Kitabı oku: «M o n d o r a»

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M o n d o r a

Dietrich Goldberg

Copyright: © 2012 Dietrich Goldberg

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-5084-8

Grafische Gestaltung:

Undine Goldberg

M o n d o r a

Roman

Meiner Frau

KARIN

gewidmet

M O N D O R A

Teil 1

Sie reinigen sich umsonst, indem sie sich mit Blut besudeln, gerade so als ob einer, der in den Schmutz getreten ist, seine Füße mit Schmutz waschen wollte. Ein Mann, der ihn so handeln sähe, würde ihn für verrückt halten.

Heraklit

‚Oder nimm die Selbstbestimmung – die bis jetzt nichts als ein frommer Wunsch ist, bestenfalls ein notorischer Selbst -b e t r u g. Und das gilt, wenn man’s genau anschaut, auch für die Religion, für jegliche Religion. Falls unsereins nach all dem Vorausgegangenen überhaupt noch etwas glauben kann, dann bestenfalls, dass wir einen ganz neuen Einstieg brauchen, den Ansatz zu einer Route, die uns endlich, endlich ins Freie führt, heraus aus dem ewigen Nebeldunst der Obskuranten - aus der Dunkelhaft dieser viel zu lange währenden Apathie des Denkens.’

Das steht, mit einem Kugelschreiber fast unleserlich eng um den Rand eines postkartengroßen Papierfetzens geschrieben, auf dem sich ansonsten nur ein paar belanglose Eintragungen befinden, wie: ‚…verdammt schlechte Nacht verbracht; es ist kalt hier unten, und die dünne Decke wärmt überhaupt nicht. Geträumt habe ich gar nichts, nur wie erschlagen geschlafen - und durch die Kälte bin ich dann immer wieder aufgewacht.’ Dieses kleine Blatt lag obenauf. Was Benjamin Lhost geglaubt oder nicht geglaubt hat, wird im weiteren Verlauf noch eine gewisse Rolle spielen, zunächst aber geht es mir nur darum, dieses Konvolut eng beschriebener Blätter, Zettelchen und sogar auch einiger Pappdeckel zu sichten und inhaltlich zur Kenntnis zu nehmen. Ich hatte nach mehreren Versuchen, über Benjamins gegenwärtigen Aufenthaltsort etwas zu erfahren, nicht damit gerechnet, in absehbarer Zeit irgend etwas von ihm in die Hände zu bekommen oder zu hören, nachdem er vor einem Vierteljahr urplötzlich und ohne jede Vorankündigung verschwunden war – eine Art von Spontaneität, die man von ihm zwar kannte, die aber im letzten Fall doch eher als ungewöhnlich bezeichnet werden muss, weil er sonst immer seine Angelegenheiten verhältnismäßig geregelt hinterlassen hatte. Da steckt vielleicht ein gewisser Widerspruch drin, was meine Besorgnis um Benjamin anbelangt, aber wer kennt nicht diesen zeitweiligen Zwiespalt zwischen Wollen und Zögern?

Vor knapp einem Monat jedenfalls schickte mir seine Hauswirtin diesen Karton mit der Post zu, ein Karton, in dem sich früher einmal Bergstiefel befunden hatten und der jetzt voll gepackt mit Benjamins handschriftlichen Notizen war. ‚Mit sicherem Tritt – Effelmann‘ steht auf der Schachtel. Das Ganze ist von Frau Brinkmann erkennbar nachlässig oder verärgert in Packpapier gewickelt und verschnürt worden, nicht ohne zwischen Karton und Papier noch einen Zettel zu schieben, auf dem sie mir mitteilte, dass Benjamin sein Appartement zwar bis zu seinem Verschwinden bezahlt hatte, dass sie die Räume aber erst nach zweimonatigem Warten weitervermieten konnte, weil sie ja nicht wusste, ob er ... und so weiter.

Deshalb habe ich ihr vorsorglich zweitausend Mark überwiesen, tausend Euro inzwischen, und hoffe, dass der Fall damit ausgestanden ist, dass ich das Geld in absehbarer Zeit zurück erhalte. Zwei Wochen intensiver Lektüre hatte ich mir dafür eingehandelt und eine mehr oder weniger erfolglose Autoreise in dieses Bergnest Mondora.

