Kitabı oku: «Bodensee», sayfa 2
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Vater schwor, Leni nie wieder etwas anzutun. Eher würde er sich die eine Hand mit der Axt abhacken, die andere unter die Kreissäge legen. Zum ersten Mal sah ich ihn weinen.
Leni trug keine Sonnenbrille mehr, ihr blaues Auge, ihr Veilchen, war verblasst. Schniefend fütterte Vater den Ofen im Wohnzimmer mit Kohlen und Briketts. Das Radio spielte Sonntagsschlager und meldete die Halbzeitergebnisse der Fußball-Oberliga West. Meiderich führte vier zu null gegen Marl-Hüls. Ich wusste, dass der Titicacasee in Südamerika lag. Der westliche Teil des Sees gehörte zu Peru, der östliche zu Bolivien. Meiderich und Marl-Hüls hatten wir in Erdkunde nicht durchgenommen. Auch Hamborn und Sodingen nicht. Der Zwischenstand dieser Paarung lag noch nicht vor, der Radiosprecher bat um Verständnis.
Leni tröstete Vater mit Küssen und Worten. Alles vergessen, kann doch jedem mal passieren. Es war ja auch mein Fehler. Du siehst doch tausendmal besser aus als der Curd Jürgens!
Den Namen will ich hier nie mehr hören!, antwortete Vater, fast schon wieder ein wenig bedrohlich. Aber dann zauberte er ein Geschenk nach dem anderen herbei. Zehn rote Rosen. Pralinen, eine Flasche Sekt. Neuen Christbaumschmuck. Und sogar an mich hatte er gedacht, aber nicht an meine Jeans. Er machte mich zum Besitzer eines Schweizer Messers. Stolz, als hätte er es erfunden, demonstrierte er nacheinander die eingebauten Werkzeuge: Klinge, Dosenöffner, Korkenzieher, Schere, Feile, Nagelreiniger und Pinzette. Kaum hatte er mir das Wunderwerk in die Hand gedrückt, sah ich die Gebrauchsspuren. Ein Fundstück. Oder für den Preis eines gebrauchten Taschentuchs gekauft.
Neue Sektgläser hatte der Zauberer nicht im Programm, die waren immer noch Mangelware. Silvester war nicht nur der Weihnachtsbaum aus dem Fenster geflogen.
Leni schmeckte der Sekt auch aus einem Wasserglas. Es dauerte nicht lange, und sie hatte rote Wangen, wurde plapperig. Wie gut es uns gehe, und dass sie noch nie im Leben so schöne Rosen gesehen habe. Sie schaltete die Wohnzimmerleuchte aus, forderte Vater auf, mit ihr zur Radiomusik zu tanzen.
Schatten an den schrägen Wänden des Zimmers. Meine Eltern tanzten eng und verträumt. Vater turtelte, flirtete mit der eigenen Frau. Ich nutzte die Gelegenheit und trank Sekt aus der Flasche. Das machen nur die Beine von Dolores, sang der Sänger. Ich dachte an die langen Beine im Neckermann-Katalog. Vater fasste Leni an den Po. Zischen im Ofen, Poltern und das Geräusch von splitterndem Glas in der Wohnung über uns. Der sonst lautlose Holtschmidt störte kurz die Sonntagsruhe.
Er wohnte seit einem Jahr im Haus, trug meistens eine Aktentasche bei sich und sonst vorwiegend Beige. Er grüßte knapp, wenn überhaupt, und hüllte sich darüber hinaus in Schweigen. Der abgenutzte Motor seines Opels weckte morgens um halb sechs die ganze Straße. Jupp wollte beim Frühschoppen in Addis Pilseck gehört haben, der Mitbewohner sei, was auch immer das war: Chemielaborant. Mehr wusste keiner über ihn. Selbst Grete, die sonst alles rauskriegte, stand vor einem Rätsel. Komischer Heini, wenn der mal kein Spion für den Osten ist.
