Kitabı oku: «Der Schützling»

Yazı tipi:

Dirk Koch

Der Schützling

Stasi-Agent Adolf Kanter, Helmut Kohl, die Korruption

und die größte Spionageaffäre der Bundesrepublik


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ISBN 978-3-8012-7029-2 (E-Book)

ISBN 978-3-8012-0586-7 (Printausgabe)

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Erstes Kapitel

Der Unantastbare

Zweites Kapitel

Die haben bei dem gehorcht

Drittes Kapitel

Der Geheimprozess

Viertes Kapitel

Der Brandenburger

Fünftes Kapitel

Deckname »Hans«

Sechstes Kapitel

Persönliche Gefallen

Siebtes Kapitel

Bös in der Tinte

Achtes Kapitel

Befangene und Unbefangene

Neuntes Kapitel

Nichts, aber auch gar nichts

Zehntes Kapitel

Heiße Quellen

Nachwort

Das Urteil gegen Adolf Kanter in gekürzter Fassung

Bildnachweis

»Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar wird,

und nichts Geheimes, das nicht bekannt wird und an den Tag kommt.«

Lukas-Evangelium 8/17

Vorwort
Misstrauen als Pflicht

Man kann sagen, dieses Buch treibt journalistische Archäologie. Was soll das noch bringen? Fast alle Personen, um die es geht, sind gestorben, alles lange her, aus und vorbei, Deckel drauf und zu lassen. Man kann aber auch sagen, die Schriftstücke, die es zutage fördert, können helfen, der Wahrheit näher zu kommen. Die Wahrheit über die größte Spionageaffäre der Bundesrepublik Deutschland. Größte Spionageaffäre? Ja. Gemessen an Dauer und Umfang des Verrats. Gemessen vor allem am politischen Gewicht der kompromittierenden Erkenntnisse der Stasi über die Käuflichkeit bundesdeutscher Politiker. Adolf Kanters Berichte von der enormen Korruption beim Klassenfeind machten die Spitzenleute des westdeutschen Staates erpressbar. Die Wahrheit über den Fall des Stasi-Agenten Kanter, der auch ein Fall Helmut Kohl ist, haben die politischen und wirtschaftlichen Eliten lange und erfolgreich verborgen und vertuscht. Die Bürger einer Demokratie haben einen Anspruch darauf zu erfahren, ob sich ihre Eliten, zumal die von ihnen gewählten, an Recht und Gesetz halten oder ob sie sich, oft aus Geldgier, über das Gesetz stellen. Dieser Anspruch erlischt nicht durch Zeitablauf.

Die Presse hat als sogenannte vierte Gewalt Verantwortung für das Funktionieren der Demokratie. Die Presse hat die drei anderen – mächtigen – Gewalten zu beobachten, zu bewerten und zu kontrollieren, also die Legislative, die Exekutive und die Justiz. Die Parlamente erlassen die Gesetze, die in das Leben der Bürger eingreifen. Die Regierung fasst Beschlüsse über Wohl und Wehe wie beim Lockdown. Die Gerichte können Menschen bestrafen, ihnen die Freiheit nehmen. Missbrauch dieser Macht hat es gegeben, gibt es heute und wird es morgen geben. Deshalb hat die Presse die Pflicht zum Misstrauen, allem und jedem gegenüber. Der Wahrheit auf die Spur zu kommen, ist meistens schwer, gelingt häufig nicht. Finden sich aber Dokumente, die den Machtmissbrauch von innen her belegen, sind sie ein Schatz. Ihn gilt es unbedingt zu heben.

Die Szenerie

Der Kalte Krieg hat den Planeten Erde im Würgegriff. Weltweit belauern und bedrohen sich die von Moskau und von Washington angeführten feindlichen Lager. Ihre nuklearen Waffensysteme würden in einem Dritten Weltkrieg die Menschheit vernichten. Der Jüngste Tag scheint gekommen, als 1962 die Sowjets auf Kuba, dicht vor der amerikanischen Küste, Stellungen für Atomraketen aufbauen, denen die USA ohne Vorwarnzeit ausgeliefert wären. Das US-Militär macht sich zum atomaren Erstschlag bereit. Der Atomkrieg wird knapp verhindert, als die sowjetischen Frachter mit ihrer Raketenladung vor Kuba beidrehen und zurückfahren.

