Kitabı oku: «Gier auf der Waagschale», sayfa 2

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„Franz-Josef. Für meine Freunde Franz, keine anderen Spitznamen.“

Sie lächelte. „Verstehe. Franz, ich möchte ja wirklich nicht unhöflich sein, aber Eva und ich werden zuhause erwartet, wir müssen weiter.“

Er nickte. „Selbstverständlich, wir sehen uns dann im Hörsaal.“

Sie schüttelte den Kopf und lachte. „Ach nein, ich studiere ja gar nicht Rechtswissenschaften. Ich habe nur eine Freundin in der Vorlesung besucht, eigentlich studiere ich Musik. Du und dein Hut sind mir aber im Hörsaal gleich aufgefallen, da habe ich nach dir gefragt. Bei einer Vorlesung sehen wir uns also nicht. Aber ich habe einen Vorschlag, wie wäre es, wenn du zu einer meiner Proben kommst?“

Franz-Josef stand da, wie versteinert. „Ja, warum denn nicht? Wenn ich die Zeit finde, gerne.“

Sie nickte, holte einen Notizblock aus ihrer Handtasche, schrieb Datum und Uhrzeit ihrer nächsten drei Proben auf einen Zettel und drückte ihn Franz-Josef in die Hand.

„Sehr fein. Bis dann, Franz!“

Die folgenden Wochen verbrachte er wie im Delirium. Noch nie hatte er etwas oder jemanden so begehrt, wie er Marianne von Hegelsmark begehrte. Nachdem er sie zum ersten Mal bei ihrer Violinprobe besucht hatte, war er gleich zu den beiden anderen Terminen auch erschienen. Sie verstanden sich, was für ihn an ein Wunder grenzte. Jegliche Interaktion mit gleichaltrigen Frauen war in seinem jungen Leben bis jetzt im besten Fall nervtötend gewesen, im schlimmsten Fall katastrophal. Andere Studentinnen hielten ihn für einen Snob und Angeber, weil er stets versuchte, im Gespräch über Inhalte und Herausforderungen des Studiums seine Überlegenheit und Kenntnis der Materie durchblicken zu lassen. Dabei war er einfach stolz auf sein Fachwissen. Marianne verstand ihn. Seine erste Einschätzung war vollkommen falsch gewesen. Trotz ihrer neunzehn Jahre war Marianne äußerst gebildet und zudem auch interessiert an den feineren Dingen im Leben. Sie spielte nicht nur die Violine, sie sang auch in einem Chor und ging regelmäßig ins Theater. Das konnte auch mit ihrer Herkunft zu tun haben, immerhin war ihre Familie ehemaliger Hochadel. Aus ihren Erzählungen wusste er, dass ihre erweiterte Verwandtschaft ein kleines Chateau in Deutschland besaß. Es war, als wäre die perfekte Heiratskandidatin für Franz-Josef vom Himmel gefallen. Nach seinen Besuchen trafen sie sich öfters zum Kaffee und schon bald wurden sie vertrauter. Sie unterhielten sich über Kunst und Recht, wobei Marianne ihm einerseits aufmerksam zuhörte, andererseits auch selbst interessante Punkte hervorbrachte. Sie hatte makelloses Benehmen, mit dieser Frau zu einer Theatervorstellung zu gehen, war für ihn ein Genuss. Dass sie ihn einst bei einer Vorlesung genervt hatte, hatte Franz schon längst vergessen. Er hatte das Gefühl, dass sich zwischen ihnen eine Romanze anbahnte, und er konnte es kaum erwarten. Da er den anderen Frauen, die ihn wenigstens auf körperlicher Ebene interessiert hätten, entweder zu ältlich oder zu steif, zu wenig flott oder zu gespreizt war, hatte er bisher noch nicht einmal ein kleines Abenteuer für sich verbuchen können. Er war mittlerweile zwanzig Jahre alt und war nicht nur Jungfrau, er war mit einer Frau noch nie intim geworden. Im Spätsommer 1964 präsentierte sich ihm endlich eine Chance. Marianne lud ihn ein, während der Ferien für ein Wochenende mit ihm in ein Sommerhaus ihrer Familie in Salzburg zu fahren. Franz-Josef konnte sein Glück kaum fassen. Lediglich wie er den Kurzurlaub seiner Mutter erklären sollte, bereitete ihm zunächst Kopfzerbrechen. Seine Mutter hatte sich ihm gegenüber in den letzten Wochen ohnehin ungewöhnlich argwöhnisch verhalten. Er hatte das Gefühl, sie wusste von Marianne. Dabei hatte er ihr nie etwas erzählt. Das Thema Frauen war das einzige, das zwischen Franz-Josef und seiner Mutter immer tabu gewesen war, und daran hielt sie sich zum Glück. Nun musste er ihr aber irgendeine Geschichte auftischen, er konnte ja schlecht einfach verschwinden. Letztendlich nahm er die erstbeste Geschichte, die ihm einfiel.