Der Sekt perlte in meinem Bauch und in meinem Kopf. Erst, als Nachrichten gesendet wurden, hörte die Tanzerei auf. Du wirst von Tag zu Tag jünger und schöner, mein Schatz, sagte Vater und liebäugelte leidenschaftlich. Ich bin verrückt nach dir wie am ersten Tag. Hab dich gar nicht verdient. Überhaupt nicht.
Ich hatte genug von seinem Geschwätz und machte mich auf den Weg zu meinem Grönlandzimmer. Dort gab es keinen Ofen, da blühten die Eisblumen von November bis Ende März.
Moment, sagte Leni, hab ganz vergessen, dir das Geschenk zu geben. Ich muss unbedingt was tun gegen meine Vergesslichkeit. Hab gelesen, Knoblauchpillen sollen gut sein. Aber die schmecken bestimmt eklig.
Geschenk?, sagte ich, und mein Herz schlug etwas höher. Nach dem tollen Schweizer Messer war jede Steigerung möglich.
Leni erzählte vom Einschreiben ihres Bruders Hannes, das gestern angekommen sei. Zuerst habe sie einen Schreck bekommen, denn Einschreiben bedeuteten meist nichts Gutes. Diesmal aber doch!
Mein Onkel hatte es im Leben zu was gebracht. Bestens eingeheiratet, war er Geschäftsmann in Lindau am Bodensee geworden, Damenoberbekleidung. Dringende Angelegenheiten in Österreich und der Schweiz, so Leni weiter, hätten meinen Onkel davon abgehalten, mir rechtzeitig zum Geburtstag zu gratulieren. Und dass er uns alle zu sich in den Süden einlade, nach Bayern, am besten in den Sommerferien.
Dann der Satz der Sätze: Als verspätetes Geburtstagsgeschenk hat er einen Fünfziger für dich beigelegt. Deshalb der eingeschriebene Brief.
Jetzt war mein Herz zur Stelle und zeigte, was es konnte. Das Geld würde ich in eine Blue Jeans und in Christel investieren, da musste ich nicht lange überlegen.
Die beschwipste Leni fuhr mit den Fingern durch Vaters dichtes, zurückgekämmtes Haar. Anscheinend merkte sie nicht, dass es brenzlig wurde. Vaters Gesichtsausdruck hatte sich völlig verändert. Er konnte seinen Schwager nicht ausstehen. Ein Angeber war der für ihn, und die Modebranche so was Ähnliches wie das Puffgewerbe.
Sei nicht wieder böse, Schatz, aber ich würd mir wirklich gern eine Arbeit suchen, sagte Leni, sprunghaft von Bayern zurück nach Nordrhein-Westfalen.
Dann hätten wir bald einen Fernsehapparat und vielleicht ein kleines Auto. Und das mit der Krise in deiner Firma wäre auch nicht so schlimm.
Zack, war die Versöhnungsfeier beendet. Vater stieß Leni mit beiden Händen von seinem Schoß, so heftig, dass sie beinahe hinfiel.
Willst du mich vor allen Leuten lächerlich machen? Sollen die mich für einen Schlappschwanz halten, der seine Familie nicht allein ernähren kann?
Das Radio tat, als wäre nichts geschehen. Es spielte weiter Liebeslieder.
Vater übertönte die Musik mit seinem Geschrei. Gegen die stürmisch gedrückte Türschelle kam er jedoch nicht an.
Herr Welter, Vaters Vorgesetzter in der Fabrik, unfähig und überbezahlt, wie wir wussten, sagte, dass etwas furchtbar schief laufe während der Sonntagsschicht. Vater war Vorarbeiter, Experte, ohne ihn konnten sie einpacken. Er war nicht nur rechte Hand, er war im Gegensatz zu Herrn Welter auch Hirn. Das erzählte er uns nicht selten, Leni strahlte ihn dabei an.
