Kitabı oku: «Zukunftsbildung»
Dietmar Hansch und Till Bastian
ZUKUNFTSBILDUNG
Die Giergesellschaft überwinden – und überleben
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
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Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig
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Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Über den Autor
Vorwort
„Medizin im Großen“: Die soziale Emphase des Rudolf Virchow – Einführung von Till Bastian
Die schwarze Erleuchtung des John Gray – Einführung von Dietmar Hansch
1
Die Quellen des Übels und ihre zerstörerischen Wirkungen
2
Gefangen im G-Attraktor: Gier-Gesellschaften
3
Autotelie und Askese
4
Die Kraft der Kohärenz: Kulturantriebe
5
Der Egoist, der Altruist und der Meister: Vom Egomenschen zum Kulturmenschen
6
Die Moral des Kulturmenschen
7
Kulturmensch, Moral und Glück
8
Erkenntnistheoretische und metakognitive Kompetenz
9
Von der Natur- zur Kulturgemeinschaft
10
Differenzierung versus Integration – das Schleimpilz-Prinzip
11
Von der Religion zum Weltbild der Dritten Kultur
12
Zukunftsbildung – das Bildungssystem der Dritten Kultur
13
Liberalismus oder Paternalismus? Wider den Ideologie- und Totalitarismus-Vorwurf
14
Kulturgesellschaften: Die Reise in den K-Attraktor
15
Rot-Grün – das Fortschrittsprojekt der Dritten Kultur?!
Literaturverzeichnis
Dr. med. Dietmar Hansch, Jahrgang 1961, Internist und Psychotherapeut, Leiter des Zentrums für Burnout und Stressfolgeerkrankungen an der Klinik Wollmarshöhe in Bodegg. Mitglied des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM). Er ist Autor zahlreicher Zeitschriftenartikel und Bücher.
Dr. med. Till Bastian, geb. 1949, ist Arzt und Psychotherapeut an einer Fachklinik für psychosomatische und internistische Medizin. Autor zahlreicher Bücher und Artikel. Er lebt in Isny im Allgäu, ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.
Vorwort
Unter den sich verdichtenden Zeichen von globaler Krise und Bedrohung hatten wir etliche Jahre gewagt zu verdrängen und zu hoffen. Grüne Technologien, regenerative Energien, Emissionsrechtehandel, Nachhaltigkeits-Konzepte, Mikrokredite, Unternehmensethik oder Fair Trade – vielleicht lassen sich dem Kapitalismus doch ökologische Vernunft und soziales Gewissen einhauchen. Und Gott sei Dank – dann könnten wir bleiben, wie wir sind. Wir alle könnten uns weiter aus dem Bauch heraus und in voller Freiheit entfalten, könnten weiter hemmungslos konsumieren, wegwerfen, fahren und fliegen. Die unsichtbare Hand der grün belehrten Märkte würde die Dinge schon trotzdem zum Guten wenden. Der rasende Zeitgeist des Immer-Mehr würde sich schon irgendwie selbst überholen und vor dem Großen Crash das Ziel erreichen. Und eine Alternative gibt es ja ohnehin nicht: Denn Hand in Hand mit dieser bequemen Illusion geht das Diktum, dass die Natur des Menschen nicht zu ändern sei, dass es einen Neuen Menschen nicht geben könne, ja, nach den blutigen Diktaturerfahrungen galt es nachgerade als Tabu, an diese Fragen zu rühren.
Es ist höchste Zeit, aus diesen angenehmen Träumereien zu erwachen und sich den Realitäten zu stellen: Jahr um Jahr wächst die globale Ressourcenvernichtung, Jahr um Jahr steigt der globale Energieverbrauch, jedes Jahr bringt einen neuen Rekord im Kohlendioxid-Ausstoß. Und all das wächst nicht nur, es wächst auch immer schneller. Mit dem weitgehend „naturbelassenen“ und nur im überwiegend technischen Sinne „ausgebildeten“ Menschen ist eine grüne Marktwirtschaft nicht zu machen. Immer kommen Mechanismen in Gang, die die menschliche Giernatur stimulieren und am Ende in ein alles verschlingendes exponentielles Wachstum münden.
Diese heute nicht mehr zu leugnenden Realitäten erzwingen einen Paradigmenwechsel: Die Gier nicht kanalisieren, sondern sie bekämpfen, nicht Wachstum sondern Beschränkung. Was die Geschichte tatsächlich und unwiderruflich lehrt ist: Mit Diktatur geht all dies nicht. Wenn man vor diesem Hintergrund die Situation durchdenkt, bleibt exakt ein einziger Ausweg: Wir brauchen ein Bildungswesen, das die Menschen zu freiwilliger Selbstbeschränkung befähigt.