„Ein Seminar für Hochbegabte eures Jahrgangs?“

Für einen kurzen Moment glaubte Franz-Josef, in den Augen seiner Mutter unverhohlene Skepsis zu erkennen. Kaum hatte er diesen Gedanken gefasst, war ihr Gesichtsausdruck schon wieder weicher geworden.

Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und lächelte. „Gut. Ich bin stolz auf dich.“

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:

„Vergiss nicht, wo du herkommst. Vergiss nicht, wer du bist. Du bist Franz-Josef Freisinn von Wartenau.“

Sie sah ihm eindringlich in die Augen. Er verstand damals nicht, warum Mama ihn gerade in diesem Moment so nachdrücklich an seine Herkunft erinnerte.

Das gemeinsame Wochenende stand unter keinem besonders guten Stern. Auf der Zugfahrt mit der alten Westbahn hatten sich Franz-Josef und Marianne bester Aussicht erfreut, inklusive blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein. Sie hatten den Mittagszug genommen, damit Marianne noch Gelegenheit hatte, ihm die Salzburger Innenstadt am Nachmittag ein wenig zu zeigen. Nach der Ankunft hatten sie nur kurz das Gepäck im Haus ihrer Eltern am Stadtrand abgeliefert und waren dann sofort aufgebrochen. Nach einem langen Spaziergang und einer guten Mehlspeise auf der Terrasse des Café Tomaselli kehrten sie am Abend endlich zurück. Die Sommerbleibe von Mariannes Eltern war durchaus imposant. In dem zweistöckigen Haus gab es genug Betten für sechs Personen, im zweiten Stock blickte man von einem ausladenden Balkon auf die Salzach. Es gab keine anderen Häuser in unmittelbarer Nähe. Die Inneneinrichtung ließ darauf schließen, dass Mariannes Vater entweder leidenschaftlicher Jäger oder zumindest Jagdtrophäen gegenüber nicht abgeneigt war. Allerlei Tierschädel zierten die Wände, unterbrochen nur von wuchtig gerahmten Ölmalereien. All das interessierte Franz-Josef an diesem Abend aber nicht sonderlich. Er hörte Marianne nur mit einem Ohr zu, als sie ihm den Unterschied zwischen Gamskrucke und Hirschgeweih erklärte und ihm erzählte, welche Maler welches Bild zu verantworten hatten. Er konnte sich schon kaum mehr im Zaum halten, so wild machte ihn dieser kleine Engel. Er empfand ihre ausschweifenden Erklärungen als kokett, war er sich doch sicher, dass sie genauso wie er mit einem Auge schon Richtung Bett schielte. Doch Marianne hörte nicht auf, mit ihm über dies und das zu plaudern und Smalltalk zu führen. So richtig näher kam sie ihm den ganzen Abend lang nicht. Am Ende des Abends saßen sie gemeinsam auf dem Balkon und genossen einen Moment die Stille. Marianne seufzte.

„Ach, Franz, ich freu mich so, dass du mitgekommen bist. Es ist alleine tageweise auch schön hier, man kann sich von dem ganzen Trubel in der Großstadt erholen. Aber zu zweit ist es eben noch schöner“, sagt sie mit einem Lächeln.

Sie saß so nah neben ihm, dass er ihr Parfum riechen konnte. Es roch süßlich und ein wenig fruchtig. Er wollte nach ihrer Hand greifen, aber da war sie schon aufgestanden.

„Es ist spät, ich werde mich hinlegen. Wenn du noch wach bleiben möchtest, sieh bitte zu, dass alles verschlossen ist, ja?“

Franz-Josef schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin auch müde. Ich komme mit.“

Er folgte ihr bis zu ihrem Zimmer.