Im Jahr zuvor hat der Bau der Berliner Mauer die Ost-West-Spannungen schon gefährlich verschärft. Die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik sind Feinde. Die Masse der Nuklearwaffen, die auf ihren Territorien gegeneinander gerichtet sind, machen die beiden Deutschlands zur potenziell tödlichsten Gegend der Welt. Die DDR hat Spione in allen Lebensbereichen der Bundesrepublik. Markus Wolf, Chef des Ostberliner Auslandsgeheimdienstes beim Ministerium für Staatssicherheit, schafft die Grundlage für eine der außergewöhnlichsten und erfolgreichsten Spionageunternehmung, als er einen Agenten namens Adolf Kanter aus Plaidt in der Voreifel auf die junge europäische Bewegung im westdeutschen Staat und auf einen Jungpolitiker namens Helmut Kohl ansetzt. Der Metzgersohn mit Volksschulabschluss wird zum bestvernetzten und kenntnisreichsten Stasi-Spion im Politikmilieu der Bundesrepublik aufsteigen, der mitmischt bei der Korruption westdeutscher Politik und Politiker. Er erfährt (und berichtet nach Ostberlin) so viel Kompromittierendes über die politische Führung der Bundesrepublik, dass ihn seine Mitwisserschaft vor dem Zugriff der bundesdeutschen Justiz schützt.

Kanter hat sich mit dem ebenfalls in Sachen Europa engagierten Manager Eberhard von Brauchitsch angefreundet, einem Erzkonservativen, der familiär eng mit dem milliardenschweren Flick-Industrieimperium verbunden und mit dem CDU-Politiker Kohl befreundet ist. Der Spross eines schlesischen Adelsgeschlechts wird zum Drahtzieher des bis heute größten Politikskandals im Nachkriegsdeutschland werden: der Parteispenden- und Flick-Affäre. Seinen Freund Kanter führt von Brauchitsch ein in die höchsten Kreise der westdeutschen Industrie und befördert ihn auf die Schlüsselposition eines Bonner Flick-Lobbyisten, von der aus der DDR-Spion tiefen Einblick hat in das westdeutsche Korruptionsgeflecht.

Zu vor hat Manager von Brauchitsch, versessen darauf, politische Entscheidungen zu seinen Gunsten und denen seiner Arbeitgeber zu beeinflussen, in Komplizenschaft mit Kanter ein System illegaler Schmiergeldaktionen und Steuertricksereien entwickelt und getestet, das später im Millionenstil betrieben wird. Gelegenheit dazu bietet ein von Kanter gegründetes Europa-Haus in Marienberg im Westerwald, eine internationale Informations- und Bildungsstätte für Jugendliche und Erwachsene. Die als gemeinnützig anerkannte Institution, über die Spenden steuerbegünstigt fließen, bietet Kanter mannigfache Möglichkeiten zum Ausbau seiner Beziehungen in Europa. Kanter und von Brauchitsch bedienen sich dabei der ebenfalls als gemeinnützig anerkannten »Europäischen Vereinigung für gegenseitigen Meinungsaustausch«, um Spenden einzusammeln, vorgeblich zur Unterstützung des Europa-Hauses. Tatsächlich erreichen die Gelder das Europa-Haus aber nicht, denn die »Europäische Vereinigung« hat nichts mit dem Europa-Haus zu tun. Die eingesammelten Spendengelder verschwinden in ganz anderen Richtungen, zum Beispiel in Richtung des aufstrebenden CDU-Manns Helmut Kohl und seinen Unterstützern in der Christenpartei.

So verknüpfen sich die Karrieren des Quartetts Kohl, Kanter, Wolf und von Brauchitsch. Kohl steigt in der CDU weiter auf, auch dank der Geldspritzen des Duos Kanter/von Brauchitsch. Dem Adligen gelingt dank der finanziellen »Pflege der Bonner Landschaft «, wie er seine Schmiererei nennt, der Aufstieg an die Spitze des Flick-Konzerns. Kanter gelangt in eine führende Position in der »Politischen Stabstelle der Geschäftsführung« des Milliardenkonzerns. Und Wolf festigt auch mittels der aufschlussreichen Berichte seiner Topquelle Kanter dauerhaft seine Stellung im DDR-System.