Und es gab gute Gründe für meinen Aufwand. Denn was Benjamin mir da hinterlassen hat – inzwischen bin ich fast der Überzeugung, dass die Mitteilungen wirklich mir galten – erwies sich schon nach den ersten Anläufen des Lesens als ungeheuerlich, ja nachgerade als zwingend, die Geschichte zu rekonstruieren, ganz egal, ob sich außer mir noch jemand dafür interessiert, oder nicht. Auf alle Fälle bin ich jetzt, nach der ersten Durchsicht, der Meinung, dass Benjamin bei seinem vorletzten Verschwinden – das war ungefähr Anfang April – mehr oder weniger unfreiwillig in Mondora festgehalten und, wie man es nimmt oder ausdrücken will, im wahrsten Sinne des Wortes peinlich verhört worden war.

‚To vanish into thin air‘ war eine mitunter von ihm gebrauchte Floskel, die man entweder zu hören bekam, wenn er wieder mal keine Lust mehr hatte, sich um Aufträge beim Sender zu bemühen, oder wenn er vom Tod sprach, so wie er ihn sich vorstellte - einfach in Luft auflösen. Und dabei lächelte er und sagte gelegentlich: ‚Anaximenes – so ganz Unrecht hat der Alte auch nicht gehabt‘.

Das mit dem Lustlos-Rappel hatte er einige Male praktiziert, war einfach mit ‚last minute‘ für ein paar Wochen irgendwohin verschwunden, um dann wieder aufzutauchen mit der lakonischen Bemerkung: Bin wieder gesund. Dabei grinste er – in einer mimischen Melange aus Verlegenheit und der Bitte um Nachsicht – sah dann auf seine Schuhspitzen runter und kämmte mit den Fingern einer Hand langsam durch seine langen Locken. Mit der Hand im Nacken verharrte er, bis man zu ihm sagte: Nun komm, setz dich her, erzähl was war. Diese ‚Ausfälligkeiten‘, von denen er mit einem gewissen Sarkasmus selber sprach, konnte Benjamin sich leisten; nach dem Tod der Eltern stand ihm ein kleines Vermögen zur Verfügung, auf das er im Bedarfsfall zurückgriff. Er war also nie ein ‚Sozialfall‘ für unsere Redaktion.

Und mit dieser Rappel-Nummer glänzte er immer wieder mal vor meinem Schreibtisch, ohne dass ich ihm deswegen wirklich böse sein konnte. Benjamin war kein festes Mitglied unserer Crew, dazu erwies er sich von Anfang an als nicht zuverlässig genug. Wenn er aber den Auftrag erhielt, einen Beitrag oder eine Reportage für unser Programm zu gestalten, dann war das Ergebnis fast immer von besonderer Qualität. Mein persönliches Verhältnis zu ihm hatte etwas vom Vater aus der biblischen Geschichte mit dem verlorenen Sohn. Das war das eine. Das andere war seine fast schon kindlich zu nennende Neugier, ja mehr als das – seine Beharrlichkeit, Wissenswertem auf den Grund zu gehen. Und dabei gab er einem immer das Gefühl, dass man mehr wüsste als er, obwohl sein Wissen in bestimmten Bereichen weit über dem des jeweiligen Gesprächspartners lag; Benjamin hatte, bevor er zu uns kam, studiert, Biologie, und mit einer Dissertation über ‚Traumatische Auffälligkeiten einzelner Individuen in zoologischen Gärten gehaltener Mantelpaviane' abgeschlossen.. Aber sunt pueri pueri – trotz allem haftete ihm etwas hilflos Knabenhaftes an, was besonders einige Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts zu entzücken schien; man hörte da dieses und jenes. Dennoch konnte er mit diesem Pfund wegen seiner Unstetigkeit nicht wuchern; die Affären waren immer wieder recht schnell zu Ende. „Ich weiß nicht, was das ist“, sagte er dann, „ich kann’s nicht, ich bin einfach zu blöd dafür.“ Und man glaubte es ihm, mit einer gewissen Anteilnahme. Denn zum einen war er wirklich zu ich-bezogen – immer dann, wenn die ‚Banalitäten des Alltags‘ Übergewicht bekamen und es ihm schwer machten, sich in seine Gedankenwelt zu flüchten – zum anderen verstand er die Welt nicht mehr, wenn die jungen Frauen sich recht schnell wieder von ihm abwandten.