„Gute Nacht, Franz“, sagte sie und wollte die Türe schließen.

Doch Franz hatte seinen Arm im Weg. Jetzt musste er die Initiative ergreifen, Mut beweisen. Er legte seinen linken Arm auf ihre Hüfte, wollte sie sanft zu sich ziehen und erschrak.

Sie bewegte sich nicht. „Franz, was machst du da?“

Er zog stärker. „Das weißt du doch selbst. Ich mache das, worüber wir beide schon den ganzen Tag nachdenken.“

Sie nahm seine Hand von ihrer Hüfte. Die Enttäuschung traf ihn wie der Rückstoß eines Artilleriegeschützes mitten in die Magengrube. Er musste einen dementsprechenden Gesichtsausdruck aufgesetzt haben, denn Marianne konnte sich ein kurzes Kichern nicht verkneifen.

„Ach Franz, sei nicht albern. Du hast mich wohl missverstanden. Ich wollte dir keine Hoffnungen machen, das tut mir leid. Aber ich bin nicht an dir interessiert, nicht auf diese Weise. Du bist ein guter Freund, aber du und ich, das würde doch sowieso nie funktionieren.“

Er hörte ihre Worte nur mehr gedämpft. In seinem Kopf hallte ihr Kichern nach und langsam wich die Enttäuschung einer unglaublichen Wut. Sie hatte ihn an der Nase herumgeführt. Dieses Flittchen, sie hatte ihn die ganze Zeit heiß gemacht und jetzt wollte sie sich davonstehlen, als wäre das alles nur ein Spiel gewesen. Hatte sie wirklich gedacht, einen Freisinn von Wartenau konnte man so behandeln? Er packte ihre Hüfte erneut, und diesmal drückte er fest zu. Franz-Josef mochte körperlich nicht gerade ein Vorzeige-Exemplar darstellen, aber mit einem niederträchtigen, neunzehnjährigen Mädchen konnte er es noch aufnehmen. Bevor sie protestieren konnte, presste er seine Lippen auf ihren Mund und begann sie unbeholfen zu küssen. Es gelang Marianne erst nach ein paar Sekunden, ihn von sich zu stemmen.

Ihre Stimme war jetzt schrill und panisch. „Spinnst du? Hör sofort damit auf!“

Er nahm sie grob bei den Armen und brachte sie unter großer Gegenwehr bis zum Bett, das in der Ecke des Zimmers stand. Dann warf er sie auf die Laken, wobei er sich in ihrer Bluse verhedderte, sie vollkommen aufriss.

„Was bildest du dir ein? Was denkst du, wer du bist?“, schrie sie ihn aus voller Kehle an und richtete sich halb auf dem Bett auf.

Dieses Weib wollte sich ihm verwehren, ihm!

„Eingebildete Göre! Sei still!“, brüllte er und schlug ihr derart mit dem Handrücken ins Gesicht, dass sie zurückfiel. Dann war es totenstill. Marianne kauerte mit zerrissener Bluse im Eck des Bettes und hielt sich die Wange. In ihren Augen konnte Franz pure Verachtung sehen.

Ihre Stimme war jetzt wieder ruhiger geworden. „Du gibst dich als edler Mann, in Wahrheit bist du nichts als ein großes Schwein.“

Einige Atemzüge lang stand er schnaufend da, während seine Gedanken rasten. Dann stürmte er aus dem Zimmer, holte seinen Koffer und verließ das Haus.

„Sehr fesch bist du“, flüsterte seine Mutter ihm zu, als sie im Herbst 1966 Arm in Arm den Festsaal der Universität verließen.

Es war soweit, nach nur acht Semestern war Franz-Josef Freisinn-Wartenau als erster seines Jahrgangs zum Doctor iuris promoviert worden. In seiner Hand hielt er die rote Kartonhülle, in der die auf Büttenpapier geschriebene Promotionsurkunde steckte. Zur Feier des Tages gingen sie ins Hotel Regina essen, wo sich Franz-Josef im Anschluss zum ersten Mal vor seiner Mutter eine Zigarre anzündete.