ERSTES KAPITEL
Der Unantastbare

Adolf Kanter, Direktor im »Europa-Haus e. V. Marienberg«, schreibt am 9. Juni 1965 an Dr. jur. Hanns Martin Schleyer, Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG:

»Sehr geehrter Herr Dr. Schleyer!

Auf diesem Wege nochmals sehr herzlichen Dank für den freundlichen Empfang am 26. Mai und das gute Gespräch, das ich bei dieser Gelegenheit mit Ihnen in Untertürkheim führen durfte. Besonders gefreut habe ich mich über die festgestellte Übereinstimmung mit Ihnen in der Grundkonzeption in unserer Arbeit. Solche ›moralische Spritzen‹ sind in unserem Bereich ab und zu auch sehr von Nöten. […]

Wegen unserer Wünsche an Ihr Haus wird sich Herr von Brauchitsch sicher in absehbarer Zeit mit Ihnen in Verbindung setzen.

Mit den ergebensten Wünschen verbleibe ich

Ihr Adolf Kanter«

Mit selbigem Datum unterrichtet Europa-Haus-Direktor Kanter den Herrn von Brauchitsch, Vorname Eberhard, von Beruf geschäftsführender Gesellschafter der milliardenschweren Friedrich Flick KG:

»Lieber Eberhard!

Das Gespräch mit Herrn Dr. Schleyer am 26. Mai war, glaube ich, sehr nützlich. […] Herr Dr. Schleyer hat mich mehrfach gebeten, ihm konkret unsere materiellen Wünsche vorzutragen. Ich habe darauf erklärt, […] daß Du als Vorsitzender unseres Freundes- und Fördererkreises Dich gelegentlich wieder an ihn wenden würdest.

Als Herr Dr. Schleyer dann nochmals auf die materiellen Dinge zu sprechen kam, meinte er, als von dem Jahresbeitrag von Mercedes-Benz im letzten Jahr von DM 4.000,– die Rede war, daß er es bei dem Gesamtvolumen unseres Umsatzes für möglich halten würde, daß eine stärkere Erhöhung des Zuschusses von Mercedes-Benz möglich wäre. […]

Mit den besten Grüßen von Haus zu Haus

Dein Adolf«

Am 29. Juni 1965 antwortet von Brauchitsch dem Direktor Kanter:

»Lieber Adolf,

[…] Vereinbarungsgemäß habe ich mich mit Herrn Dr. Schleyer in Verbindung gesetzt und ihm konkret die Bitte übermittelt, einen einmaligen Sonderbeitrag von DM 10.000,– und ein Kraftfahrzeug zur Verfügung zu stellen. Ich habe ihn gebeten, diese Sonderleistungen unter dem Gesichtspunkt seiner zukünftigen stärkeren personellen Beschickung der Tagungen in Marienberg zu behandeln. […] Ich habe ihm zugesagt, daß Du Dich dann direkt an ihn wendest, um ihm mitzuteilen, wer die Adressaten für die beiden Zuwendungen sein sollen.

So viel für heute.

Mit herzlichen Grüßen

Dein Eberhard«

Am 9. September 1965 schreibt Direktor Kanter dem Vorstandsmitglied Hanns Martin Schleyer, der als Vertrauensmann der Flick-Gruppe, des Daimler-Mehrheitsaktionärs, den Posten des Personalchefs hält und selbstverständlich ein offenes Ohr hat für Bitten des Flick-Gesellschafters von Brauchitsch. Kanter bedankt sich, »daß Sie bereit sind, für die Arbeit des Europa-Hauses Marienberg und der mit dieser Institution verbundenen Einrichtungen einen Mercedes-Wagen zu stiften. […]

Es ist am zweckmäßigsten, die Stiftung an unsere Vereinigung zu richten, da wir als ›Förderer-Vereinigung‹ der verschiedenen Einrichtungen tätig sind. Diese Regelung habe ich mit Herrn von Brauchitsch abgesprochen.