Der Vorgesetzte sprach hektisch von einer üppigen Zulage im Erfolgsfall, während er Leni mit Röntgenaugen verschlang, und dass sein Wagen mit laufendem Motor vor der Haustür stehe. Vater warf sich in Mantel und Schuhe, sagte Jawohl und Jawoll und Herr Welter und Sofort. Und dass er, keine Sorge, die verflixt verrutschte Bohrung schon in den Griff kriegen werde.
Die Sportfreunde Hamborn 07 blieben nach einem überharten Schlagabtausch mit dem SV Sodingen weiterhin in Tuchfühlung mit dem Tabellenkeller, meldete das Radio. Die bisher sportlich forsche Stimme des Sprechers klang bedauernd. Vielleicht kam er aus Hamborn, wo auch immer das war.
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Havenstein heftete sich an meine Fersen, folgte meiner Fährte, um mit Karl May zu sprechen. Er war hinter mir her mit seiner Dankbarkeit, ließ nicht locker. Wenn ich mit einem nicht gesehen werden wollte, war er es. Ich schüttelte ihn ab, und schon war er wieder da.
Inzwischen bereute ich, nach der Sportstunde aufs Klo gegangen zu sein, um eine zu qualmen, statt ihn wie der Rest der Klasse mit gelbem und braunem Schnee zu mästen, ihn anzuspucken und zu vermöbeln.
In meiner Schultasche fand ich ein Buch mit den Fotografien eines Naturforschers. Der hatte seine Aufmerksamkeit nicht der Schönheit des Regenwaldes und der Steppe geschenkt, sondern den dort lebenden unbekleideten Schönheiten.
Havenstein legte nach, diesmal mit Aktstudien aus dem jungen Paris. Die Bücher hatte er bestimmt seinem Vater geklaut. Der verdiente sein Geld mit einer Leihbücherei. Für ein paar Pfennige konnte man sich dort mit Romanen, Zeitschriften, Cowboy- und Soldatenheften eindecken. Leni gehörte auch zur Kundschaft. Manchmal schickte sie mich mit einer Liste los. Angélique – Hochzeit wider Willen. Unbezähmbare Angélique. Oberarzt Doktor Willemsen und Schwesternschülerin Martha – Liebe besiegt jeden Widerstand. Havensteins Vater war unsympathisch überfreundlich. Er hatte eine Glatze wie ein schlecht gerupftes Hähnchen und rauchte stinkende Zigarren.
Als Havenstein mir kurz nach den Pariser Aktstudien mit einem Fotoband namens Däninnen ohne Hüllen und Tabus nachstellte, sagte ich: Lass mich verdammt noch mal in Ruhe! Was willst du eigentlich?
Wir könnten was zusammen machen, antwortete er.
Was zusammen machen? Was denn?
Havenstein dachte nach. Straßenbahnen fuhren hin und her, im Standesamt wurden Ehen geschlossen, nebenan vor Gericht wieder geschieden, es wurde geboren und beerdigt, Tauwetter setzte ein, Weihnachten, eben erst vorbei, rückte näher, auf der Welt brachen dreizehn Kriege aus.
Eine Bank überfallen, sagte Havenstein endlich ohne die Spur eines Lächelns. Oder Jenniges killen, tagelang und qualvoll. Irgendwo im Wald, in einer Höhle. Danach Pip und Tóth. Wir könnten eine astreine Mordserie starten!
Damit vielleicht?, sagte ich und holte das Schweizer Messer aus meiner Jackentasche. Ich war bisher nicht dazu gekommen, es auf den Müll zu werfen oder in den Bach, der sich, verseucht von den Beigaben anliegender Fabriken, mitten durch die Stadt quälte.
