Kitabı oku: «Stehsatz»

Yazı tipi:

Dietmar Dath

Stehsatz

Eine Schreiblehre

Wallstein Verlag

Für Philipp Theisohn

Inhalt

I. Vorsatz

II. Ansatz

III. Einsatz

IV. Gegensatz

Anmerkungen

Impressum

I. Vorsatz

I suggest you pick your enemy.

Captain Kathryn Janeway

Zwei Abende, vier Teile, eine Schreiblehre.

Am ersten Abend gibt’s die beiden Viertel »Vorsatz« und »Ansatz«, am zweiten den Rest, »Einsatz« und »Gegensatz«. Die Teile sind weder gleich lang noch gleich eingängig. Wieso heißt ihr Ganzes »Schreiblehre« und nicht »Poetik« oder »Poetologie«?

Wenn Leute darüber reden oder schreiben, wie Literatur gemacht wird und wozu, nennen das manche Poetik. Und wenn Leute, die Literatur schreiben, öffentlich erklären, was sie treiben, nennen das manche Poetologie. In beiden Fällen baut man Brücken zwischen Wolken.

Die Brücken sind dabei fast immer weniger stabil als die Wolken.

Was qualifiziert mich dazu, Ihnen zu erzählen, welche Wolken und Brücken ich baue?

Mein Schreiben nicht, würden einige sagen, die berufshalber darüber urteilen. Ein paar Belege: Am 20. 11. 2007 findet Ijoma Mangold in der Süddeutschen Zeitung, mein damals neuestes Buch »Waffenwetter« sei »getragen von einer geradezu pubertären Gewolltheit und Angestrengtheit«, ein »Roman voller schlechter Kalauer und verklemmtem Bildungsgeprotze, Theorie-Angebertum und schwer aufgesetzter Rebellionsromantik«. Etwa ein Jahr später, am 13. 12. 2008, urteilt Thomas Anz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über meinen Roman »Die Abschaffung der Arten«, »nicht zuletzt wegen der vielen Wiederholungen gleicher Ideen« werde »über weite Strecken die Lektüre sogar zur Qual, wenn nicht zum Ärgernis«. Schärfer schreibt Burkhard Müller über das von Anz besprochene Buch in der Süddeutschen Zeitung am 18. 9. 2008: »Selten hat der Rezensent so intensiv den Wunsch verspürt, ein Buch zuzuklappen und ins Eck zu pfeffern. Eisernes Pflicht- und Gerechtigkeitsgefühl hinderte ihn daran, denn man soll ein Buch ja ausreden lassen. Versäumt hätte er wenig, denn auch die letzten 470 Seiten enthielten nichts an Pein und Qual, was die ersten 80 nicht auch geboten haben; und dabei leer blieben, einfach leer.«

Wieder ein Jahr später, am 8. 10. 2009, attestiert in der ZEIT Thomas E. Schmidt meinem Buch »Sämmtliche Gedichte« (ja, mit zwei »m«) schlicht »Misslungenheit« und spricht von »poetischem Trash«, in dem sich »der pseudophilosophische Scheiß der letzten Jahre« breitmache. Am 13. 4. 2010 erklärt Aram Lintzel in der Tageszeitung, mein Zeug sei »ziemlich nervig«, manchmal auch »richtig unangenehm«.

Das dauert durch die Jahre fort: Thomas Steinfeld schüttelt in der Süddeutschen Zeitung noch am 8. 4. 2016 über meinen Roman »Leider bin ich tot« den Kopf; es mangele dem Buch »ebenso sehr an einer Ökonomie des Erzählens, wie es eine gelegentlich die Albernheit zumindest streifende Generalmobilmachung literarischer Mittel darstellt«. Nicht besser geht es bei Marten Hahn meinem Roman »Der Schnitt durch die Sonne« am 13. 9. 2017 im Deutschlandfunk: Das Buch tauge »weder als politisches Pamphlet noch als Science-Fiction-Roman. Der bekennende Kommunist Dath will zuviel.«

In diesem Ton könnte ich lange weiterzitieren, Äußerungen zu erzählenden Texten wie zu essayistischen – aus diesem zweiten Bezirk sei nur die Einschätzung Alexander Cammanns wiedergegeben, der in der ZEIT vom 16. 2. 2012 über die von mir zusammen mit Barbara Kirchner verfasste Abhandlung »Der Implex« seufzt: »Pittoreske Riesenklammern und mäandernde Satzkonstruktionen, die zusammennageln, was besser getrennt wäre, dazu immer wieder kalaschnikowhafte Selbstermächtigungsprosa, die in zeitungsgemäßer Kurzform ganz lustig, hier pennälerhaft wirkt, machen die Lektüre selbst für Theorietrainierte zur Tortur.«

Das Wort »Tortur« spricht von einem Erlebnis, das Thomas Anz »Qual« nennt, Burkhard Müller gar »Pein und Qual«.