Benjamin war der typische Einzelgänger, hatte auch die entsprechenden Passionen: Neben einer heillosen Leidenschaft für Vespa-Roller, von denen er mehrere im angemieteten Schuppen eines Landwirts zu stehen hatte, liebte er klassische Musik, insbesondere Johann Sebastian Bach, und dann war er ein Anhänger des Freeclimbings in den Bergen – auch da nur zu oft im Alleingang. Dieser besondere Sport hatte seine Erscheinung im Laufe der Zeit geprägt. Er wirkte keineswegs muskulös, sondern eher drahtig, war dementsprechend schlank und ging meistens etwas nachlässig nach vorn gebeugt. Vom Aussehen her konnte er eine Figur aus Oberammergau sein – zu seinem Lockenhaar trug er einen kurz geschnittenen Vollbart, der zum Kinn leicht zugespitzt war. Johannes? – Ja, vielleicht am ehesten Johannes, wenngleich -. Seine Kleidung bestand meist aus Jeans und einem Leinenhemd mit weit geschnittenen Ärmeln; im Winter trug er dazu oft Schaffell-Lederjacken.

So war Benjamin gewiss keine Ausnahmeerscheinung, Typen wie ihn trifft man allenthalben. Aber seine stets anteilnehmend-freundlichen Augen und seine Art, durch spielerisch leicht gesetzte Apercus im Gespräch Aufmerksamkeit zu erzielen, brachten ihm immer wieder schnelle Sympathien ein. Sie waren nie von langer Dauer. Im Grunde genommen konnte er einem Leid tun, und das war auch vielleicht die Ursache für meine väterlichen Gefühle ihm gegenüber. Benjamin war eine Sternschnuppe von augenblicklicher Brillanz und ungenügendem Durchhaltevermögen – was den Umgang mit Menschen anbelangte. Im Umgang aber und in der Auseinandersetzung mit kritischen oder analytischen Betrachtungen war er einer der Ausdauerndsten, die mir je im Leben begegnet sind.

In welchen Winkel der Welt hat es ihn inzwischen verschlagen? – Ich habe trotz aller Bemühungen bis heute keine Ahnung, dafür aber seit kurzem dieses Konvolut mit Aufzeichnungen, in denen vielleicht doch noch ein versteckter Hinweis auftaucht. Oder er steht eines Tages wieder da, die Hand im Nacken, und lässt sich auffordern: Nun komm, setz dich her, erzähl was war.

Dass wir uns duzten, ergab sich von selbst – wir waren beide Mitglieder in der Gewerkschaft. Nur führte dieser vertrauliche Umgangston zwischen uns leider dazu, dass andere Mitarbeiter der Redaktion eine Bevorzugung Benjamins darin sahen; es gab, besonders bei zwei dafür Anfälligen, hin und wieder Neidäußerungen und Versuche intriganter Quertreibereien. Um dieser unguten Konstellation nicht noch weiteren Vorschub zu leisten, pflegte ich auch nie privaten Umgang mit den Mitarbeitern, auch nicht mit Benjamin. Und trotzdem entwickelte sich zwischen uns so etwas wie ein freundschaftliches Verhältnis – halt durch die Kongruenz mancher Ansichten und Beurteilungen, und durch sein offenes Wesen mir gegenüber. Ich habe auch nie versucht, auf ihn Einfluss zu nehmen oder gar ihm wegen seiner Unzuverlässigkeiten Vorhaltungen zu machen. Er war eben so und dankte mir für diese Zurückhaltung durch viele gute Gespräche, die sich immer mal wieder ergaben.

Heute, und insbesondere jetzt nach der Lektüre seiner Aufzeichnungen, bedaure ich ein wenig, wie das alles gelaufen ist und meine inzwischen, ich hätte mich doch mehr um ihn kümmern sollen. Aber vielleicht ergibt sich das noch. Denn mittlerweile bin ich seit gut einem halben Jahr im Ruhestand; bei meiner offiziellen Verabschiedung in der Redaktion war Benjamin noch zugegen – ohne jedes Anzeichen, dass ihn kurz darauf wieder die ‚Ausfälligkeit‘ ereilen sollte. Und manchmal glaube ich sogar schon, dass er wegen meiner Pensionierung verschwunden ist. Ich habe jedenfalls mehrere Male bei seiner Vermieterin, Frau Brinkmann, angerufen und sie gebeten, mir sofort Nachricht zukommen zu lassen, falls sie irgendetwas von Benjamin hören sollte.