Havenstein war übergewichtig und behäbig, ein Plumpsack. Bei der kleinsten Aufregung kriegte er eine rote Birne, das große Zittern und kalte Schwitzen. Er ging jedem Zweikampf aus dem Weg, war eine Witzfigur beim Bockspringen, ein trauriger Clown am Reck. Einen perfekteren Bankräuber und Serienmörder hatte die Welt noch nicht gesehen.
Nicht schlecht, sagte Havenstein und prüfte nacheinander die verschiedenen Funktionen der Schweizer Wunderwaffe.
Kannst du haben, sagte ich gnädig. Ich nehm dann die Däninnen, wenn es unbedingt sein muss. Und ab jetzt lässt du mich in Ruhe, kapiert?
Postkartengroße, gerahmte Schwarzweiß-Fotos von Marilyn Monroe, Kuss- und Schmollmund, hingen hier und da, umspielten den Aufruf Neue Kommunionsanzüge eingetroffen! Nyltesthemden mit kurzem und langem Arm türmten sich bis an die Decke. Neuheit! Gebundene Krawatten mit Gummizug – Kein lästiges Knoten mehr!
Der Inhaber des Ladens trug Bügelfaltenhose, karierte Weste und ein abgenutztes Lächeln. Am Ziel meines Wunsches fühlte ich mich plötzlich ernüchtert, fehl am Platz.
Bei Herrenmoden Kleber hießen Blue Jeans Texashosen. Auch das Wort Nietenhosen fiel ungestraft. Exakt zwei Stück, sagte Herr Kleber missmutig, seien auf Lager. Mehr nicht, die Nachfrage sei zu gering.
Die eine Jeans hätte tadellos einem ausgewachsenen Elefantenbullen gepasst, die andere orientierte sich an den Maßen eines Hungerkünstlers.
Ob ich mich nicht mit einem zeitlos schicken Knickerbocker anfreunden könnte?, fragte Kleber. Äußerst kleidsam! Er hantierte mit einem Maßband herum, bereit, mich in einen modisch unterbelichteten Assistenten von Nick Knatterton zu verwandeln. Ich trat einen Schritt zurück.
Und weiße T-Shirts?
Kleber musste nachdenken, was ihm sichtlich wenig Vergnügen bereitete.
Meinst du vielleicht – Unterhemden? Die führe er in jeder Größe, doch nur gerippt. Ich wollte aber ein T-Shirt wie Marlon Brando, ohne Fein- oder Doppelripp.
Die Ladenglocke schrillte, ein junges Paar trat streitend ein. Klebers Mitarbeiterin, Ton in Ton und Dutt, kam hinter einem Vorhang hervor und bot ihre Dienste an.
Mein Mann braucht ein neues Hemd, sagte die Frau. Am besten ein Nyltesthemd. Die sind doch bügelfrei, oder?
Ich brauch kein neues Hemd, sagte der Mann gereizt.
Braucht er doch!, sagte die Frau.
Absolut bügelfrei, sagte die Verkäuferin und wies auf die aktuelle Sonderaktion hin. Beim Kauf von vier Nyltesthemden kriegte man ein fünftes geschenkt.
Ich ging mit der Jeans für Klappergestelle in die Umkleidekabine. Der Einstieg in die Hose gelang, das Hochziehen bis zur Hüfte mit Anstrengung auch, aber dann war Endstation. Ich konnte die Luft anhalten, den Bauch einziehen soviel ich wollte, ich kriegte die Hose nicht zu. Sie war mindestens zwei Nummern zu eng.
Ich nehm sie, sagte ich.
Der Ladeninhaber reagierte nicht. Er hörte angestrengt dem Mann zu, der kein Kunde sein wollte.
Nyltest fühlt sich an wie Plastik, sagte der. Und es knistert so abscheulich. Und wenn man schwitzt, klebt das scheiß Zeug fest –
Wann schwitzt du denn schon mal?, antwortete seine Frau. Du hast die Arbeit bestimmt nicht erfunden!
Kleber mischte sich ein.
Hand aufs Herz, mein Herr! Bügeln Sie oder bügelt Ihre Frau Gemahlin?