Warum zitiere ich das? Will ich mich beklagen? Prahlen (»Viel Feind, viel Ehr’«)? Spekuliere ich darauf, dass man mir als Geschmähtem einen Kredit einräumt, der Angegriffenen gegönnt wird, wo sie noch keine Gelegenheit gehabt haben, sich zu rechtfertigen?

Will ich bescheiden wirken (humblebragging)?

Nichts davon.

Es geht nur vordergründig um mich; ich figuriere als Abkommpunkt. Man muss auf irgendetwas zielen, bevor man treffen kann. Die gemeinte Sache ist allgemeiner als meine.

Ich bin, erstens, nicht der einzige Mensch, der diese Art Kritik erlebt. Zweitens ist das gedruckte, im Radio gesendete oder online publizierte Feuilleton nicht die einzige Quelle derartiger Äußerungen. Man bekommt solche Sachen, wenn man schreibt wie ich, auch von Leserinnen und Lesern zu hören und zu lesen, die für Kritik kein Geld kriegen.

Als ich die ersten Einwände der vorgeführten Art zur Kenntnis nehmen musste, brachten sie mich von meiner Schreibart nicht ab. Ich schreibe seitdem folglich vorsätzlich so, wie ich schreibe. Das Missverständnis liegt nahe, dass ich dabei also auch bewusst den Zweck verfolge, angegriffen zu werden.

Es gefällt mir aber gar nicht, das Zitierte über mich zu lesen oder zu hören. Ich kann es nur nicht verhindern, wenn ich so schreibe, wie ich schreibe. Die Schreiblehre wird Ihnen darlegen, was der tatsächlich angestrebte Zweck meiner Arbeit ist.

Ich kann und mag nicht für andere Autorinnen und Autoren sprechen oder schreiben, will Ihnen aber am Werk und Leben anderer Autorinnen und Autoren zeigen, dass es mehr als einen Menschen gibt, der so schreibt, dass die zitierte Sorte Gegnerschaft sich regt.

Indem ich erkläre, warum ich so schreibe, wie ich schreibe, möchte ich Ihnen dann glaubhaft darlegen, dass es nicht nur, was Sie ohnehin wissen, verschiedene Auffassungen davon gibt, wie Literatur gemacht wird und was sie soll, sondern dass diese Verschiedenheit einen Streit auslösen kann, bei dem man sich zu einer der streitenden Parteien schlagen darf. Ich finde, dass man das sogar muss.

Ich sage nicht, dass man mich nie lobt. Der Kritiker Lars Weisbrod schrieb zum Beispiel am 2. 7. 2015 in der ZEIT, ich sei »der einzige relevante Science-Fiction-Schriftsteller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«. Je nachdem, was man unter »Science Fiction« oder »deutschsprachige Gegenwartsliteratur« verstehen will, könnte man glauben, damit sei gesagt, großartige Leute wie Michael Marrak, Emma Braslavsky, Sharon Otoo, Herbert W. Franke, Anja Kümmel, Christian Kracht und drei Dutzend weitere Autorinnen und Autoren seien »nicht relevant«.

Das ist falsch; ich hoffe aber, dass Weisbrod etwas anderes sagen wollte, nämlich, dass ich das, was im Feuilleton als »deutschsprachige Gegenwartsliteratur« stattfindet, und das, was im Feuilleton als »Science Fiction« eher nicht stattfindet, auf eine Art ineinanderschiebe, die Weisbrod spektakulär interessanter findet als andere mögliche Konfigurationen dieser Textsorten. Es gibt kaum konsensfähige Wörter für diese Art Interesse am Konventionsbruch im Feuilleton, das dazu da ist, die Konvention zu bestätigen, also hilft man sich mit Emphase; ich kenne das Problem nicht nur als Autor, sondern auch als Kritiker. Es gehört zu einem weitläufigen Muster, in dem gerade das großflächig zum Verschwinden gebracht wird, was mich an Literatur am meisten begeistert.

Man kann dieses Muster »Literaturleben heute« nennen.