„Wie geht es jetzt weiter mit dir, mein Sohnemann? Du hast dir doch Gedanken darüber gemacht?“

Er sog genüsslich an seiner kubanischen Romeo y Julieta und ließ den Rauch nachdenklich in den Raum aufsteigen.

„Ich könnte versuchen, eine Stelle im Ministerium zu bekommen.“

Seine Mutter schmatzte abfällig. „Das ist nichts für dich, dort wimmelt es von Nichtsnutzen und anderweitig nicht verwendbaren Leuten.“

Im Grunde wusste er ohnehin, wohin er wollte. Er wollte Richter werden, allein schon wegen der Symbolik des Amtes. Der erhöhte Sitz hinter dem Richtertisch auf der Empore würde ihn sichtlich zur Hauptperson im Saal erheben. Die Amtstracht mit Talar und Barett würde ihn als Herren des Verfahrens ausweisen. Er würde sich nicht wie in der Privatwirtschaft vom Markt, oder noch schlimmer, von etwaigen Kunden beeinflussen und herumordern lassen müssen, nein, er hätte immer das letzte Wort. Der Titel, das Prestige, die Entscheidungsmacht. Das Richteramt war wie gemacht für ihn.

– III –
DAS RICHTERAMT

Nach einem langen Arbeitstag stand er in seinem Büro im Landesgericht für Zivilrechtssachen vor dem Fenster und sah zufrieden hinunter auf die Straße. Es war ein schöner Tag, die Nachmittagssonne spiegelte sich in den Fenstern der vorbeifahrenden Straßenbahn. Er fand den Ausblick herrlich, es gefiel ihm, dass er unter sich das geschäftige Treiben auf der Zweierlinie beobachten konnte, während er nachdachte. An Tagen wie diesen war er stolz darauf, eines der bestgelegenen Büros im Justizpalast zugeteilt bekommen zu haben. Alles andere hätte er auch als Beleidigung empfunden. Er musste an die Zeit nach seinem Studium denken. Nach dem Abschluss hatte er das obligate Gerichtsjahr am Wiener Handelsgericht absolviert, ohne dass er ein einziges Mal getadelt oder zurechtgewiesen worden wäre. Im Gegenteil, er hatte sogar noch eine Empfehlung mit auf den Weg bekommen, als er sich für das Richteramt am Wiener Landesgericht für Zivilrechtssachen beworben hatte. Damals hatte er noch kein eigenes Büro gehabt, noch nicht einmal ein Auto hatte er sich leisten können. Nach einem Jahr der Anwartschaft hatte er die Richteramtsprüfung mit Bravour bestanden. Er musste lächeln, als er sich daran erinnerte. Wie stolz war doch seine Mutter gewesen, als er am Tag seines Dienstantritts mit ihr zwischen den steinernen Löwen die Stufen hinaufging. Nach seiner Ernennung hatte er sich in Juristenkreisen schnell einen Namen gemacht. Er war nicht, wie die meisten Zivilrichter, auf den möglichst unkomplizierten und raschen Abschluss von Vergleichen zwischen streitenden Parteien aus. Nein, er verhandelte jeden Rechtsstreit weise und erhaben. Der Weg des geringsten Widerstandes war ihm zuwider. Er legte besonderen Wert darauf, seinen scharfen Verstand durch unanfechtbare Urteile unter Beweis zu stellen. Kein einziges seiner Urteile war seit seinem Amtsantritt 1971 durch Revision abgeändert worden. Wenn ihm in Vorbereitung auf einen Prozess eine besonders verzwickte Ausgangssituation auffiel, genoss er es. Er war immer der am besten vorbereitete Jurist im Saal, und das