Halts Maul, Hosenscheißer, sonst bügel ich dir eine rein, sagte der Mann und trat einen Berg aus preisgünstigen Nyltesthemden um. Die Verkäuferin kreischte, der Ladeninhaber gab mit Gebrüll bekannt, im Krieg eine Ausbildung im Nahkampf absolviert zu haben. Mit Auszeichnung! Red kein Blech, antwortete der Nyltestverächter. Komm doch, du Würstchen!
Seine nyltestbesessene Frau wechselte die Seiten, lief zu ihm über. Sie machte Wind mit ihrer Handtasche, schrie: Ja, komm doch!
Die Verkäuferin griff zu einem Brieföffner und hielt ihn wie eine Stichwaffe. Herr Kleber versuchte schnaufend, verschiedene Griff- und Tret-Techniken an den Mann zu bringen. Nach den Nyltesthemden gerieten nun auch sauber gestapelte Winterpullover in Unordnung. Mühelos und unbemerkt hätte ich die halbe Bude ausräumen können, aber die Versuchung war keine für mich. Nur für die Jeans konnte ich mich erwärmen. Ohne dass mein Fünfziger Schaden nahm, machte ich mich aus dem Staub.
Am nächsten Morgen waren zwei Polizisten da. Einer baute sich vor der Tür des Klassenzimmers auf, um den Fluchtweg zu versperren. Er stemmte die Hände in die Hüften und warf böse Blicke, als säßen besonders schwere Jungs vor ihm. Der zweite Beamte, offenbar der Einsatzleiter, flüsterte resolut auf den Mathelehrer ein.
In der Klasse war es still wie auf Tauchstation. Und das alles wegen einer Hose, die so knalleng war, dass sie mir nie im Leben passen würde. Bei Vater würden garantiert sämtliche Sicherungen durchbrennen, wenn er erfuhr, was ich verbrochen hatte, und Leni hörte ich schon sagen: Ich bin nicht mehr deine Mutter.
Neben mir kratzte sich Havenstein seinen gerade verheilten Pickel wieder blutig. Vielleicht hatte er sich auch bei Kleber oder anderswo bedient.
Meine Zunge fühlte sich an wie Schmirgelpapier. Wenn man sich rechtzeitig stellte, konnte sich das strafmindernd auswirken, hatte ich gehört. Doch bevor ich geständig den Arm heben konnte, informierte uns der Einsatzleiter, unsere Jacken und Mäntel auf dem Flur seien bereits durchsucht, jetzt sollten alle ihre Schultasche geöffnet vor sich auf die Bank stellen, um die Maßnahme zu erleichtern. Auch die Hosentaschen würden einer Kontrolle unterzogen. Wer nicht kooperiere, mache sich verdächtig und werde sofort inhaftiert. Alle aufstehen!
An der Decke fing eine Lampe nervös an zu flackern. Allmählich wurde es draußen hell. Der Mathelehrer saß mit gefalteten Händen hinter seinem Pult. Er schien nicht mehr damit zu rechnen, eine Antwort auf die Frage zu erhalten, ob der Graph der gegebenen Funktion symmetrisch sei. Ich hätte gern eine Antwort auf die Frage gehabt, wie man eine Jeans in der Hosentasche verstecken konnte, selbst wenn es sich um so ein schmächtiges Exemplar handelte, wie ich es erbeutet hatte. Und wo war Kleber, zwecks Identifizierung des Täters? Er brauchte doch bloß mit dem Finger auf mich zeigen und schon war Schluss mit der Razzia, der Staatsaktion.
Statt des Belastungszeugen tauchte Jenniges auf. Er war Havensteins Mordserie also noch nicht zum Opfer gefallen. Der Oberstudienrat lebte, auch wenn er aussah, als würde er jeden Moment abkratzen. Mit offenem, schneebedecktem Mantel, die Haare wirr, eilte er fahrig von hier nach da, mit Augen, denen anscheinend alles Grauen, das die Welt zu bieten hatte, eben erst begegnet war.