Und noch etwas muss ich vorausschicken, bevor ich zum eigentlichen Zweck dieser Ausführungen komme, zu Benjamins Abenteuer in Mondora. Dass ich nach seiner Rückkehr im Mai nicht mehr mit ihm zusammentraf, lag bedauerlicherweise an einer Verknüpfung unglückseliger Umstände, die wohl durch meine Pensionierung im Februar und einem längeren Krankenhausaufenthalt danach, sowie durch Benjamins abermalige ‚Ausfälligkeit’ bedingt waren. Wir hatten einfach keine Zeit mehr, uns ausgiebig zu unterhalten. Bei einer zufälligen Begegnung im Sendergelände, Ende Mai, machte er zwar eine Andeutung, dass er mir was zu erzählen hätte und wir uns unbedingt mal wieder sehen müssten, leider aber ist es dazu nicht mehr gekommen.

Ich bin inzwischen so weit, dass ich mir Vorwürfe mache, damals nicht rigoros die Möglichkeit zu einem Gespräch herbeigeführt zu haben, ungeachtet aller momentanen Widrigkeiten. Wer leidet nicht unter der gelegentlichen Einsicht, falschen Prioritäten gefolgt zu sein? Jedenfalls will ich versuchen, hiermit die Verbindung zu Benjamin wieder aufzunehmen und sein letztes Erlebnis, von dem ich in Form einer Schachtel voller Aufzeichnungen Kenntnis erhielt, lesbar und damit nachvollziehbar zu machen. Ein Puzzle, dem ich nur beikommen kann, wenn ich mich von den tausenderlei Notizen löse und einfach drauflos erzähle.

Mondora ist schwer zu erreichen. Diese Erfahrung musste ich leider auch machen, als ich zu meiner mehr oder weniger vergeblichen Spurensuche dort hinfuhr. Inzwischen frage ich mich allerdings, ob die an Ablehnung grenzende Reserviertheit der Einwohner, denen ich im Verlauf meines Aufenthalts begegnet bin, nur die im Grunde verständliche Charaktereigenschaft einer seit Generationen isoliert lebenden Gemeinschaft ist, oder aber auf das damals noch relativ frische Erlebnis mit Benjamin zurückgeführt werden muss. Jedenfalls ist Mondora ein kleiner Ort auf einer Bergkuppe, wie man ihn manchmal von Ferne liegen sieht, wenn man mit dem Auto die normalen, nein mehr noch, schon eher mal die ungewöhnlichen Wege durchs Land nimmt, falls man sich verfahren hat. Wer schon käme auch auf die Idee, bei der ohnehin abenteuerlich zu nennenden Strapaze einer solchen Gebirgsfahrt und bei diesen Straßenverhältnissen nun noch zusätzlich dort oben hinaufzufahren? Normalerweise verkneift man sich das und begnügt sich mit der Feststellung, dass die Aussicht von dort oben auch nicht großartiger sein wird, als von anderen, leichter zugänglichen Punkten dieser Gebirgslandschaft. Weder Reise- noch Kunstführer verweisen ernsthaft oder gar überschwänglich auf ein solches Habichtsnest, und so hat Mondora sich in den letzten zwei Jahrhunderten anscheinend kaum mehr verändert, nicht zuletzt wegen der unwirtschaftlich gewordenen Steinbrüche, von denen seine Bewohner in früheren Zeiten gelebt haben. Die jetzt dort arbeitsfähig sind, unterziehen sich in der Mehrzahl der Mühe, täglich fünfundvierzig Minuten in die tiefer gelegene Provinzhauptstadt zu fahren, denn selbst der Postbus schafft es nicht dort hinauf, sondern hält nur einmal in der Woche, wenn unten in der Stadt Markttag ist, auf einer unterhalb Mondoras am Berghang klebenden Wendekehre. So kann sich jeder vorstellen, dass eine Fahrt mit gewöhnlichem Pkw bis nach Mondora hinein zu einer ausgesprochenen Nervensache wird. Die Einwohner allerdings lächeln nur, wenn man schweißgebadet oben ankommt.