sprach sich herum. Die Verhandlungsführung hatte er stets fest in der Hand, die Zügel kamen ihm niemals aus. Selbst alte, erfahrene Anwälte konnten ihn mit ihrer Rechtskunde und ihren Argumentationskünsten nicht beeindrucken. Bei Gericht bekam er endlich den Respekt, den er verdiente. Er ging zurück zum Tisch und überprüfte noch einmal seinen Verhandlungskalender. Es stand nichts besonders Aufregendes an, abgesehen von einem Eintrag. In drei Tagen sollte er einer Teilungsklage vorsitzen. Er rieb sich die Hände. Immobilienrecht hatte ihn schon auf dem Handelsgericht besonders interessiert. Bei Wohnungen und Liegenschaften stand für die beteiligten Parteien immer viel auf dem Spiel, und er durfte letztendlich bei diesen Streitereien das Urteil fällen. Bis dahin waren noch ein paar Tage Zeit, und er wollte mit einem klaren Kopf in diese Verhandlung gehen. Vielleicht sollte er heute Abend kurz im Josefine vorbeischauen. Bei der Erinnerung an seinen ersten, missglückten Versuch, das feine Etablissement zu besuchen, musste er den Kopf schütteln. Was war er doch damals für ein Tollpatsch gewesen. Als er zum zweiten Mal abends in die Sonnenfelsgasse gegangen war, war er entschlossener gewesen. Kurz vor Ende des Studiums hatte er sich dort seiner Jungfräulichkeit entledigt. Die tüchtigen jungen Damen in dem diskreten Lokal hatten ihm gleich gefallen, und so war er seitdem schon rund ein Dutzend Mal in das kleine Puff gegangen. Heute war es wieder einmal soweit, beschloss er. Er klappte den Kalender zu und sammelte Aktentasche, Mantel und Hut zusammen. Da hörte er auf dem Gang vor seinem Büro gedämpftes Gelächter. Mit einer hochgezogenen Augenbraue trat er vor die Tür. Auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges kicherte eine junge Schreibkraft, neben ihr stand ein junger Mann, den Franz schon einige Male im Justizpalast gesehen hatte, und deutete den Gang hinunter. Dort schlurfte ein alter Anwalt durch den Flur, der nach einem Gang auf die Toilette offensichtlich vergessen hatte, seine Hosenträger wieder ordentlich zu befestigen. Sie hingen unter dem Oberteil des Nadelstreifanzugs herab und schleiften wie eine Schleppe hinter der schlotternden Hose des Mannes her. Franz hatte den Mann schon einmal gesehen, wie er in beginnender dementieller Umnachtung durch die langen Flure des Justizpalastes wankte. Er hatte sofort bei einer Sekretärin nachgefragt, was es denn mit dem komischen Vogel auf sich hatte. Wegen seiner Erinnerungslücken hatte der Witwer schon vor Längerem seine Kanzlei schließen müssen, irrte aber immer noch mindestens zweimal wöchentlich durch das Gericht, wo er alte Bekannte in langwierige Gespräche zu verwickeln trachtete. Früher oder später landete er immer im Justizcafé, wo man über ihn schmunzelte und ihn als unvermeidliche Nervensäge ertrug. Franz war noch nie von ihm angesprochen worden, aber die Sekretärin hatte ihm erzählt, dass die Anwälte hinter seinem Rücken Witze über ihn machten und junge Kollegen manchmal sogar Richter aus ihren Büros klopften, um sich gemeinsam über den Mann lustig zu machen.