Die Polizisten merkten kurz auf, gingen dann aber weiter ihrer Arbeit nach, von der Jenniges nicht viel zu halten schien. Er ermittelte auf eigene Faust. Dabei setzte er eine seiner Spezialmethoden ein: das wortlose Augenverhör. Auge in Auge mit dem Oberstudienrat, galt man nach der Spielregel als überführt, geständig, zur Strecke gebracht, sobald man seinem starren Blick auswich.
Mit Havenstein gab er sich nicht lange ab, er entließ ihn nach kurzem Fixieren. Ihm traute er keine Tat zu, schon gar keine Untat. Mir wohl umso mehr. Um zusätzlichen Druck auszuüben, kam Jenniges mir fast hautnah. Ich konnte seinen Pfeifenraucheratem riechen, sein Aftershave, vor allem die Ausdünstungen seiner grenzenlosen Wut.
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Jupp rang in der Wohnung unter uns panisch nach Luft. Nicht nur seine Erstickungsanfälle, auch andere Krankheitsgeschichten hatten sich während der Kur verschlimmert. Ich sterb jetzt ganz gemütlich vor mich hin, hatte er bei seiner Heimkehr gesagt und dabei gelächelt. Weihnachten könnt ihr ohne mich feiern. Da riefen alle, er sei bekloppt, hundert Jahre werde er alt, wenn nicht mehr.
Im Wohnzimmer brannte Feuer im Ofen, obwohl kein Sonntag war. Ich hatte es angezündet. Vater hatte Spätschicht, Leni auch. Sie arbeitete seit einer Woche als Wirtschafterin bei Frau von Königsdorff. Die hatte in jedem Zimmer einen Fernsehapparat, sogar im Bad. Das war so groß wie unsere ganze Wohnung.
Und Herr von Königsdorff?, hatte Vater misstrauisch gefragt. Hat der dir jedes Zimmer gezeigt? Auch das Schlafzimmer?
Als Oberstleutnant der Luftwaffe über London abgeschossen, antwortete Leni. Frau von Königsdorff ist Kriegerwitwe.
Friede seiner Asche, sagte Vater und hatte auf einmal gute Laune.
Als ich Christel an der Bushaltestelle den Schein zeigte, drehte sie den von rechts nach links, als hätte sie noch nie einen Fünfziger gesehen. Fehlte nur noch, dass sie das Kleingedruckte las, die Androhung von langjähriger Haftstrafe bei Fälschung.
Hast du den geklaut?, fragte sie.
Hast du heute Abend Zeit?, fragte ich zurück.
Leni hatte Reisbrei gekocht, dazu Sauerkirschen eingedickt. Wenn ich jemals in meine Blue Jeans passen wollte, musste ich verzichten lernen.
Ich duftete frischrasiert, die Zähne glänzten. Aber meine Hände waren kalt vor Nervosität. Ich wärmte sie dicht über dem Ofen. Um mir die Wartezeit zu vertreiben, schaltete ich das Radio ein. Bundespräsident Heinrich Lübke ist mit seiner Frau Wilhelmine zu einem zwölftägigen offiziellen Besuch in Westberlin eingetroffen. Zum Wintersport: Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler, die deutschen Meister im Paarlaufen, werden heute in Garmisch-Partenkirchen –
Es klopfte.
Unter uns hustete sich Jupp um den Verstand. Grete sei beim Fernsehabend, sagte Christel. Über uns gab Holtschmidt eines seiner seltenen Lebenszeichen von sich: er räusperte sich.
Ich hab ne nagelneue Blue Jeans. Willst du die mal sehen? Nö.
Christel hatte Lippenstift benutzt und auch was Aufregendes mit ihren Augen angestellt. Sie trug die Haare diesmal lose. Und sie war einverstanden. Aber vorher musste ich auf Gott schwören.
