudatio erstmals aufführte, ist er dafür mit Preisen überhäuft worden.
Was ihm Cocteau wirklich bedeutete, nämlich alles, begriff ich in seiner Totalität erst nach und nach und immer deutlicher, je mehr ich mich mit dieser Männerfreundschaft und Künstlerehe befasste. Frankreichs Dichterfürst hatte dem Jungen aus der nordfranzösischen Normandie-Hafenstadt Cherbourg gegeben, was er von Kindesbeinen an vermisste: Liebe, Fürsorge und Bildung, die eine frühe Trennung seiner Eltern und schulische Misserfolge verhindert hatten. Der kleine Jean, Sohn eines Tierarztes, litt unter einer traumatischen Kindheit, geprägt von herben Rückschlägen, die ihm mit mehrfachem Schulausschluss und der Ächtung durch seinen Vater arg zusetzten. Er war erst fünf, als seine Eltern sich trennten. Die Mutter hatte die fatale Veranlagung zu einer Kleptomanin, deren wiederholtes zwanghaftes Stehlen sie des Öfteren hinter Gitter brachte.
Aufgezogen wurde er deshalb gemeinsam mit seinem Bruder Henri auch von Tante und Oma. Die Mutter war äußerst streng und hatte ihn anfangs abgelehnt. Trotzdem verehrte er sie. Obwohl sie eine begeisterte Kinogängerin war, fand sein sehnlichster Berufswunsch, ins Schauspielgewerbe einzusteigen, familiär keine Gegenliebe. Die nächste Enttäuschung kam, als nach Fotografenlehre und anschließender Arbeit als Foto-Retuscheur ein heißersehntes Studium an der Akademie der Schönen Künste durch eine verpfuschte Aufnahmeprüfung scheiterte. Er jobbte als Golfgehilfe, Kunstmaler und Statist.
Erst als es gelang, an der Pariser Theaterschule des einflussreichen Schauspielers und Regisseurs Charles Dullin Fuß zu fassen, bekam er erste Bühnenchancen. Der Wechsel zum Film kam, als Drehbuchautor und Filmproduzent Marcel L’Herbier ihm kleinere Rollen verschaffte, die aber durch ihre Bedeutungslosigkeit von einem größeren Publikum unbemerkt blieben – bis sich Frankreichs angebeteter Erfolgsautor Cocteau seiner annahm. Der Meister prägte ihn, feilte am Talent des Kinoneulings und gab ihm einen sensiblen Nerv für Theater und Film, für die beide Koryphäen ihres Metiers Bleibendes schufen.
1990 konnte ich dabei sein, wie im Pariser „Théatre des Champs Élysées“ Amerikas Kino-Spartacus Kirk Douglas als Präsident eines nächtlichen Live-Spektakels zum 15. Mal den „César“ verlieh – ein Filmpreis, der für Frankreichs Nation dem Hollywood-„Oscar“ gleicht. Nachdem Philippe Noiret seine Kür zum „besten Schauspieler“ mit cleverem Humor quittiert hatte, wurde der Clou der Festveranstaltung präsentiert: ein Zusammenschnitt der 40 weltbesten Filme aus 65 Jahren Kinogeschichte seit Eisensteins „Panzerkreuzer Potjomkin“. Mit dabei: „Die Schöne und das Biest“, Hauptrolle Jean Marais, Buch und Regie Jean Cocteau. Die verwunschene Prinzen-Bestie mit ihrer Kraft der Liebe zu einem jungen Mädchen beamte ihren Darsteller schon 1946 in die Spitzengruppe der französischen Leinwand-Elite. Neben dem mit 36 Jahren an Krebs verstorbenen Husaren-„Fanfan“ Gérard Philipe avancierte er zur Kultfigur des tollkühnen Draufgängers und unwiderstehlichen Frauenhelden, der mit der Liebe zu seinem Mentor die Doppelrolle seines Lebens fand.
Cocteau hat es seinem Schüler nie übel genommen, wenn er mit Ritter- und Kostümfilmen nicht auf der intellektuellen Höhe des Meisterpoeten blieb, sondern sich auch in weniger anspruchsvolle, aber sehr erfolgreiche Niederungen begab, für die ein breites Publikum ihn liebte. Dabei ließ er sich nicht in Schubladen stecken, sondern spielte den „Ritter der Nacht“, den Geheimagenten Stanislas oder den „frechen Kavalier“ Fracasse ebenso überzeugend wie den Orpheus im gleichnamigen Spielfilm, den Ruy Blas in „Der Geliebte einer Königin“ nach Victor Hugos historischem Roman oder den Malcolm in Shakespeares „Macbeth“.