Franz ging zu dem jungen Paar hinüber. Der junge Anzugträger war klein und hager. Nicht nur vom Aussehen, auch vom Benehmen her verhielt er sich wie ein Erdmännchen, als Franz vor ihm stand. Er hörte augenblicklich auf zu lachen und sah sich nervös um.

„Ich möchte die lustige Runde ja nur ungern stören, aber wer ist denn der alte Herr?“, fragte Franz ungehalten.

Die junge Dame sah betreten zu Boden.

Das Erdmännchen räusperte sich nervös. „Verzeihen Sie, Herr Dr. Freisinn-Wartenau, es ist nur, ich meine, der Herr Dr. Rinzweiler benimmt sich immer so daneben. Da kann man doch gar nicht anders, als zu lachen.“

Franz musterte ihn abfällig. „Doch, da kann man anders“, sagte er trocken.

Damit machte er kehrt und ging zurück in sein Büro. Der Arbeitstag war wohl doch noch nicht vorbei. Mit diesem peinlichen, unwürdigen Schauspiel würde er ein für alle Mal Schluss machen. Innerhalb weniger Minuten hatte er einen vorläufigen Gerichtsbeschluss aufgesetzt, in dem er von Amts wegen die Entmündigung des alten Dr. Rinzweiler verfügte. Außerdem trug er dem bestellten Sachwalter auf, das Betreten des Justizpalastes durch Herrn Dr. Rinzweiler auf alle Fälle zu unterbinden. Er begründete den Beschluss mit Selbstgefährdung aufgrund offensichtlicher Desorientierung des Betroffenen sowie Gefährdung des öffentlichen Ansehens der Justiz durch offensichtlich dementielles Fehlverhalten. Als er das Schriftstück verfasst hatte, schnalzte er zufrieden mit der Zunge und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Auch wenn niemand anderer die Würde dieses Hauses verteidigen wollte, Franz würde schon darauf achten, dass es hier anständig und professionell zuging. Sollten sich seine Kollegen denken, was sie wollten, wenigstens unternahm er etwas. Wie schon während seiner Studentenzeit war Franz als Eigenbrötler bekannt, das war ihm bewusst. Er hatte keine Freundschaften geschlossen und trat gegenüber seinen in der Sache offensichtlich unterlegenen Kollegen hochmütig und überheblich auf. Er lebte in seiner eigenen Blase, aus der heraus er jederzeit kleine Anzüglichkeiten und verbale Giftpfeile auf seine inkompetenten Kollegen abschießen konnte. Seinen Argumenten zu widersprechen, traute sich niemand. Warum auch? Intellektuell konnte ihm ohnehin niemand das Wasser reichen.

„Ein brillanter Jurist, dieser Freisinn-Wartenau. Aber kein angenehmer Mensch. Schon gar kein guter Kollege“, sagte man über ihn. Auch das hatte er von einer Sekretärin erfahren, als er sie einmal beim Tratschen erwischt hatte.

„Grausam“, nannten sie ihn, „herzlos.“

Für Franz war es zur Gewohnheit geworden, von anderen Menschen missverstanden und falsch eingeschätzt zu werden. Vermutlich lag es daran, dass er kein Interesse daran hatte, sich mit diesen geistig minderbemittelten Seelen auseinanderzusetzen. Es sei denn, er hatte über sie zu urteilen. Im Justizcafé auf dem Dach des Hauses benützte er die ekelhaft ungedeckten Tische nie, an denen sich Krethi und Plethi des Justizpersonals in Arbeitspausen aufhielten. Das meist inhaltlose Geplänkel dieser Leute interessierte ihn nicht. Schon gar nicht stellte er sich mittags in der Schlange für die Ausgabe des Tagesmenüs an. Selbstbedienung war unter seiner Würde, sollten sich doch die Arbeiterkinder und Menschen aus dem niederen Volk wie die Tiere in einer Reihe aufstellen, um gefüttert zu werden. Wenn er hin und wieder im Justizcafé speiste, bestellte er im Voraus einen der fünf weißgedeckten Tische, die mit ordentlichen Stoffservietten und schönem Essbesteck versehen waren. So, wie es sich eben für einen soignierten Richter gehörte. Dass seine Arbeitskollegen, so wie damals seine Studienkollegen, ihn scheinbar für einen eitlen Snob hielten, kränkte ihn als Richter insgeheim mehr als es ihn als junger Student gekränkt hatte. Damals hatte er gedacht, zumindest einige der jungen, ungehobelten Männer würden schon noch zu sich finden. Jetzt, wo er bald dreißig Jahre alt wurde, war er im Stillen immer wieder davon enttäuscht, wie banal doch die Menschen waren. Immerhin brachten ihm die meisten seiner Kollegen Respekt und Achtung entgegen. Wer brauchte schon Liebe und Zuwendung? Das konnte er sich im Josefine besorgen, wenn es ihn danach juckte. Und genau dorthin würde er jetzt fahren. Er sammelte zum zweiten Mal seine Sachen zusammen und verließ sein Büro. Als er rund drei Stunden später Zuhause ankam, erzählte er seiner Mutter mit stolzgeschwellter Brust davon, wie elegant er das hohe Haus von dieser alten, vertrottelten Nervensäge befreit hatte.

Am nächsten Tag fuhr Franz-Josef erholt und guter Laune in seinem Peugeot 403 vor dem Gerichtsgebäude vor. Er hatte sich vorgenommen, sich gut auf die anstehende Teilungsklage vorzubereiten. Kurz nachdem er in seinem Büro angekommen war, klopfte es an der Tür.