Der Sinn meiner hier ausgebreiteten Schreiblehre ist es, das Muster durch eine zwar persönliche, aber nicht private Linse zu betrachten.

Ich möchte zunächst im Lichte des Zitierten Ihr Interesse für den Tatbestand wecken, dass es, wo man mich scharf tadelt, oft recht ähnlich klingt: affektgeladen, von Wut gefärbt, die beispielsweise ein Buch »ins Eck pfeffern« will, manchmal unter Absonderung von Kraftausdrücken wie »Scheiß«, die sonst eher nicht in der ZEIT stehen.

Mein Schreiben, darin sind sich die vorgestellten ablehnenden Stimmen einig, wolle zu viel; es sei sprachlich, sachlich und gedanklich überladen, Angeberei, nicht nachvollziehbar auf windige, auch: widerliche Weise.

Am Allerklarsten hat das der Phantastik-Experte Simon Spiegel im Rahmen einer Forendiskussion über das Buch »Niegeschichte«, meine 2019 erschienene Poetik und Poetologie der Science Fiction, online gesagt, am 6. 1. 2020: Man solle mir für gewisse Formulierungen in diesem Buch »den Mund mit Seife auswaschen«, denn sie seien »unverständlicher Schwulst«.

Missmut, Flüche, Erziehungsphantasien mit Seife?

Ob ich ein guter Autor bin, kann ich Ihnen nicht sagen. Es gibt eine Blindheit in eigenen Angelegenheiten, die Menschen vor lähmenden Selbstzweifeln schützt und nicht ohne Not angetastet sein soll. Was ich aber weiß, weil ich es belegen kann, ist, dass ich zwar kein guter Mensch, aber ein gutes Beispiel bin, allerdings für Schlimmes.

Das ist keine kalkulierte Selbsterniedrigung.

Sie werden erfahren, was ein »guter Mensch« für mich ist, samt Begründung, warum ich keiner bin und keiner sein will. Wie zu jeder Moral müssen wir uns zum dafür nötigen Überblick aber erst aus der Welt der Tatsachen emporarbeiten.

Meine Schreiblehre will, anders als »Niegeschichte«, keine Poetik und keine Poetologie sein. Sie lernt das, was sie wissen und sagen muss, unter anderem von Fehlern in meinen literarischen Texten, die ich Ihnen zeigen werde.

Wie man lehrt, weiß ich freilich nicht gut.

Und wie man lernt, habe ich mir selbst beibringen müssen.

Meine Schreibtechnik entwickle ich seit ungefähr fünfunddreißig Jahren, indem ich mir anschaue, wie Leute schreiben, die ich bewundere. Dann klaue ich, dann baue ich um, was bei mir nicht funktioniert. Dieses Vorgehen ist handwerklich kaum originell und nicht nur in den Künsten, sondern selbst in den exaktesten Wissenswelten üblicher, als Schöngeisterei meint, die um Exaktes einen Bogen macht. Ich will zur Verdeutlichung des Verfahrens zwei Beispiele aus Denkschulen streifen, die in akademischen Zusammenhängen präzisen Denkens entstanden sind und dort gepflegt werden, aus der sogenannten »Kategorienlehre« und dem sogenannten »Inferentialismus« – daran lässt sich nämlich demonstrieren, auf welche Weise das, was ich Ihnen hier erzähle, überhaupt »Theorie« ist und inwieweit das dazugehörige »Theoriedesign« (Niklas Luhmann) vom Gegenstand abhängt.

Die erste der beiden Lehren gehört in ein Wissensgebiet, das meine literarischen Texte teils färbt, teils stärkt, teils belastet, in der Schnittmenge zwischen Begriffen der Mathematik einerseits und Begriffen der Philosophie andererseits. Die Kategorientheorie hat für meine Literatur, genauer: für meine Science Fiction im Stofflichen und Thematischen Gebrauchswert, aber auch für meine Selbstverständigung darüber, wie ich schreibe.

Einer der wichtigsten Begriffe der Kategorientheorie, der »Funktor«, stammt aus der Philosophie.

Die Mathematiker Saunders Mac Lane und Samuel Eilenberg, deren Schöpfung die Kategorientheorie ist, haben das Wort beim Philosophen Rudolf Carnap gefunden und es ihren Zwecken anverwandelt. Umdeutungen von Wörtern sind im Exakten erlaubt, sofern man bei der Einführung der neuen Verwendungsweise des umgedeuteten Wortes mitartikuliert, worin sie sich von der ursprünglichen unterscheidet, je nach Kontext mal ausführlicher, mal knapper.