Man kann die menschliche Natur nicht ändern, aber man kann sie eingrenzen und kulturell überbauen. Was dies im Einzelnen heißt und wie es gelingen könnte, ist die zentrale Frage, auf die wir in diesem Buch Antworten suchen. Gerade als Ärzte und Psychotherapeuten fühlen wir uns von diesem Thema herausgefordert – und auch ausreichend gerüstet, zumal wir dabei zusammenfassend und erweiternd an umfangreiche Vorarbeiten anknüpfen können.
Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass ein solches Konzept von Zukunftsbildung die eigentliche, zentrale Frage des globalen Überlebens ist, die weder im Bildungs-Diskurs noch im „Weltrettungs-Diskurs“ adäquaten Raum einnimmt. Die Lösung dieser Bildungsaufgabe ist nicht alles. Aber ohne Fortschritte hierbei wird sich alles andere als nichts erweisen. Mülltrennung, Solardächer, Fahrradfahren, Spenden und Stiftungen – diese und alle anderen Ihrer Weltrettungsbemühungen würden am Ende für die Katz gewesen sein. Sie würden die Katastrophe nur ein wenig verzögern. Abwenden lässt sie sich nur durch einen massiven Einsatz von Mitteln am Hebelpunkt Persönlichkeitsbildung: Es muss gelingen, eine überkritische Zahl der Heranwachsenden dazu zu befähigen, den Hauptanteil ihrer Lebenszufriedenheit nicht aus materiellen Konsumgütern zu gewinnen, sondern aus immateriellen Kulturgütern. Wir wollen zeigen, dass eine solche Bildung heute möglich wäre.
Wir führen aus, inwiefern dieses Bildungsprojekt unverzichtbare Grundlagen neuer Gemeinschaftsbildung entstehen ließe. Es muss den Kern eines ökologischen Humanismus bilden und wäre damit die Gelingensvoraussetzung für ein zu wünschendes rot-grünes Fortschrittsprojekt.
„Medizin im Großen“: Die soziale Emphase des Rudolf Virchow – Einführung von Till Bastian
„Die medizinische Wissenschaft ist in ihrem innersten Kern und Wesen eine soziale Wissenschaft“, so schrieb der Berliner Armenarzt Salomon Neumann (1819 – 1908) im Jahr 1847, und sein berühmterer Kollege Rudolf Virchow (1821 – 1902) pflichtete ihm ein Jahr später, im Revolutionsjahr 1848, in seinem programmatischen Aufsatz „Der Armenarzt“ bei: „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ Ein weiteres Jahr später, 1849, veröffentlichte Virchow – später ob seines hartnäckigen Eintretens für Frieden und Völkerverständigung von Otto von Bismarck zum Duell gefordert! – in preußischem Regierungsauftrag seinen berühmt gewordenen Bericht „Über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie“. An dessen Ende heißt es lapidar: „Die logische Antwort auf die Frage, wie man in Zukunft ähnliche Zustände, wie sie in Oberschlesien vor unseren Augen gestanden haben, vorbeugen könne, ist also sehr leicht und einfach: Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand …“ (Alle Zitate nach Deppe u. Regus, 1975).