Ich schwöre, sagte ich.
Christel bestand darauf, dass ich das Kreuz von der Wand nahm, den Jesus aus Metall anfasste und dabei sagte: Ich schwöre bei Gott, dass ich ihn rausziehe, bevor es zu spät ist.
Wenn du deinen Schwur brichst, landest du in der Hölle, in der ewigen Verdammnis, sagte Christel und legte sich Probe aufs Sofa. Bei unserem funktionierten die Sprungfedern tadellos. Jupp hustete, bellte, röchelte.
Nivea, sagte Christel.
Wie, Nivea?
Mein Gott, ich muss ihn eincremen. Wegen dem besseren Gleiten.
Ich ließ mich gern eincremen.
Christel zog sich nicht vor meinen Augen aus, sondern in der Küche. Damit sie sich nicht erkältete, legte ich Briketts nach. Noch hatte ich, soviel ich wusste, keinen Meineid geschworen, war frei von Todsünde.
Dr. Blatz hatte uns in der vergangenen Woche aufgeklärt. Vögeln nannte er Fortpflanzung. Nach einer Viertelstunde war das Thema für ihn erledigt gewesen. Er fragte uns, ob wir noch Fragen hätten. Wir hatten keine, ich sowieso nicht.
Von Blatz ging keine Gefahr aus. Er war kein Kandidat für eine Racheliste, sondern unser Vertrauenslehrer. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich einem Lehrer anzuvertrauen, aber wenn, dann Blatz. Er hatte schüttere weiße Haare, immer ein tiefrotes Gesicht, und er war der einzige Lehrer, der uns mit Vornamen ansprach. Er rief nur die auf, die aufzeigten. Wer schlafen wollte, konnte das ungestört tun, mit einer Fünf oder Sechs wurde er trotzdem nicht bestraft.
Im Biologiesaal roch es wie in einer Kneipe. Blatz rauchte während einer Unterrichtsstunde drei bis vier Zigaretten. Die Glasscheiben des Schranks mit den ausgestopften Tieren und den getrockneten Pflanzen waren braun von Nikotin, das Anatomie-Skelett, das sich krampfhaft am Schrank festhielt, litt ebenfalls unter Verfärbung. Als ich mir auch mal eine anstecken wollte, unterband der Lehrer dies in ungewohnt scharfem Ton.
Am Morgen dieses nebligen Tags Ende Januar saß er wie gewohnt auf seinem Pult und ließ die Beine baumeln. Seine Socken waren zu kurz für diese Sitzhaltung, Kniestrümpfe wären vorteilhafter gewesen. Die dünnen Waden hatten sich der sonstigen Überfettung widersetzt. Nachdem er seine Brille mit einem großen Stofftaschentuch geputzt und sich der Nähe des Aschenbechers vergewissert hatte, führte er uns in die Grundlagen der Vererbungslehre ein.
Wenn jemand ein weißes und ein schwarzes Elternteil hat, sagte er, nennt man ihn einen Mulatten. Dieser Mischling übernimmt alle schlechten Eigenschaften sowohl des weißen als auch des schwarzen Elternteils. Spätestens im frühen Erwachsenenalter werden Mulatten kriminell und zu einer großen Gefahr für die Gesellschaft. Das sind wissenschaftliche Fakten, meine Herren, die auf jahrzehntelangen, seriösen Studien beruhen. Daher muss eine Vermischung der Rassen unbedingt verhindert werden.
Und Mestizen?, fragte jemand. Sind die auch gefährlich?
Ohne anzuklopfen stürmte der Direktor in Begleitung von zwei Polizisten in den Saal. Es waren andere als die, die unsere Sachen durchwühlt und uns abgetastet hatten. Der Schüler Havenstein wurde aufgefordert, alles stehen und liegen zu lassen und mitzukommen.
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