Kaum jemand wird, wenn von einem »Liebesdreieck« die Rede ist, wissen wollen, ob’s ein gleichseitiges, gleichschenkliges oder geometrisch sonstwie näher bestimmtes Dreieck ist. Kaum jemand wird, wenn von einem »Freundeskreis« die Rede ist, wissen wollen, ob der gemeinte Sozialzusammenhang wirklich eine Menge von Punkten ist, die, wie beim geometrischen Kreis, alle gleich weit von einem Mittelpunkt entfernt sind.

Wenn ich aber in »Niegeschichte« von einem »Aufhebungsfunktor« rede und damit ein Verfahren bezeichnen will, das den Unglauben des Publikums an phantastische Erzähltropen in Schach hält, dann muss ich erklären, was ich unter dem Wort »Funktor« verstehe, inklusive meiner Abweichung vom Wortgebrauch Mac Lanes und Eilenbergs, falls es eine gibt. Denn ich will da nicht nur etwas bebildern, sondern etwas erklären – Unverstandenes auf Verständliches herunterrechnen (»Reduktionismus«).

Bei Mac Lane und Eilenberg ist ein Funktor eine Abbildung zwischen Kategorien. Unter »Kategorien« verstehen sie »Handlungsuniversen« der Mathematik: Zu jeder Kategorie gehören 1.) Objekte (Zahlen, Formen, Namen …) und 2.) Verknüpfungen zwischen diesen, die man »Morphismen« oder »Abbildungen« nennt. Es gibt einen Morphismus von den Namen der Eltern zum Namen des Kindes, von einer Zahl zu einer anderen, die ihr Quadrat ist, von der einfachen Form zu komplizierteren Formen und so fort.

Weil zu Kategorien, die man mittels Funktoren aufeinander abbildet, immer schon Abbildungen gehören, ist ein Funktor unter anderem eine Abbildung zwischen Abbildungen. In »Niegeschichte« soll nun der »Aufhebungsfunktor« eine Abbildung sein zwischen einerseits den Abbildungen, die wir uns im wirklichen Leben auf dem Weg von der Ursache zur Wirkung machen (»A verursacht B«, das Wort »verursacht« ist die Abbildung) und andererseits den Abbildungen, die wir uns in der Phantastik von Ursache und Wirkung machen. Damit wir die besonderen, im Alltag ungewohnten Ursache-Wirkung-Verknüpfungen konstruieren können (Effekte von Magie, ausgedachter Wissenschaft und Technik etc.), die es in der Phantastik gibt, müssen wir Ursache-Wirkung-Verknüpfungen, die wir aus dem wirklichen Leben kennen, aufheben, soll sagen: suspendieren, einklammern, ignorieren. Der Meta-Pfeil »Aufhebungsfunktor« zeigt von den Pfeilen der Kausalität (A verursacht B) im Leben zu denen in der Phantastik (A| verursacht B|).

Wenn ich in »Niegeschichte« »Aufhebungsfunktor« sage, meine ich mit dem Wortbestandteil »Funktor« also in der Tat etwas Ähnliches wie das, was Mac Lane und Eilenberg mit demselben Wort meinen. Aber ich habe das Wort der beiden durch einen Zusatz, der das Spezifische meines Wortgebrauchs benennt (»Aufhebung«), meinem Darstellungszweck angepasst. Das Spezifikum ist die Aufhebung einer Pfeilbeschaffenheit, derjenigen von Kausalbeziehungen im Wirklichen nämlich.

Entscheidend ist die Rolle, die das Wort im Argument spielt. Was das bedeutet, hat der amerikanische Philosoph Robert B. Brandom in seinem Inferentialismus ausgearbeitet.

Ich bitte Sie um Geduld, wenn ich jetzt auch noch ausführe, was »Inferentialismus« ist und was ich damit will. Sie können das, was ich danach auf dieser Grundlage sage und was die ZEIT meinen »pseudophilosophischen Scheiß« nennt, dann ja, wenn es Ihnen nicht einleuchtet, umso entschlossener und besser begründet verwerfen, wenn Sie wissen, wie ich es meine, anstatt es nur abzulehnen, weil Sie’s nicht kennen.

Brandoms »Inferentialismus«-Begriff ist abgeleitet vom Wort »Inferenz«. Gemeint ist damit eine Folgerung – aus irgendeinem Satz folgt ein anderer, das ist die Inferenz.