Als ein über Jahrzehnte hinweg politisch aktiver Arzt – tätig vor allem im Auftrag und im Umfeld der „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (vgl. dazu Bastian 1990 und 2011) – und als großer Bewunderer des unermüdlich engagierten Rudolf Virchow möchte ich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nichts unversucht lassen, um meinen Mitmenschen das „Prinzip Vorbeugung“ in seiner weltgestaltenden Bedeutung vor Augen zu führen. Denn von kaum einen anderem Gestaltungsprinzip ist die Menschheit heute – zu ihrem eigenen Schaden! – weiter entfernt als von jenem Grundsatz „Vorbeugen ist besser als Heilen“, einer uralten Menschheitserfahrung, die schon in das Buch der Weisheit, das „Tao Te King“ des alten Weisen Laotse mit den schier klassischen Worten „Man muss wirken auf das, was noch nicht da ist“, Eingang gefunden hat. Aber nichts könnte dem Selbstverständnis der heute herrschenden, weil ja von der schweigenden Mehrheit leider geduldeten politischen Eliten ferner sein als just dieser Grundsatz. Da werden in immer schnellerem Tempo immer nur sehr kurzfristige Ingenieurmaßnahmen propagiert, um auf wirkliche oder vermeintliche Krisen einzuwirken, mit – schon die Wortwahl ist verräterisch! – „Kapitalspritzen“ oder „Rettungsschirmen“ und so fort … Um eine dauerhafte, nachhaltig wirksame Veränderung der gegenwärtigen Zustände ins Werk zu setzen und so das Schlimmste zu verhüten, das ja schon am Horizont heraufdämmert, geschieht so gut wie nichts, und manchmal kann sich der besorgte Zeitgenosse des Eindrucks nicht erwehren, dass die hektische, aufgeregte öffentliche Debatte um die Frage, – ich greife ein zur Zeit der Niederschrift dieser Zeilen hochaktuelles Beispiel auf – ob etwa Griechenland im Euro-Verbund bleiben oder zur Drachme zurückkehren soll, in der Hauptsache einem einzigen Zwecke dient, nämlich dem, Diskussionen über die wirklich wichtigen Fragen nach Möglichkeit zu verhindern. Zu diesen Themen würde etwa die drohende ökologische Katastrophe gehören, die nicht allein, aber doch in hohem Umfang auf die anthropogene und nicht etwa erst in Zukunft drohende, sondern bereits im Hier und Jetzt registrierbare Klimaerwärmung zurückzuführen ist, ebenso aber auch die durchaus auch im eigenen Land, vor allem aber weltweit festzustellende, stetig wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die schon heute ein empörendes Ausmaß angenommen hat. Bei der Diskussion solcher Probleme stellt sich freilich rasch heraus – und eben deshalb werden sie ja auch systematisch vermieden! –, dass sie sich nicht werden meistern lassen, wenn der way of life der weltweit praktizierten kapitalistischen Konsumgesellschaft unverändert in die Zukunft extrapoliert werden soll, wie es das politische Establishment nahezu allüberall frohgemut und unverdrossen propagiert. Dieser politische Amüsierbetrieb, der gut mit der Talk-show-Medienöffentlichkeit und mit der hektischen Vergnügungssucht der Erlebnisgesellschaft zusammenstimmt, erinnert an die Katastrophe des Dampfers Titanic 1912, ein Jahrhundert vor der Niederschrift dieses Vorwortes, die sich ja vor allem deshalb ereignet hat, weil alle Vorsichtsmaßregeln zugunsten des Tempowahnes vernachlässigt worden waren. Nach dem Zusammenstoß mit dem Eisberg, der bei einer angemessen langsamen Fahrweise wohl vermeidbar gewesen wäre, spielte, als das Riesenschiff schon zu sinken begann, das Bordorchester immer noch eine fröhliche Melodie nach der anderen, denn man wollte so eine Panik unter den Passagieren verhindern.
Das Titanic-Desaster dient seit 1912 mit Recht – freilich auch mit geringem didaktischen Erfolg! – als Metapher, um den gefährlichen, ja selbstmörderischen Kurs der technokratischen Industriegesellschaft gleichnishaft auszudeuten. Das vorliegende Buch, an dem ich – einer Nachfrage meines Freundes und Kollegen Dietmar Hansch folgend – sehr gerne mitgearbeitet habe, verfolgt einen anderen, recht unspektakulären Weg. Es fragt weniger nach den großen, gesamtgesellschaftlichen Neuerungen, die nötig wären, damit die Menschheit auch das Ende dieses Jahrhunderts erlebt, sondern mehr nach den persönlichen Qualitäten, die wir erwerben müssen, um eben jene Veränderungen – deren Notwendigkeit von uns ja keineswegs bestritten wird! – dauerhaft und nachhaltig ins Werk setzen zu können.