Wie muss man sich diese Ansiedlung auf dem Berg Mondora – er heißt tatsächlich auch so - ansonsten vorstellen? – Heute noch von der Jahrhunderte alten Stadtmauer eingepfercht, deren Basis an drei Seiten in den mehr oder weniger steil abfallenden Fels übergeht, ist Mondora nur von Osten her auf besagter Serpentinen-‚Straße’ zugänglich, die in ein kleines, aber noch gut erhaltenes Stadttor in der Mauer einmündet. Hat man es mit Weh und Ach und ohne Schrammen am Wagen passiert, befindet man sich nach nicht einmal fünfzig Metern bereits im ‚Zentrum’, ein enger Platz, der auf der Nordseite vom ehemaligen Schloss, und nach Westen hin von einer mehr breiten als hohen und dadurch geduckt wirkenden Kirche ohne Turm begrenzt wird. Die Glocke, die sowohl die vollen Stunden, als auch durch heftigere Hammerschläge den Beginn einer Messe verkündet, hängt in einem Mauerdurchbruch oberhalb des Hauptportals. Den eigentlichen Schmuck des nahezu quadratischen Platzes machen jedoch die Kolonnaden der ihn umgebenden übrigen Gebäude aus, elf Bürgerhäuser, von denen fünf im Erdgeschoß einen kleinen Laden haben – die Apotheke, der Metzger, der Bäcker, ein Gemischtwarengeschäft und eines mit Tabakwaren, Postannahme und Lottostelle. Von diesem Platz aus führen drei enge Gässchen zu den dahinter liegenden übrigen Häusern der Gemeinde, eng aneinandergedrückt, einstöckig und mit winzigen Fenstern. Ihr Merkmal: Sie sind alle ockerfarbig gestrichen, jedenfalls waren sie es einmal, haben kaum einen Schmuck, wenn man von den vereinzelt außen in den Fensternischen stehenden Geranientöpfen mal absieht.

Und noch ein paar Bemerkungen zum ‚ehemaligen Schloss'. Warum ehemalig, und warum Schloss überhaupt? Tatsächlich haben hier bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Grafen von Arno-Fremont residiert, von denen berichtet wird, dass sie im 17. Jahrhundert die kriegerischen Glaubensauseinandersetzungen überall in Europa insofern für ihre Zwecke nutzten, als sie hier in Mondora so ziemlich unbemerkt ein eigenes kleines Glaubensimperium errichtet haben sollen, heute würde man sagen eine Sekte. Das Ganze diente eigentlich nur dazu, die Arbeiter in den Steinbrüchen, die natürlich den Grafen gehörten, in jeder Hinsicht zu binden und bis aufs Blut auszubeuten. Dabei haben sich die Stifter zu keinem Zeitpunkt glaubensmäßig von der Mutterkirche gelöst, im Gegenteil! Es waren kleine Arabesken und Zutaten, die zum erwünschten Erfolg führten. So soll Graf Ferdinand von Arno-Fremont 1639 den Brauch initiiert haben, dass jedes Jahr am Sonntag vor Ostern die jungen Männer des Ortes ein zentnerschweres Kreuz dreimal um den Stadtplatz und dann bis zum Stadttor zu schleppen hatten, um dort auf ihren Erlöser zu warten. Käme der dann auf einem Esel geritten, wären sie aller weiteren Leiden und Frondienste ledig, und von Mondora aus sollte die Weltherrschaft des wahren und einzigen Glaubens in alle Lande gehen. Diese Verheißung sei ihm, dem Grafen, in der Nacht von einem Engel verkündet worden. Den Brauch des Kreuzschleppens gibt es noch heute, und auch eine Grabplatte in der Kirche, auf der ein bärtiger Ritter im Schlummer zu sehen ist, über dem ein Engel mit gewaltigem Kreuz in den Armen schwebt.

Zurück jedoch zum Schloss. Es ist ein Bau der Frührenaissance, steht aber auf Fundamenten, die bereits aus dem 13. Jahrhundert stammten. Es hat als einziges Gebäude der Stadt zwei Stockwerke über dem Erdgeschoß, und die Fassade ist harmonisch von Pilastern untergliedert, die bis unter das Dach reichen und in ionischen Kapitellen enden. Es nimmt, wie schon erwähnt, die volle Breite des Stadtplatzes ein. Hübsch ist auch die lange steinerne Bank, die unten in Sitzhöhe quer über die ganze Fassade geht, und auf der an warmen Sommerabenden heutigentags die alten Männer des Ortes sitzen und die Gerechtigkeit der Welt erfinden.

Ende des 18. Jahrhunderts ist die Linie Arno-Fremont ausgestorben. Eine Zeitlang war dann das Schloss Sommerresidenz des dortigen Bistums, aber allmählich wurde den Herren Bischöfen die An- und Abfahrt zu beschwerlich, und sie verkauften den Bau an einen Fabrikanten und Steinbruchbesitzer, der dort auch zuerst wohnte, sich dann aber eine bequemere Residenz mit Park in der unteren Umgebung suchte. So wurde das Schloss nacheinander erst Verwaltungsgebäude der Steinbruchfirma und gleichzeitig im Erdgeschoß Materiallager, dann nach Aufgabe des Steinbruchs zur Hälfte Amtsgebäude des Bürgermeisters – vorübergehend ergänzt durch ein faschistisches Parteilokal - und zur anderen Hälfte Ruine. Und in diesem Zustand befindet es sich auch heute noch, ohne Parteilokal natürlich.