Bitte geben Sie uns den Wert der Stiftung an, damit wir Ihnen eine Spendenbescheinigung ausstellen können, denn bekanntlich sind wir ja als gemeinnützig anerkannt. Wann und wo dürfen wir das Fahrzeug übernehmen?« Mitte November 1965 holte Direktor Kanter persönlich den Benz, Typ 200 Limousine, in Sindelfingen ab.

Wie üblich gingen Kopien dieser Briefe per Kurier an die Zentrale des Auslandsgeheimdienstes der DDR, der Hauptabteilung Aufklärung (HVA) der Stasi, des Ministeriums für Staatssicherheit in Ostberlin.

Adolf Kanter, dem der – 1977 von der RAF ermordete – ehemalige SS-Hauptsturmführer und spätere Wirtschaftsboss Schleyer »moralische Spritzen« verpasste und einen Mercedes schenkte, jener Kanter, für den der Flick-Gesellschaft er von Brauchitsch bei den Spitzen der bundesdeutschen Industrie Spenden einwarb, er war der beste Mann des DDR-Spionagechefs Markus Wolf. Für die Machteliten der bundesdeutschen Republik war er der gefährlichste Gegner.

Kanter war »wesentlich wichtiger« für den Osten in den Zeiten des Kalten Krieges als Günter Guillaume, der Stasi-Spion bei Kanzler Willy Brandt. So urteilt Helmut Müller-Enbergs, der sich als Leiter der Spionageabwehr im Berliner Verfassungsschutzamt und als Experte der Berliner Stasi-Unterlagenbehörde einen Namen gemacht hat. Zwischen 1969 und 1989 war Kanter sogar »der fleißigste IM [inoffizieller Mitarbeiter, D. K.] der HVA überhaupt. 1.727 Informationen gingen auf ihn zurück, was durchschnittlich sieben Meldungen pro Monat entspricht«. Aus langen Gesprächen mit dem einstigen HVA-Chef (der Wolf von 1952 bis 1986 war) berichtete Müller-Enbergs dem Autor: »Markus Wolf hat den Kanter bewundert«, kaltblütig, diszipliniert sei Kanter gewesen, präzise aus Ostberlin zu steuern.


Spendensammler Kanter an Daimler-Vorstand Schleyer: »Wegen unserer Wünsche an Ihr Haus wird sich Herr von Brauchitsch sicher in absehbarer Zeit mit Ihnen in Verbindung setzen.«

In den geheimen Heerscharen des Markus Wolf war Agent Kanter einzigartig. Von der Gründung der Bundesrepublik an bis zum Fall der Mauer lieferte »Fichtel«, so sein Stasi-Deckname, Informationen nach Osten. Er war einzigartig, weil unter all den Stasi-Agenten allein Kanter es gelang, westdeutsche Politiker zu schmieren, sie durch Mitwisserschaft bei Zahlungen, die in die Millionen gingen, zu verpflichten und gefügig zu machen. Einzigartig, weil er es schaffte, Politiker quer durch die bundesdeutschen Parteien nicht etwa mit Mitteln aus der kargen Devisenkasse der DDR, sondern mit dem großen Geld westdeutscher Kapitalisten zu kaufen.

Einzigartig vor allem aber, weil er so viel belastendes Wissen über die korrupten politischen und wirtschaftlichen Eliten der alten Bundesrepublik erlangt hatte, dass er unantastbar, ja unverwundbar wurde.

Kanter schadete dem System der BRD nicht allein durch Weitergabe sensibler militärischer, wirtschaftlicher oder politischer Informationen. Die lieferte er auch: über die Verfilzungen der Unionsparteien mit Großkonzernen, über Organisation und Personal der gesamten Bundesverwaltung und des Bundeskriminalamts, über die NATO-Panzer der 1990er-Jahre und das Innenleben des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, über marktnahe Forschung und Entwicklung in der Mikroelektronik, über die Einschätzungen der westdeutsch-sowjetischen Beziehungen durch das Bundeskanzleramt oder über elektrische Antriebe für Kampffahrzeuge.