Noch etwas anders ausgedrückt: Das von Karl Marx benannte Ziel einer rationalen Regelung des „menschlichen Stoffwechsels mit der Natur“ steht nach wie vor auf der Tagesordnung, aber der von Marx und vor allem von seinen Epigonen skizzierte Weg – den Menschen durch das Wirken übergeordneter, zum Teil mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteter Instanzen zum neuen, nicht mehr profitorientierten Menschen zu erziehen – ist auf der ganzen Linie gescheitert. Wir setzen anstelle der diktatorischen „Erziehung“ durch autoritäre „Erzieher“ (die selber dem Attraktor der „Giergesellschaft“ auf Dauer nicht haben entrinnen können!) auf die antiautoritäre Persönlichkeitsbildung der „Autodidakten“, die – wenn sie erst einmal von Zigtausenden als zukunftsgestaltende Notwendigkeit erkannt worden ist – durchaus ihr subversives, weltveränderndes Potential entfalten könnte …
Entfalten könnte – denn selbstredend ist der Erfolg nicht garantiert. Wir glauben allerdings daran, dass er möglich ist. Dabei sollte uns freilich klar sein: Wir haben nicht unbegrenzt Zeit. Zwar wäre es falsch, in hektische Panik (oder in panische Hektik) zu verfallen – gewiss ist aber auch: Jedes ungenutzt verstrichene Zeitquantum verändert die Kräfteverhältnisse zum Schlechteren. Und wenn erst der radioaktive Staub der im Feuer der Atombomben verglühten Städte die Abenddämmerung rötet – dann wird niemand mehr da sein, der anderen Erdenbewohnern über seinen Traum von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde erzählt …
Die schwarze Erleuchtung des John Gray – Einführung von Dietmar Hansch
Über Jahre schon hatte ich es geahnt und befürchtet. Und auch heute noch kann und will ich es eigentlich nicht akzeptieren. Entsprechend hart hat es mich dann getroffen, als ich meine düstersten Ahnungen schonungslos auf den Punkt gebracht sah – in einem Buch des bekannten britischen Sozialphilosophen John Gray (2010) mit dem Titel „Von Menschen und anderen Tieren. Abschied vom Humanismus“. Nach Gray machen wir uns über unser Menschsein eigentlich nur Illusionen. Wir sind keine überwiegend moralisch handelnden autonomen und willensfreien Subjekte. Vielmehr werden die meisten von uns zumeist von Instinkten beherrscht und getrieben, wie andere Tiere auch. Wo immer man hinschaut – ob in die Wissenschaft, die Wirtschaft, die Kultur oder die Politik – humanistische Werte wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Schönheit oder Güte, all das sind nichts als dünne Papierkulissen, hinter denen brutal und ohne Regeln um Geld, Macht und Ruhm gerungen wird.
Es gibt keinen dauerhaften, über Jahrzehnte und Jahrhunderte sich aufbauenden sozialen Fortschritt. Die Blüte von Hochkulturen ist immer nur von historisch kurzer Dauer. Mit Zwangsläufigkeit folgt ein zivilisatorischer Verfall. Das wahrscheinlichste Zukunftsszenario ist die weitgehende oder totale Selbstvernichtung der Menschheit. Und hier kann sich Gray auf sehr gewichtige Autoritäten stützen, wie etwa den britischen Biowissenschaftler James Lovelock, der seine immense intellektuelle Kraft mit ganz zentralen Theorien und Erfindungen unter Beweis gestellt hat. Von unbegründeter Schwarzmalerei kann also hier keinesfalls die Rede sein.
Wir werden das giergetriebene Wachstum nicht begrenzen können, die Ressourcen werden ausgehen, die immer mächtiger werdenden Technologien werden irgendwann im Kampf darum auch als Waffen benutzt werden, der Klimawandel wird ein Übriges tun. Alles irdische Bemühen kann sich am Ende doch nur als eitel und vergeblich erweisen. Die Welt in ihrer derzeitigen Verfassung ist nur ein einziges postabsurdes und absolut sinnloses Theater, und zu weiten Teilen ein grausames noch dazu.
Aufklärung, Fortschrittsglaube und Humanismus sind nichts als quasireligiöse Wahnsysteme, die ihren Ursprung in aufweisbaren Irrtümern des Christentums haben. Und all das versucht Gray dann mit Gelassenheit zu nehmen – wie, sehen wir gleich.
Wie schon gesagt, die Lektüre dieses Textes hat mich sehr betroffen gemacht. Es ging so weit, dass mir folgender Gedanke kam: Ist das nicht eine Art Erleuchtung? Die einzige vielleicht, die es für uns Menschen gibt? Wenn Erleuchtung totale Desillusionierung bedeutet, wenn Erleuchtung heißt, der wichtigsten Wahrheit, die es für uns gibt, direkt ins Auge zu blicken, dann könnte man das tatsächlich so sehen. Eine schwarze, finstere, furchtbare Erleuchtung. Die Erblindung zur totalen Seinsfinsternis. Die modernisierte Reformulierung von Gedanken, wie sie schon von Schopenhauer oder Cioran vorgebracht wurden.