Nicht zu vergessen: Im Keller des Schlosses mit Zugang von der Seitengasse zur Kirche hin befindet sich der einzige Weinausschank des Ortes, nicht sehr gemütlich, aber zweckdienlich mit blanken Holztischen und Bänken. Zu essen bekommt man dort nichts, außer den üblichen Nüssen zum Wein und saure Oliven, eine Spezialität dieser Gegend.

Was muss man noch wissen, um sich ein ungefähres Bild von Mondora zu machen? – Gleich hinter der Kirche, nach Westen hin, liegt der örtliche Friedhof. Er ist auffallend klein und von einer mannshohen, aus groben Bruchsteinen errichteten Mauer umgeben. In den zahlreichen Ritzen zwischen den Steinen wachsen allerlei genügsame Pflanzen, überwiegend Mauerpfeffer, und auch Eidechsen scheinen da ein ideales Auskommen zu haben. Ein Biotop von bemerkenswerter Eindringlichkeit, denn gerade diese Mauer, die den Totenbereich abschirmen soll, symbolisiert wie kein zweites Element hier das Leben. Alles andere bleibt schmucklos, auch die Gräber. Sie sind ebenerdig flach und meist durch Steinplatten, hin und wieder aber nur mit grobem Kies abgedeckt. An den Kopfenden steht jeweils ein knapp meterhohes Balkenkreuz, und auf dem Querholz sind die Namen, Geburts- und Sterbedaten der Bestatteten zu lesen, teils eingeschnitzt, teils nur mit weißer Farbe draufgemalt, keine Titel, keine Zusätze anderer Art.

Dennoch, der auswärtige Besucher fragt sich, wie dieser winzige Friedhof mit seinen erkennbar kaum mehr als drei Dutzend Grabstellen durch die Jahrhunderte überhaupt ausreichen konnte, und so ist man auch schon bei einer weiteren Besonderheit Mondoras angelangt. Die Toten werden nämlich nach zwanzig Jahren der Ruhe exhumiert, und ihre Schädel kommen dann, liebevoll verziert und beschriftet, in einVerlies tief unter der Kirche, eine Höhle im felsigen Untergrund, die überwiegend natürlichen Ursprungs ist. Ob sie dort noch jemand besucht, ist mir jedenfalls nicht bekannt geworden. Wahrscheinlich bezweckt dieser Schädelkult lediglich eine Art mystischer Verbindung zu den Toten im Jenseits.

Es war ein wolkenloser Augusttag, als ich nach Mondora kam. Aus Benjamins Aufzeichnungen wusste ich, dass es dort droben keine Übernachtungsmöglichkeit gibt, also hatte ich mir unten in der größeren Stadt am Fuße der Berge ein Quartier besorgt. Diese Anfahrt! Diese hundsmiserable Anfahrt! Um neun in der Früh war ich aufgebrochen, kurz nach zehn hatte ich die Wendekehre und Endhaltestelle des wöchentlichen Postbusses erreicht und damit die letzte Möglichkeit, das Hemd zu wechseln. Es war nötig! Obwohl die Klimaanlage meines Multipla ihr Bestes gab, hatte mich doch die Wahnsinnsfahrerei dort hinauf klitschnass werden lassen. Aber ich bekam auf diese Weise zum ersten Mal einen Begriff davon, was es bedeutet, Mondora zu besuchen, oder vielleicht sogar dort zu leben. Welch eine Landschaft, welch ein Fernblick, welch ein beglückendes Gefühl der Erhabenheit! Fast könnte man sagen, an so einem Ort kommen Menschen zu der Auffassung, nur so – vielleicht noch etwas höher – müssen ihre Götter wohnen. Nun, lassen wir erst einmal die Götter. Jedenfalls konnte ich das Stadttor ohne Schrammen passieren und auch gleich daneben, hinter der Mauer und im Schatten, parken. Es war ja keine Unternehmung weiter, zu Fuß ins Zentrum zu spazieren, einen Rundgang zur ersten Orientierung hatte ich mir sowieso vorgenommen; die Hitze – na ja, die musste ich halt in Kauf nehmen.