Kanter fügte der Bundesreplik Deutschland, dem DDR-Hauptgegner, weit schlimmeren, weil strukturellen, Schaden zu. Der Stasi-Agent im Bonner Flick-Büro war in streng vertraulichen Zirkeln des Konzerns dabei, war Mittäter und Mitwisser, wenn der Flick-Wirtschaftsgigant durch illegale Spendenmillionen für CDU, CSU, SPD und FDP das innere Gefüge der bundesdeutschen Demokratie beschädigte. Mit seiner wirtschaftlichen Macht und seinen Schmiergeldzahlungen hat der Flick-Konzern die Ablösung und die Bildung von Bundesregierungen beeinflusst, so den Sturz des SPD-Kanzlers Helmut Schmidt und die Machtübernahme durch CDU-Kanzler Helmut Kohl.

Nicht in einem einzigen Rechenschaftsbericht der Parteien ist der Flick-Konzern als Spender aufgeführt. Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht 1979 mit einem Urteil die Gefahr bannen wollen, anonyme Großspender könnten auf längerfristige Ziele oder Einzelentscheidungen einer Partei einwirken und so Einfluss auf die staatliche Willensbildung gewinnen. Dem Verfassungsgebot, dass die Parteien über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft zu geben haben, komme zentrale Bedeutung zu: »Es zielt darauf ab, den Prozess der politischen Willensbildung für den Wähler durchschaubar zu machen und ihm offenzulegen, welche Gruppe, Verbände oder Privatpersonen durch Geldzuwendungen auf die Parteien politisch einzuwirken suchen. Der Wähler soll über die Herkunft der ins Gewicht fallenden Spenden an politische Parteien korrekt und vollständig unterrichtet werden und die Möglichkeit haben, daraus Schlüsse zu ziehen.« Stasi-Agent Kanter half im Flick-Konzern kräftig mit, die bundesdeutschen Wähler unwissend zu halten und zu täuschen.

Wolfs Topmann aber richtete noch größeres Unheil an. Mit seinem umfassenden Wissen über Schmiergeldzahlungen brachte er die westdeutsche Politikerkaste dahin, dass sie bereit war, ihre Macht durch eine umfassende Amnestie für sich und ihre Geldgeber zu missbrauchen, die Verfassung zu brechen, Ideale und Werte – konservative zumal – zu verraten, den Rechtsstaat schwer zu verletzen, ja außer Kraft zu setzen. Und alles aus lauter Angst, Kanter könnte auspacken.

Gleichheit vor dem Gesetz? Unabhängigkeit der Justiz? Nicht so wichtig, wenn es galt, die eigene Gier vor der Öffentlichkeit zu verbergen und beim Wahlvolk die eigene Käuflichkeit zu vertuschen. Wann immer ein Staatsanwalt oder ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit richterlichen Befugnissen die Krallen nach Kanter ausstreckten, sie wurden von hoher und höchster Stelle im staatlichen Machtapparat gestoppt.

Kant er war der Schützling der Bonner Republik.

ZWEITES KAPITEL
Die haben bei dem gehorcht

An einem frühen Nachmittag im Frühsommer 1985 klingelte es an der Haustür. Peter Probst öffnete, zwei Unbekannte standen vor seinem Büro im modernisierten Altbau Schumannstraße 15 in der Bonner Südstadt. Die beiden Männer stellten sich vor: Sie seien vom Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln. Ob sie reinkommen dürften?

Die Verfassungsschützer wussten einiges über ihn, wie Peter Probst dem Autor berichtete: Er sei ja der Sohn des früheren Vizepostministers der DDR, Gerhard Probst, sei im Juli 1961 kurz vor dem Bau der Berliner Mauer in den Westen geflohen, arbeite jetzt als freier Journalist, spezialisiert auf DDR-Themen und Deutschlandpolitik. Die beiden hätten noch eine Weile um den eigentlichen Zweck ihres Besuchs herumgeredet. Etwa, was er ihnen über seinen Schwager Klaus Giersch sagen könne, der für die Stasi arbeite und in Dresden für die Wartung von Funktionärsautos zuständig sei, seinerzeit auch für den Dienstwagen des KGB-Manns Wladimir Putin? Ob er mit dem Schwager noch in Verbindung stehe? Probst verneinte. Die Männer kamen endlich auf den Punkt: Probst habe Kontakt zu einem gewissen Adolf Kanter.