Grays Buch ist ja in einigen Besprechungen eher schlecht weggekommen. Tatsächlich: nicht wenige seiner Aussagen sind im Detail zweifelhaft und insgesamt ist doch ein recht grobes Schwarz-Weiß-Bild entstanden. Der Mensch ist nicht entweder vollständig ein Tier oder ganz davon losgelöst, er handelt nicht entweder vollständig bewusst oder wird total vom Unbewussten beherrscht, es gibt nicht entweder glorreichen, immerwährenden Fortschritt oder gar keinen. Die Wahrheit liegt immer irgendwo dazwischen, und diese Zwischentöne finden in Grays Buch keinen angemessenen Raum. Das alles kann man zu Recht bemängeln. Und dennoch gibt es überwältigende Argumente dafür, dass Gray am Ende mit seinen wesentlichen Aussagen Recht behalten könnte. Auch ein grobes Schwarz-Weiß-Bild kann im Kern die richtigen Figuren zeigen.
Gibt es über den Suizid hinaus noch eine andere Möglichkeit, mit dieser finsteren Erleuchtung umzugehen?
Gray versucht, uns wie folgt zu trösten: Die Fortschrittsillusion gebe es ohnehin nur im christlich geprägten Abendland. Den meisten anderen Zeitläuften und Kulturen von den Griechen über die Römer bis zu den Indern sei diese Denkfigur fremd gewesen. Dort hätten die Menschen doch auch ohne diese Illusionen gelebt und seien damit vielleicht nicht weniger glücklich gewesen – oder glücklicher.
„Die Suche nach einem Lebenssinn mag durchaus von therapeutischem Nutzen sein, hat aber mit dem Leben der Seele nichts zu tun. Echte Spiritualität bedeutet nicht, nach Sinn zu suchen, sondern sich von ihm zu lösen. Der Zweck des Lebens war für Platon die Kontemplation. Tätigsein hatte in seinen Augen nur insofern einen Wert, als es die Kontemplation ermöglichte“ (Gray 2010, S. 207). „Im Tätigsein bewahren wir uns ein Identitätsempfinden, das in der Reflexion zerfällt. Wenn wir an etwas arbeiten, erleben wir uns als scheinbar in sich geschlossene Wesenheit. Geschäftigkeit tröstet uns darüber hinweg, dass diese Geschlossenheit gar nicht existiert. Nicht der müßige Träumer entflieht der Realität, sondern der Emsige, der in einem betriebsamen Leben Zuflucht vor der Bedeutungslosigkeit sucht“ (Gray 2010, S. 204).
Kontemplation also. müßiges Tagträumen. Achtsamkeit im Hier und Jetzt. Nun ja. Ich übe das schon seit Jahren und predige es unverdrossen meinen Patienten und Schülern der Lebenskunst. Ein wenig hilft das tatsächlich und mit Veranlagung und viel Übung kann man da sicher auch noch mehr erreichen. Auch ich hab mir eine Mediationsmatte als letzte Zuflucht immerhin schon mal in mein Arbeitszimmer gelegt. Aber einfach ist es nicht. Die starken Eigendynamiken unseres Denkens reißen uns immer wieder aus der Gegenwart heraus und verstricken uns in leidvolles Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft. Und das, worauf das Auge der Kontemplation fallen könnte, ist ja weiß Gott nicht immer erfreulich. Die ach so erhabene Natur ist mit ihrem großen Fressen und Gefressenwerden doch im Kern ziemlich grausam. Dem Zerfallen sozialer Ordnungen zuzusehen, dem brutalen Chaos in failing states, dem elenden Ersaufen bei Naturkatastrophen, das ist weiß Gott alles andere als erbaulich. Und wenn zu viele von uns nur noch tagträumen oder meditieren, dann zerfällt die Ordnung unserer eigenen Kultur womöglich noch schneller und wir müssen bald wieder mit eigener Muskelkraft Holzpflüge über den Acker zerren, um überleben zu können. Platon mag ausgiebig kontemplativen Muße-Bädern gefrönt haben. Aber ermöglicht wurde ihm das durch die Arbeit von Sklaven. Und geschrieben hat er schließlich auch. Ganz sicher nicht ohne die Intuition, dass das zu etwas nütze sein möge. Nicht umsonst trägt eines seiner Bücher den Titel „Der Staat“ und es geht darin um den Entwurf eines idealen Staates. Die Sehnsucht nach einer guten Ordnung ist uns eingeboren und es dürfte kaum ein Mittel geben, sie gänzlich los zu werden.