Brandom nennt seine Theorie »inferentialistisch«, weil sie sagt: Die Bedeutung eines Wortes ist die Funktion dieses Wortes in einer solchen Folgerung.

Sobald ich ein Wort gebrauche, lege ich mich laut Brandom auf Sätze fest, aus denen etwas folgt oder die aus etwas folgen, indem dieses Wort in ihnen vorkommt. Die bei Brandom daran angeschlossene Vorstellung, dass zu einem Wortgebrauch die Festlegung auf die Verpflichtung gehöre, etwas für wahr zu halten, nennt der Philosoph seine »normative Pragmatik«. Das Wort »Pragmatik« bedeutet »Handlungslehre« und das Adjektiv »normativ« sagt, dass die jeweilige Wortgebrauchshandlung sich an eine Norm, eine Vorschrift bindet, die man aus dem Gebrauch herausdeuten und explizit machen kann.

Eine Vorform des Inferentialismus in der mathematischen Logik kann man beim deutschen Logiker Gerhard Gentzen in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts entdecken. Gentzen hielt dafür, die Bedeutung eines logischen Zeichens sei die Rolle, die es in einem Beweisverfahren für einen mathematischen Satz spielt. Gentzen dachte spezieller; Brandom denkt allgemeiner. Beider Lehren reimen sich qua Handlungsbezug auf die Kategorientheorie von Mac Lane und Eilenberg, die sagt, ein mathematisches Objekt, etwa ein Dreieck, eine natürliche Zahl, eine Punktmenge, sei nicht einfach ein Ding, das in eine Schublade passt, sondern primär dadurch bestimmt, ob und wie man es auf andere Objekte abbilden kann und ob und wie sich wiederum diese auf das betreffende Objekt abbilden lassen.

Über die Kategorientheorie und den Inferentialismus lerne ich seit etwa zwei Jahrzehnten so viel, wie ich überhaupt kann. Beide lehren mich denken, beide kommen daher auch immer wieder in den Welten als Stoff vor, die ich für meine Science Fiction erfinde. Es geht nicht um Didaktik, denn ich denke, dass das literarische Schreiben nicht vorrangig Informationen über die wirkliche Welt gestalten soll, sondern Haltungen zu ihr.

Was meine ich mit »Haltungen«?

Eine Haltung ist mir nicht einfach eine Meinung, die sagt, dies oder das sei so oder so zu bewerten. Eine Haltung ist für mich eine bewusste Disposition zu Handlungen oder Unterlassungen.

Es gibt Kampfhaltungen, sprungbereite Haltungen, auch entspannte. Es gibt fordernde wie entsagende, produktive und destruktive.

Da Haltungen sich auf Handlungen beziehen und Handlungen in der Wirklichkeit stattfinden, nicht nur im Kopf (sonst sind es nur Ideen von Handlungen), müssen Haltungen notwendigerweise Haltungen zu etwas Wirklichem sein.

Wer daher Haltungen gestalten will, muss Wirkliches mitgestalten, weil sonst das nicht erkennbar (und damit: nicht gestaltet) ist, wozu die Haltungen überhaupt Haltungen sind.

Die besondere Darstellung einer Haltung, die ein literarisches Kunstwerk leistet, ist Vermittlung zwischen drei Größen: Erstens Thema (Gedanke), zweitens Stoff (Gegenstand), drittens Form (Gestaltung).

Zwei Exempel dafür, zwei Haltungen, ein Genre: Ich möchte Ihnen den Roman »Solaris« des polnischen Schriftstellers Stanisław Lem aus dem Jahr 1961 vorstellen, um ihn mit dem Roman »Diaspora« des australischen Schriftstellers Greg Egan aus dem Jahr 1997 zu vergleichen.

Der Vergleich soll klären, was ich mit »Thema«, »Stoff« und »Form« meine.

In Lems Roman entdecken Menschen ein gigantisches Lebewesen im All, das (vermutlich) denkt und (anscheinend) kommuniziert. Die Verständigung mit ihm scheitert, ja: erweist sich als prinzipiell unmöglich, weil die Art, wie wir Menschen in unseren Vorstellungen und Darstellungen der Welt Zeichen verwenden, nicht zu der Art passt, wie dieses Wesen kommuniziert und denkt.