»Ich solle mich vorsehen, haben die mich gewarnt«, so Probst heute. »Da gebe es ein Risiko für mich. Ich solle mich mit dem nicht einlassen und nicht für den arbeiten. Kanter sei auffällig geworden. Ich solle besser den Kontakt abbrechen.«

Sein Kontakt zu Kanter habe sich zufällig ergeben. 1984 von Berlin über München nach Bonn gekommen, habe er, Probst, für seine journalistische Arbeit ein Büro gesucht und im Aushang des Pressehauses I, Am Tulpenfeld, ein Angebot für die Welckerstraße, nahe bei Kanzleramt und Bundestag, entdeckt. Nach telefonischer Verabredung habe er sich dort mit dem Anbieter – dem Lobbyisten Adolf Kanter – getroffen. Der habe zwar viel Zeit für ein Gespräch gehabt, aber keinen Büroraum – der Aushang wäre wohl ein Trick gewesen, um Bonn-Neulinge kennenzulernen.

»Kanter hatte viel Interesse an meiner Biografie und meinem Themenschwerpunkt DDR, spielte den Antikommunisten, fragte nach meinen Kontakten in der DDR, ob ich ihm entsprechende Kontakte vermitteln könnte, was ich ablehnte. Er bot mir an, für seinen Info-Dienst zu schreiben, und bat um meinen Lebenslauf nebst Arbeitsproben.« Kanter habe dann Wochen später schriftlich sein Angebot zur Mitarbeit (es sei »der DDR-Sektor schon voll abgedeckt«) zurückgezogen. Seinen Kanter überlassenen Lebenslauf fand Probst nach der Wende in Kopie in seiner Stasi-Akte wieder, »den hat der sofort an das MfS weitergeleitet«.

»Wo her wussten die Kölner Abwehrleute vom Verfassungsschutz von meinem Treffen mit Kanter?«, fragt Probst. »Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Die haben bei dem gehorcht. Ganz klar, die wussten, was der trieb, die hatten Kanters Büro verwanzt.«

Wenn stimmt, was Probst berichtet – und es gibt keinen vernünftigen Grund, an der Korrektheit seiner Aussagen zu zweifeln –, dann hätte Stasi-Agent Kanter zehn Jahre früher enttarnt und abgeurteilt werden können. Dann wäre er nicht erst 1995 nach Zufallsfunden in Stasi-Akten vor Gericht gestellt worden und in einem Geheimprozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz mit einer auffallend milden Bewährungsstrafe von zwei Jahren davongekommen. In den Jahren des Kalten Krieges und des angespannten Verhältnisses zur DDR waren die Urteile in der BRD wegen Landesverrats wesentlich härter – Günter Guillaume, dem Spion in Willy Brandts Kanzleramt, hatten die Richter 13 Jahre, NATO-Spion Rainer Rupp zwölf Jahre Knast aufgebrummt.

1985 hätten der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heribert Hellenbroich, CDU, der für den Verfassungsschutz zuständige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, CSU, der Koordinator der bundesdeutschen Geheimdienste, Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble, CDU, und dessen Chef, CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl einen Prozess gegen Kanter nur wollen müssen. Sie wollten aber nicht, absolut nicht.

In jenen Zeiten, Mitte der 1980er-Jahre, wühlte die Parteispenden- und Flick-Affäre die Bundesrepublik auf. Auf Weisung aus Ostberlin hatte Kanter schon den aufstrebenden Jungpolitiker Helmut Kohl und dessen Unterstützertruppe in CDU und Junger Union mit Barem ausgestattet, herangeschafft mittels Spendentricksereien durch Kanter-Freund Eberhard von Brauchitsch. Der hatte dann den DDR-Agenten 1974 auf den Posten des Vizechefs der Bonner Stabsstelle der Flick KG gehievt und ihn so zum umfassend eingeweihten Mitwisser sämtlicher Schmiergeldzahlungen des Konzerns an bundesdeutsche Politiker befördert.