Und so schlenderte ich über den Stadtplatz, hatte dabei allerdings das Gefühl, permanent beobachtet zu werden. Nicht nur von den drei alten Frauen, die da beieinander standen und mir nachsahen. Auch hinter manchem Fenster tauchten Gesichter auf und verschwanden wieder, wenn ich hinsah. Ein wenig seltsam war das alles schon. Ich hatte zwar im Gemeindeamt angerufen, um einen kurzen Gesprächstermin mit dem Bürgermeister zu erbitten, konnte dabei aber nur bis zu einer vermutlich jüngeren Dame vordringen, die mir, nachdem sie den Hörer für einige Zeit aus der Hand gelegt hatte, danach lapidar mitteilte, dass der Herr Bürgermeister an diesem Tag nur am späteren Nachmittag in seinem Büro sei. Sollte dieser Anruf genügt haben, um Mondora mit einem Bann verordneter Ruhe zu überziehen? Oder war das alles nur Einbildung und Produkt meiner durch die Herfahrt leicht strapazierten Nerven? Ich ging langsam über den Platz, und zu hören war nur das Tuscheln der drei alten Frauen schräg hinter mir und dann, fast wie ein Befreiungsschrei in dieser Stille, der gedehnte Landungsruf einer Taube, die einen Sims unter dem Glockenfenster der Kirche vor mir anflog und, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatte, zwei- dreimal hin und her lief, ehe sie sich dort zur Ruhe setzte und ihren Morgenputz anfing. So nahm ich meinen Weg links in eine Gasse, die mich, an der Längsseite der Kirche und an der äußeren Friedhofsmauer entlang, zu einem schmiedeeisernen Tor führte, das halb offen stand. Ich war folglich am Eingang der in ihrer schlichten Anlage so berührenden Totenenklave Mondoras und sah, dass ich hier allein und unbeobachtet sein würde; also ging ich hinein. Hinter der Kirchenrückseite lag noch ein breiter Schatten über den Gräbern, ein verlockendes Ziel an diesem Vormittag. Ich war dankbar für die kleine Erholung und ging langsam im Schatten auf die dort angrenzende Friedhofsmauer zu. Die Pflanzengesellschaft daran interessierte mich, und dann entdeckte ich auch die Smaragdeidechsen, drei gleich beim ersten Hinschauen, die trotz meiner Nähe innehielten und mich beobachteten, ehe sie beim nächsten Schritt in den Ritzen verschwanden. Schade. Ich wollte warten, bis sie wiederkamen, und dabei fiel mein Blick auf ein Grab, vom äußeren Zustand her erkennbar das jüngste auf diesem Friedhof. Es lag etwas abseits von den anderen, ziemlich dicht an der Mauer, und der Name auf dem Holzkreuz am Kopfende kam mir bekannt vor. Adolphe Bretone. -–Adolphe Bretone? Das war doch – nun, das kann natürlich ein Zufall sein, aber in Benjamins Aufzeichnungen heißt so der geistliche Würdenträger dieses Ortes. Ihn wollte ich eigentlich auch im Laufe des Tages aufsuchen, obwohl er wahrscheinlich nicht mehr im Amt war. - Adolphe Bretone! Kein Allerweltsname. Gestorben war er vor knapp einem Vierteljahr, also kurz nachdem Benjamin Mondora wieder verlassen haben musste. Und da auf den Grabkreuzen weder ein Titel noch sonst etwas steht, beschloss ich, mich zu erkundigen. Wenn einer gestorben ist, dann weiß das doch jeder in so einer kleinen Gemeinde, zum Beispiel auch der Apotheker, den ich als ersten aufsuchen wollte. Und mit dieser zusätzlich neuen Frage im Kopf, konnten mich hier auch keine Eidechsen mehr aufhalten, auch nicht die Kühle des Schattens.

Der Stadtplatz bot bei meiner Rückkehr ein entschieden anderes Bild. Inzwischen waren schon ein paar mehr Menschen dort zu sehen, normales Leben an einem Vormittag, Leute die beieinander standen oder irgendwelchen Geschäften nachgingen. Vielleicht hatte mein Wahrnehmungsvermögen vorhin doch unter der Hitze gelitten. Was weiß ich, warum mir das alles so seltsam vorkam. –

In der Apotheke war es angenehm kühl, aber auch relativ dunkel. Das bewirkten die Kolonnaden vor dem Haus und die erkennbar dicken Mauern. Außer dem Apotheker im weißen Kittel war hier noch eine Kundin, die gerade bedient wurde, und so konnte ich mich in dem Raum etwas umschauen. Barock. Das Inventar, die Regale und der Ladentisch, war echtes Barock in dunklem Holz, darüber ein Tonnengewölbe, in dessen Zentrum vier gemalte Putten einen großen Kronleuchter hielten. Seine Lampen brannten nicht; das Licht über dem Ladentisch spendeten drei Alabasterglocken als Pendelleuchten.