Auf allen Ebenen ist Leben in seinem Wesenskern auf Ordnungsbildung angelegt, ja fast handelt es sich um Synonyma. Leben ist Ordnung aus dem Chaos, Wachstum ist Ordnungsbildung, Lernen ist Ordnungsbildung. Sinn ist die Schließung einer Ordnung zur guten Gestalt.
Wir sind zum Kampf um gute Ordnung und Sinn bestimmt – oder sollten wir sagen verurteilt, verdammt? Vielleicht ist Sisyphos das treffendste Bild, das je für das Menschenlos gefunden wurde. Wir spüren, dass der Stein auf den Berg gehört, und ihn im Tal liegen zu sehen, wird uns immer ein blutiger Dorn im Fleische sein. Für viele Menschen wird sich letztendlich dieser Dorn als schmerzlicher erweisen als die Anstrengung, den Stein wieder und wieder hinaufzurollen.
Und gibt es denn gar keine Chance, dass der Stein einmal oben bleibt? Nun, denkbar wäre das schon. Gray selbst deutet die Voraussetzungen dafür an: „Ein grünes Higtech-Utopia, in dem wenige Menschen im Gleichgewicht mit den anderen Kreaturen des Planeten ein angenehmes Leben führen, ist wissenschaftlich gesehen machbar, vom Wesen des Menschen her gesehen aber unvorstellbar. Falls etwas in dieser Art zustande kommen sollte, dann nicht durch willentliches Handeln des Homo rapiens“ (Gray 2010, S. 196).
Das „Wesen des Menschen“, seine Gier-Natur ist also der springende Punkt: der Mensch ist kein Homo sapiens, kein vernunftdominierter Mensch, vielmehr ist er im Kern ein Homo rapiens, ein „raffender Primat“.
Doch kann man an diesem Wesen des Menschen irgendetwas ändern? Geht das nicht gefährlich in die Nähe jener Visionen vom Neuen Menschen, die heute als grauenvoll gescheitert und auf ewig historisch desavouiert gelten? So ist es nicht gemeint. Frühere Revolutionierungsversuche des menschlichen Wesenskerns waren zumeist sehr radikal. Sie gründeten nicht ausreichend in psychologischem und neurowissenschaftlichem Wissen und waren weit davon entfernt, über eine annähernd angemessene und wirksame Methodik zu verfügen. Sie arbeiteten überwiegend mit Druck, Zwang und Strafe, was nur immer stärkeren Gegendruck weckte und schon deshalb scheitern musste.
Radikale Veränderungen des Menschen sind nicht möglich und nicht notwendig. Kleine äußere Veränderungsanregungen an der richtigen Stelle können eine sich selbst verstärkende Eigendynamik im Inneren auslösen, die am Ende zu einer recht deutlichen Selbstveränderung führt. Mäßige Veränderungen bei einer überkritischen Zahl von Menschen vermögen auf der gesellschaftlichen Ebene selbstverstärkende Eigendynamiken auszulösen, die zu einem qualitativen Sprung führen.
Grundsätzlich verfügen wir heute über ein adäquateres Wissen in Sachen Bildung und Erziehung als noch vor 50 oder 100 Jahren. Und was vielleicht noch wichtiger ist: wir verfügen heute über einen reichen Erfahrungsschatz der uns hilft, das Gute und Richtige unter den Halden des Unsinns hervorzuwühlen, den die menschliche Geschichte leider auch aufgehäuft hat.
Dies eröffnet aus meiner Sicht eine kleine, realistische Resthoffnung, dass wir selbst aus eigener bewusster Anstrengung heraus zur Schaffung eines „grünen Utopia“ fähig sind.
Aber bevor wir näher schauen, wie das vielleicht gelingen könnte, sei Ihnen noch einmal die Lektüre von Grays Buch empfohlen: Schauen Sie hinein in den Schwarzen Spiegel, den John Gray uns entgegen hält. Vielleicht brauchen wir dieses existenzielle Erschrecken, um die Kräfte zu mobilisieren, die es Homo rapiens am Ende doch noch ermöglichen, einen Homo sapiens aus sich zu machen. Im Sinne von Camus ist es uns aufgegeben, uns immer wieder gegen das Absurde aufzubäumen zu einer letzten aberwitzigen Anstrengung, aus dem Eisblock des Seins doch noch einige Blutstropfen Sinn herauszupressen.