Er zupfte sich die Krawatte zu Recht. „Herein.“

Beinahe hätte er seine Verwunderung nicht verbergen können, als der Präsident des Landesgerichts für Zivilrechtssachen höchstpersönlich bei ihm eintrat. Franz hatte ihm zwar schon mehrmals zur Begrüßung die Hand gereicht, aber mehr im Vorübergehen, richtig vorgestellt hatten sie sich noch nicht. Umso mehr verwunderte es ihn, dass der Gerichtspräsident nun bei ihm im Büro stand.

„Begrüße Sie, Herr Dr. Freisinn-Wartenau.“

Bertram Stieglitz war ein durchaus imposanter Mann. Er war ein gutes Stück größer als Franz, hatte breitere Schultern und obwohl er älter war, hatte er noch einen guten Schopf Haar auf dem Kopf. Außerdem strahlte er eine gelassene Selbstsicherheit aus, die Franz bis jetzt nur bei Männern gesehen hatte, die Kriegserfahrung hatten. Und das obwohl er im Krieg verletzt worden war. In seiner rechten Wade trug er als ewiges Andenken die Splitter einer Granate, wodurch er leicht hinkte. Dennoch hatte er einen eigenartig grazilen Gang, als er die Tür hinter sich schloss und in den Raum trat.

„Guten Morgen, Herr Präsident. Was verschafft mir die Ehre?“

Franz versuchte, keine Nervosität aufkommen zu lassen.

Stieglitz trat an den Tisch und nahm unaufgefordert gegenüber von Franz Platz. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass Herr Dr. Rinzweiler gestern hier im Haus war und sich etwas daneben benommen hat.“

Franz fuhr mit der Zunge über seine Lippen. „Ja, das habe ich mitbekommen.“

„Und da haben Sie die Sache in die Hand genommen?“, fragte Stieglitz argwöhnisch.

„Nun, ja. Der Mann gefährdet sich doch am Ende nur selbst und außerdem …“, Franz wollte weitersprechen, doch da hob Stieglitz eine Hand und ließ ihn verstummen.

„Dr. Rinzweiler war als Anwalt jahrzehntelang gerne hier gesehen. Ich möchte schon vermuten, dass das Personal hier so etwas honoriert und etwas Mitgefühl mit einem alten Mann an den Tag legt. Er kannte ja nichts anderes.“

Franz schwieg. Insgeheim ärgerte er sich. Wie konnte Stieglitz nicht sehen, dass es ihm um das Ansehen seines Justizpalastes gegangen war?

Der Präsident sah ihm direkt in die Augen. Dann räusperte er sich. „Tja, wie dem auch sei. An dem Beschluss ist formal nichts auszusetzen.“

Er sprach mit ruhiger Stimme und schien seine Worte genau zu wählen.

„Was steht denn heute bei Ihnen noch an, wenn ich fragen darf?“

Franz strich sich über die Krawatte. „Eine Teilungsklage, Herr Präsident.“

„Ah, spannend. Die werden in letzter Zeit immer häufiger. Unter uns gesagt: Es ist immer die gleiche Masche. Spekulanten warten darauf, dass eine große Immobilie wie etwa ein Zinshaus in guter Lage und mit vielen Einzelmietern durch Erbgang auf zwanzig bis dreißig Erben aufgeteilt wird. Dann identifizieren sie einen besonders anfälligen Anteilserben und machen ihm ein großzügiges Angebot. Sie verstehen, wohin das führt.“

Dr. Stieglitz hatte recht, so hatte Franz es noch gar nicht gesehen. Jetzt erkannte er, was hinter dieser Teilungsklage steckte. Die versteuerten Mieteinnahmen eines Anteilseigentümers reichten kaum als nennenswertes Zubrot, der ererbte Besitz bedeutete meistens mehr Umstände als Vorteile. So fand sich für Spekulanten schnell ein verkaufswilliger Erbe. Wenn ein gewiefter Financier einmal einen Liegenschaftsanteil in einem derart aufgeteilten Zinshaus erworben hatte, war der Rest reine Routine. Er musste lediglich mit dem neuerstandenen Kleinanteil bei Gericht eine Teilungsklage einbringen, um so den Verkehrswert des soeben erworbenen Anteils feststellen zu lassen. Anschließend musste die gesamte Liegenschaft zur Versteigerung aufgeboten werden, wobei aber jedem der einzelnen Anteilsbesitzer ein Vorkaufsrecht eingeräumt wurde. Hatte der Spekulant gut recherchiert, konnte sich außer ihm keiner der anderen Teilhaber den Rufpreis leisten. Es war eine brillante Masche.