Wie ein Markenzeichen wurde es zu einem festen Begriff, das Gespann Cocteau-Marais, ein Garant für Erfolg auf niveauvoll hohem Level. Cocteau-Marais – das klang wie ein Doppelname, der kurz und bündig das Wesentliche ausdrückte. Deshalb wurde er auch zum beziehungsreichen Titel einer Hommage des Schülers an seinen Lehrer. Er wurde geehrt mit dem Bühnenstück „Cocteau-Marais“, bei dem der Schauspieler dieser Liaison mit dem Wort- und Lebenskünstler auch noch 27 Jahre nach dessen Tod gedenkt. Als ich ihn auf der Bühne agieren sah und hörte, war ich ergriffen. Ein großes Wort, aber was ich da erlebte, war Ausdruck einer zutiefst verinnerlichten Beziehung zu einem nicht mehr existenten Menschen, die zu Herzen ging.
Da stand Abend für Abend ein nicht müde werdender Marais auf der Bühne, am Sonnabend sogar zweimal. Für ein Interview mit ihm also eine einmalige Gelegenheit, wozu aber zunächst die Frage zu beantworten wäre: Wie kann man ihm mit Mikrofon und Kamera nahekommen? Vor der Vorstellung, während er sich auf seinen Marathon-Auftritt konzentriert, wäre das sicher eine Belästigung. Und danach, wenn sich der 76-Jährige nach fast drei Stunden harter Gedanken-Folter erholen möchte, wäre dies erst recht eine Zumutung. Also wie herangehen, was wann wie tun?
Endlich ER!
Jahrelang hatte ich seine Reiserouten verfolgt, wusste immer, wo in aller Welt er gerade war – und wenn er zufällig mal wieder in Paris auftauchte, war er ebenso schnell auch wieder weg. Als sich andeutete, dass er hier länger bühnensesshaft werden würde, hatte ich schon Monate vorher per Telefon versucht, Kontaktbrücken zu ihm aufzubauen. Zuerst über seine Managerin Madame Marsil, dann über die Pressechefin seiner Pariser Spielstätte, Madame Meynial, und nun über seine persönliche Assistentin Madame Brada.
Monat für Monat, Woche für Woche, Tag für Tag verstrich, in denen ich zwischen Paris, Brüssel, Genf, Luxemburg und Straßburg meiner Tagesarbeit nachging, aber immer auch nachfragte, ob denn endlich ein Termin mit unserem Mann möglich sei. Und nun war die Gelegenheit da: Er huldigte jeden Abend nur wenige Kilometer entfernt von unserem Büro mit eiserner Kondition und Disziplin seinem Liebsten. Und das in einem schlichten Einmannstück ohne Bühnendekoration – und trotzdem ständig vor ausverkauftem Haus. Ich ließ mich anstecken von seinem Durchhalte- und Stehvermögen, ließ mich weiterhin unverschämt viele Male von seinem Management vertrösten, variierte festgefahrene Dialoge, war unermüdlicher Bittsteller und permanenter Quälgeist, überstand mit dem Hörer am Ohr manche Wortscharmützel und siegte schließlich, weil meine Adressaten am anderen Ende der Telefonleitung vermutlich endlich ihre Ruhe haben wollten.
Ich habe den täglichen Gewohnheitsanruf von Freitag, dem 16. Februar 1990, protokolliert, weil er ein besonderer war. Im Ohr ist mir heute noch die längst vertraute nüchtern-sachliche Beamtenstimme von Marais-Assistentin Brada: „Morgen ist der vorletzte Tag für Monsieur Marais am ‚Renaud-Barrault‘. Rufen Sie bitte Frau Presse-Attaché René Fernandése an. Sie hat mir einen Termin in letzter Minute versprochen. Viel Glück!“
Nachdem ich mit überschwänglichem Dank unter dem Siegel der Verschwiegenheit die Top-Secret-Telefonadresse der Pressegewaltigen erhalten hatte, wählte ich – ohne den Hörer aus der Hand zu legen – ihre Nummer. Die geheimnisvolle Auskunft: „Heute nach 19 Uhr rufe ich Sie an.“ Auch das notierte ich mir akribisch in meinem Terminkalender. Tatsächlich meldete sie sich 19.40 Uhr mit feierlich-wichtiger Stimme und der Nachricht des Jahres: „Monsieur Marais ist einverstanden und würde Sie morgen am vorletzten Tag seines Gastspiels vor seiner Aufführung empfangen. Da seine Vorstellung 20.30 Uhr beginnt, bittet er Sie, ihn anderthalb Stunden vorher im Theater aufzusuchen.“ Damit war nach einer langen Gratwanderung der Weg frei zu einem Film- und Theatermimen von Weltformat.
Anderntags sind wir Punkt 19 Uhr zur Stelle und werden zur Theaterklause geleitet. Dort erwartet er uns bei einem Glas Tonic. Blaues Jackett, schwarzer Schlips, blütenweißer Kragen. Ich stelle unsere Dreier-Fernsehcrew mit Aufnahmeleiterin und Fotografin Marion, unserem Kameramann Wolfgang Groth und mir als Journalisten vor. Er nimmt einen letzten Schluck Tonic, drückt seine allgegenwärtige Zigarette in den Aschenbecher und führt uns in seine Theatergarderobe. Es ist ein sonniger 17. Februar 1990, für mich ein Erntedankfest, an dem nun endlich die Frucht mühevollen Ackerns gereift ist und eingefahren werden kann.


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