In Egans Roman entdecken Wesen, die von uns abstammen, dass ihre physikalische Theorie der Welt unvollständig ist und sie daher auf eine Katastrophe nicht vorbereitet hat, die ihre Existenz bedroht. Sie lernen, dass ihnen die Art, wie sie ihre (hier: streng wissenschaftlichen) Zeichen in ihren Vorstellungen und Darstellungen der Welt verwenden, nur einen Ausschnitt dieser Welt gezeigt hat. Notgedrungen machen sie sich daran, den Ausschnitt zu vergrößern. Das gelingt nur um den Preis, dass sie ihren Gebrauch von Zeichen und damit sich selbst als zeichengebrauchende Subjekte grundsätzlich verändern müssen. An einer Schlüsselstelle des Romans beklagt sich während dieser Arbeit eine Figur, man habe bei den Ausstellungen – es heißt tatsächlich, auf Englisch: »exhibitions« –, die man in der Welt des Romans veranstaltet, um das Gelernte sinnlich fassbar zu machen, eine Grenze überschritten, jenseits derer etwas liege, was nicht mehr nachvollziehbar sei (»beyond understanding«). Eine andere Figur gibt darauf Antwort mit einem Satz, der zusammenfasst, was ich die Haltung des Romans »Diaspora« nenne:

Nothing is beyond understanding. A hundred more exhibits, and I promise you: you’ll be dreaming in five dimensions.[1]

»Diaspora« sagt also: Wir werden die richtigen Abbildungen finden, die nötigen Brücken zwischen unseren Wolken und dem Boden der Tatsachen. »Solaris« dagegen sagt: Wir werden nie eine Brücke finden zwischen uns und allem, was der Fall sein kann; schon gar nicht zu allen vorstellbaren Fremdintelligenzen.

Egans Stoff ist die Katastrophenbewältigung, Lems Stoff ist das Katastrophenerlebnis.

Egans Thema ist die Naturwissenschaft, vermittelt über von ihr ermöglichte Technik. Lems Thema dagegen ist die Kognitionswissenschaft als Kommunikationsphilosophie, vermittelt über ein Gedankenexperiment zur These der Inkommensurabilität unterschiedlicher Welterschließungsweisen.

Verschiedene Haltungen, verschiedene Stoffe, verschiedene Themen, aber dieselbe Form: der Science-Fiction-Roman.

Um die Verhältnisse zwischen Haltungen, Themen, Stoffen und Formen für mich zu ordnen, entwickle und übe ich meine Schreiblehre. Es geht darin um Regeln, die ich mir erarbeitet habe. Mit ihrer Hilfe kann ich das Vergnügen daran genießen, dass jede Regel in meinem von viel Quatsch gequälten Beruf eine Ausnahme als »Störung der Unordnung« (Karl Kraus) ist, die sonst vorherrscht, eine Herausforderung der Gedankenarmut des naturwüchsigen Gemeinwesens. »Schreiblehre«, nicht Poetik oder Poetologie, nenne ich das Ding, weil der Wortbestandteil »Lehre« mich an etwas erinnert, das ich nicht vergessen will. Es schreibt sich für mich von einer heilsamen Kränkung her, die mir ein Lehrer auf dem Gymnasium in Schopfheim im Wiesental zugefügt hat, aus gutem Grund.

Der Mann unterrichtete Französisch. Ungern ließ er sich mit Fragen von seiner Lehrplan-Leier ablenken. Aus Langeweile und Frechheit stellte ich ihm aber einmal eine Frage zur französischen Grammatik: Warum ist das so, in dem Satz, den Sie eben gesagt haben?

Er antwortete: »Des isch halt so.« (Hochdeutsch: »Das ist halt so«).

Gemeint war: »Frag’ nicht, friss es!«

Merci, prachtvoller Herr Zimmermann mit deinem Gorillakörperbau, deinem Bluthochdruckgesicht und deinen Kriegs- oder Schmissnarben; von Herzen sei dir gewünscht, dass du noch lebst und in irgendeiner Lebensdämmerinstitution unterbezahlte Altenbetreuungskräfte schikanierst. Ich wollte die Antwort damals nicht hören, die ich von dem Herrn bekam.

Ich wollte eine Regel wissen, die mir die Erscheinungen der französischen Sprache geordnet hätte. Wer keine Regeln hat, muss jede Frage nach einem Phänomen mit »des isch halt so« beantworten. Wer zu grobe Regeln hat, muss zwar nicht mehr alle, aber immer noch zu viele verschiedene Erfahrungen auf diesen Satz zusammenprügeln. Wer zu feine Regeln hat, verliert sich beim Erklären auf konfusen Wegen.