Stieglitz rieb sich am Kinn. „Ich sage Ihnen, es ist ein Jammer. Die Mieter, die sich gegen Spekulanten wehren, bekommen am Ende nicht einmal mehr die Glühbirnen im Stiegenhaus ersetzt. Aufzüge werden nicht repariert, plötzlich gibt es jede Woche Bauarbeiten, die kein Ende nehmen. Da passieren allerlei krumme Dinge, damit man die verbleibenden Mieter hinausekelt. Ich habe sogar schon einmal von einem Fall gehört, wo der Hausbesitzer ein paar anarchistische Punks eingeladen hat, leerstehende Wohnungen in einem Haus zu besetzen. Irgendwann, wenn die ständige Unsicherheit, der Lärm und der Schmutz zu viel werden, geben auch die hartnäckigsten Bewohner auf und die Spekulanten können das Grundstück mit hoher Rendite verkaufen.“

Stieglitz hatte während seines Monologs durchwegs Blickkontakt gehalten.

Franz verstand nicht, worauf sein Gegenüber hinaus wollte.

Nach einer kurzen Pause fuhr Stieglitz fort: „Aber es gibt eben Menschen, die sich nicht um das Schicksal anderer scheren. Solche Menschen nehmen keine Rücksicht, wenn es ihnen ungelegen kommt.“

Im Zimmer lag eine unangenehme Stille. Franz kochte innerlich vor Wut. Wie konnte dieser alte Mann es wagen, ihn so zu belehren. Er sprach mit ihm, als wäre er ein kleines Kind.

Stieglitz stand auf. „Ich weiß noch, was Anstand bedeutet. Ich habe gedient, ich weiß was es heißt, auf seine Kameraden und Mitmenschen zu schauen. Merken Sie sich das“, sagte er und erhob sich aus dem Sessel.

„Schönen Tag“, sagte er und verließ das Büro.

Der Besuch des Gerichtspräsidenten ließ Franz den ganzen Tag lang keine Ruhe. Selbst während der Verhandlung ertappte er sich immer wieder dabei, wie er gedanklich abschweifte. Auch nachdem er am späten Nachmittag das Gericht verlassen hatte, dachte er immer noch über die Worte von Dr. Stieglitz nach. Er stand schon mit dem Autoschlüssel in der Hand vor seinem Peugeot, als er sich entschloss, doch noch etwas spazieren zu gehen. So durch den Wind, wie er war, konnte er noch nicht nach Hause fahren. Er ging einige Zeit lang durch die Stadt, bis er vor einem Café in der Buchfeldgasse stehenblieb. Er betrat das Café Eiles und war sofort angetan von dem Ambiente, das innen herrschte. Samtbezogene Sitzbänke säumten die Fenster, in der Mitte des langgezogenen Raumes standen kleine, dunkle Holztische. Das Café hatte etwas Konspiratorisches, etwas Ernstes und zugleich Gelassenes. In der Luft hing der Geruch von Zigarren, besser hätte es der Zufall gar nicht mit ihm meinen können. Er setzte sich an einen Tisch in einer Ecke und nahm ein Notizbuch aus seiner Aktentasche. Der Ärger über Dr. Stieglitz war inzwischen fast verflogen, beinahe war Franz ihm sogar dankbar. Er hatte ihn auf eine Idee gebracht. Er schrieb einige wichtige Eckpunkte in sein Notizbuch, als ein Schatten darüber fiel.

„Grüße Sie, der Herr. Was darf’s denn sein?“

Franz sah zu dem Kellner auf. „Haben Sie Sherry Oloroso?“

„Aber freilich.“

Franz nickte. „Ein Glas bitte, und suchen Sie mir dazu eine gute Zigarre aus, bitte sehr.“

„Selbstverständlich“, sagte der Ober und zog von dannen.

Bis der Sherry auf seinem Tisch landete, hatte Franz seinen Plan schon fertig durchdacht. Er würde in das Immobiliengeschäft einsteigen.

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