Nachdem die Kundin gegangen war, wandte sich der Apotheker mir zu. Er war ein scheinbar freundlicher Mann von gut sechzig Jahren, nur verschwand das Lächeln in dem glatt rasierten Gesicht sofort, als ich ihm meinen Namen und mein Anliegen sagte. „Ja", bestätigte er, „Ihr Freund Benjamin war hier, auch für längere Zeit als Gast in meinem Haus". Das Thema war ihm sichtlich unangenehm, denn er schwieg gleich wieder, schien nachzudenken und dabei sah er auf einen Bleistift, den er zwischen den Fingern hin und her zwirbelte, während seine Hände auf dem Ladentisch lagen. „Ach, wissen Sie", begann er dann wieder und legte den Bleistift beiseite, „das Beste wird sein, wenn Sie heute Mittag zu mir auf einen kleinen Imbiss kommen, sagen wir um ein Uhr. Um die Zeit mache ich bis drei den Laden hier sowieso zu." Und nach einem weiteren Moment des Nachdenkens: „Mir wäre es schon ein Anliegen, mit Ihnen über das alles zu sprechen." – „Ja, aber", wollte ich einwenden. „Kein Aber", entgegnete er mit dem Anflug eines Lächelns, „seien Sie so freundlich und kommen Sie um eins, da können wir uns in aller Ruhe unterhalten." – „Wird denn Ihre Tochter auch dabei sein?" fragte ich etwas unvermittelt und anscheinend für ihn überraschend, denn er antwortete ziemlich barsch: „Meine Tochter ist heute nicht in Mondora. Sie müssen leider mit mir allein Vorlieb nehmen." In diesem Augenblick ging die Ladentür wieder auf und ein neuer Kunde, ein älterer Mann, kam herein, blieb aber am Eingang stehen, so dass ich nur für den Apotheker verständlich noch sagen konnte: „Nun, ich freue mich über die Einladung und danke Ihnen. Sie können sicher sein, dass mich nicht die Neugierde hierher geführt hat, sondern meine Freundschaft zu Benjamin. Ich will alles tun, um pünktlich zu sein." – „Ja", beendete er das Gespräch fast schon etwas unwirsch, „läuten Sie unten an der Haustür, neben dem Schaufenster. Ich werde Sie erwarten. Bis um eins also." Und damit wandte er sich abrupt dem neuen Kunden zu. Ich aber ging hinaus und ein Stück unter den Kolonnaden entlang, um außer Sichtweite zu sein.

Ein seltsames Gespräch – ‚schon ein Anliegen, über das alles zu sprechen'. Und diese gleichsam überraschende Einladung! Natürlich hatte ich auch keine Gelegenheit, meine Frage nach dem Geistlichen anzubringen. Aber was nicht war, konnte ja noch kommen. So steckte ich mir erst mal eine Pfeife an und überlegte dabei, ob ich über den Platz, drüben in den Weinausschank gehen sollte, allein schon wegen dieser kaum zu ertragenden Hitze.

Was ich beim Nachdenken über diese erste Begegnung mit einem Einwohner Mondoras gar nicht bemerkt hatte – ich stand mit dem Rücken zum Schaufenster des Tabakladens, dessen Besitzer in der offenen Tür mich plötzlich von hinten ansprach: „Sind Sie der Mann aus Bayern, sind Sie hier in der Sache Lhost?" Ich drehte mich um und sah einen kleinen, kahlköpfigen Mann vor mir, in dessen Gesicht einerseits der Versuch freundlich zu erscheinen, andererseits so etwas wie Angst ein nervöses Flackern verursachte. „Ja, das stimmt", sagte ich, „aber was heißt in der Sache Lhost, und wieso wissen Sie überhaupt von meinem Hiersein?" – „Wäre es Ihnen möglich, in den Laden zu kommen?" bat er und sah dabei links und rechts in die Kolonnaden und rüber zum Schloss. Ich nickte, trat ein, und er verriegelte hinter uns die Tür, wobei er gleichzeitig ein kleines Schild, das da hing, mit der Aufschrift BIN GLEICH WIEDER DA nach außen gegen die Scheibe kehrte.

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