Damals maulte ich: »Wenn des eso isch, dann bruuch i au nix lerne, dann bruuch i gar nit in d’ Schüel cho.« (Hochdeutsch: »Wenn das so ist, dann brauche ich auch nichts lernen, dann brauche ich gar nicht zur Schule kommen.«)

Zimmermann ließ sich das nicht bieten: »Was willsch überhaupt uffem Gymnaisum? Du machsch einewäg e Schlosserlehr!« (Hochdeutsch: »Was willst du überhaupt auf dem Gymnasium? Du machst sowieso eine Schlosserlehre!«)

Der Mann hatte seinen Job verstanden: Lehrpersonal im gegebenen Gemeinwesen bringt Kindern kaum Vernünftiges bei, sondern sortiert sie nach Verwertbarkeit für die Zwecke des Kapitals. Zimmermann dachte, mir stünde eine Lehre bevor. Wie er aufs Schlosserhandwerk kam, weiß ich nicht. Im Nachhinein schmeichelt mir die Idee: Der Beruf ist nützlicher als der, den ich heute ausübe. Der Lehrer las damals aus seiner im Kopf gespeicherten Statistik wie aus Kaffeesatz: Ich war das Kind einer alleinerziehenden zahntechnischen Angestellten, nicht der Sohn eines Anwalts oder anderer Kleinstadtgottheiten, die ihre Brut zum Studieren schicken konnten.

Das Gymnasium galt aber als Startrampe für den Höhenflug zur Uni; an mich war’s daher verschwendet. Eine Lehre wäre vernünftiger, urteilte der strenge Mann. Ich habe mich, weil ich heimlich wusste, wie Recht er hatte, in das, was später entgegen seinem Beschluss mein Beruf wurde, so sehr verbissen, dass ich mir schließlich jeden anderen Weg verbauen musste.

Auch den akademischen: In die Physik zum Beispiel, eine Lebensliebe, fand ich, als ich dann doch ein Weilchen zur Uni ging, nur wenige, zaghafte Millimeter weit hinein. Ich hörte Vorlesungen, quälte mich sehr kurz mit dem Erlernen technischer Fertigkeiten und muss noch heute das Gesicht verziehen, wenn irgendwer sagt oder irgendwo steht, ich hätte Physik studiert. Ich hab’s versucht. Das ist was anderes.

Schon vor den vielen Übungen, mit denen dieses Studium vernünftigerweise beginnt, zuckte ich aus Mangel an Begabung und im Bann gewinnbringender Schreibgelegenheiten zurück. In keinem Fach, auch nicht in zwei leicht erlernbaren, weil aus geisteswissenschaftlichem Nebel gemachten, die ich mir einige Wochen lang ansah, habe ich an der Universität auch nur die erste ernstzunehmende Prüfungsebene erreicht.

Stattdessen machte ich zwar keine Schlosser-, aber eine Schreiblehre. Das tat ich ganz so, wie ein Lehrling lernt: mit festen Zeiten, je vorab bestimmtem Pensum, viel Abgucken bei der Meisterin und beim Meister, Pauken von Regeln.

Die waren und sind seither meine besten Freundinnen.

Es steckt aber ein Trick in diesem Satz.

Er klingt nach Automatik, nach traumlos tätigem Schlaf. Das täuscht. Man kann Regeln nämlich träumen und Träume regeln, dreaming in five dimensions, wie Egan sagt, wenn man nicht irrtümlich glaubt, man verfüge über Regeln allein aus eigener Machtvollkommenheit. Die Wahrheit ist, dass die meisten Menschen, die wähnen, sie hätten Macht über irgendwen oder irgendetwas, in Wahrheit nicht einmal Macht über sich selbst haben, weil sie als Menschen nie nur sie selbst, sondern stets aus Spuren anderer Menschen zusammengesetzt sind: gesellschaftliche Erzeugnisse.

Was Menschen Regeln nennen, sind Beziehungen von Momenten menschlicher Praxis zueinander, keine Objekte, die man in die Hand nehmen kann.

Der Junge, der kein Schlosser wurde, brauchte und braucht Regeln, weil er sich auf sich selbst nicht verlassen kann und will. Er ist kein guter Mensch, aber ein gutes Beispiel. Vergessen Sie das nicht; es wird sich rechnen.

Lassen wir aber mich und meine Mängel jetzt fürs Erste beiseite. Ich will Ihnen etwas anderes erzählen, über Vorbilder und über das Gelungene. Ich rede jetzt über diejenigen, von deren Arbeit aus ich meine Regeln hochabstrahiert habe, über Anne Garréta, Unica Zürn, Marianne Fritz, Nicky Drayden … die Darstellung der Leute, denen das Schreiben glückt, wird mit der Darlegung der Regeln verflochten sein; ich kann nur hoffen, dass das Bild ein bisschen lebt, da doch sein Gegenstand das tut.

Fangen wir an mit Anne Garréta.

Seit ich lese, um zu schreiben (das heißt: seit etwa dreißig Jahren), ist mir wenig begegnet, das mich so beglückt wie Garrétas Werk. Wenn meine Bücher immer wieder sagen: »Menschen sind aus anderen Menschen zusammengesetzt«[2], dann kann ich das überhaupt nur sagen, weil ich meine Abneigung gegen das Gemeinwesen, in dem diese Einsicht kaum vorkommt, im Griff behalte, solange ich Maßstäbe der Kritik an diesem Gemeinwesen kenne. Sie heben mir das Falsche in den Kontrast, der es beobachtbar macht. Die Gegenmaßstäbe sind die Bewunderten, zum Beispiel Anne Garréta.

Sie hat ihre künstlerische Individualität nicht nur gegen besagtes Gemeinwesen ertrotzt, sondern sie auch in und mit einer Gemeinschaft erarbeitet. Diese spezielle, kleine Gemeinschaft wird nicht von Blutsbanden, politischer Programmatik, Nationalität oder religiösem Bekenntnis zusammengehalten, sondern von der ästhetischen Regelerkundungsbereitschaft derjenigen, die ihr angehören.

Sie heißt »Oulipo«.

Das Wort steht für Ouvroir de Littérature Potentielle, also »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Diese Werkstatt wurde vor etwa sechzig Jahren in Frankreich beim Versuch ins Leben gerufen, mathematische Verfahren auf die Dichtung anzuwenden. Der reichte vom aleatorischen Buchstabengeschüttel, bei dem auch mal Lettern aus dem Wortbestand fallen, bis hin zur Neuerfindung umfassender, meist epischer oder lyrischer (kaum je dramatischer) Formen.

Was die Leute bei Oulipo taten und tun, ist ein Sonderfall der

ERSTEN REGEL BEIM LITERARISCHEN SCHREIBEN,

der ich gehorche. Sie lautet:

Beginne von der Idee her, dass Sätze aus anderen Sätzen zusammengesetzt sind, Wörter aus anderen Wörtern, bedeutungsfähige Zeichen aus anderen bedeutungsfähigen Zeichen. Beachte deine drei notwendigen und hinreichenden Organisationsprinzipien fürs Zusammensetzen von Zeichen aus Zeichen: Thema, Stoff und Form.

In der Regel steckt meine Auffassung vom Literarischen tout court: Der literarische Text, wie ich ihn schreibe, lese und verstehe, nimmt sein Sprachmaterial

Erstens aus denjenigen Zeichen, die sein Stoff im Gedächtnis der Autorin oder des Autors sowie in den ihr oder ihm verfügbaren Archiven und Medien anzieht (etwa Hexenzeichen, wenn’s der Fauststoff ist),

Zweitens aus denjenigen Zeichen, die sein Thema aus denselben Quellen schöpft (etwa Zeichen für Geld, Wissen und Technik, wenn’s, wie bei Goethes »Faust«-Dramendyade, die Heraufkunft des bürgerlichen Zeitalters ist),

und

Drittens aus denjenigen Zeichen, die seine Form aus abermals allen zuhandenen Quellen ruft (wenn ich etwa in gebundener Rede schreibe, kann ich nur Wörter gebrauchen, die sich nach Länge und Betonung ins Maß fügen).

Wichtig an der Triade Stoff-Thema-Form ist nicht so sehr das, was sie mitnimmt, als vielmehr das, was sie ausschließt: etwas, das der Liebesbrief verlangt wie der Geburtstagsartikel über Tsui Hark in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Denn beide sortieren die vom Stoff, vom Thema und von der Form aggregierten Wörter und Wendungen nicht nur von diesen Aggregatoren aus, sondern nach brauchbaren und unbrauchbaren im Blick auf die Erwartungen der Autorin und des Autors von den Erwartungen des Bewusstseins, das lesen soll (»Erwartungserwartungen«, wie Niklas Luhmann sagt).

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