Kohl hatte sich im Lauf der Jahre Millionenbeträge, zum Teil in bar, illegal zustecken lassen, Schäuble war Mitwisser. So hat es der Generalbevollmächtigte der CDU-Schatzmeisterei, Uwe Lüthje, in einem im Jahr 2000 abgeschlossenen Bekenntnis aufgeschrieben. Laut Lüthje wurden 1982 in bar 4,5 bis 5 Millionen D-Mark unklarer Herkunft – »es könnten auch etwas mehr als 5 Mio. DM gewesen sein« – in schwarze Kassen verschoben, »auf Veranlassung von Helmut Kohl, in Anwesenheit von Wolfgang Schäuble«. Es war in diesen Zeiten, dass Kohl seinen Vertrauten Lüthje fragte, so dessen Niederschrift, ob er als Kanzler nicht »sicherheitshalber zurücktreten solle, ehe das Ergebnis staatsanwaltlicher Ermittlungen mich dazu zwingt«.

Lüthje schreibt über turbulente Tage im September 1982: »Kohl hatte das ›dringende Bedürfnis‹ – so er selber –, mich zu sprechen. Er schimpfte über Eberhard von Brauchitsch – EvB –, dessen Dummheit er es zu verdanken habe, dass er ausgerechnet jetzt mit Uralt-Spenden-Geschichten konfrontiert werde. Er hatte eine Spendenliste mit vier oder fünf Positionen vor sich […] Es waren das Spenden, die er von EvB jeweils in bar erhalten hatte. Mir war das alles neu. Von Bar-Spenden von EvB – und die dann auch noch an den Parteivorsitzenden – hatte ich nie gehört. Seine dringende Bitte an mich: Ich müsste mir ein Konzept und eine glaubwürdige Argumentation einfallen lassen für die Abwicklung dieser Spenden und ihre Weiterleitung in den Bereich der Schatzmeisterei. Dass dies in jedem Fall eine Argumentation an jeglicher Wahrheit vorbei sein würde, interessierte Kohl nicht; es wurde auch gar nicht darüber gesprochen.«

Eberhard von Brauchitsch bestätigt Lüthjes Angaben in seinen Erinnerungen von 1999, Der Preis des Schweigens: »Der Betrag von 30.000 DM«, den Kohls Büroleiterin Juliane Weber »persönlich bei mir abgeholt hatte, war in den Büchern der CDU nicht aufzufinden. Die Weitergabe eines Betrages von 25.000 DM vom März 1979 ließ sich ebenfalls nicht belegen.«

Es hätte Kohl mit ziemlicher Sicherheit den Kopf gekostet, wenn dann auch noch ans Tageslicht gekommen wäre, dass die Schmiergelder für ihn über Jahrzehnte hin mit Wissen und Hilfe eines Stasi-Agenten geflossen sind. Kanter, der sieben Jahre lang, bis 1981, als Flick-Lobbyist brisantes Wissen um die Korruptheit bundesdeutscher Politik aufgehäuft hatte, durfte nicht verhaftet werden. Einen Prozess, in dem Kanter hätte auspacken können, durfte es nicht geben. Schützling Kanter.

Dabei war der westdeutschen Spionageabwehr ein ordentliches Stück Fahndungsarbeit gelungen. Am 26. September 1983 hatte sich im Westberliner Hotel »Am Tauentzien« ein Gerhard Jennrich aus Altena/Westfalen, Europaring 19, ins Gästebuch eingetragen. Es handelte sich um den Wirtschaftswissenschaftler und Stasi-Agenten Dr. Werner Krüger, Deckname »André«. Er war der Verbindungsmann und Instrukteur Kanters alias »Fichtel«.

Krüger war mit der Identität eines tatsächlich existierenden Bundesbürgers unterwegs – eine beliebte Tarnung der Ostberliner Stasi-Zentrale. Doch diesmal funktionierte der Trick nicht. Die westliche Abwehr bekam rasch spitz, dass sich der wahre Jennrich zu Hause in Altena aufhielt. Krüger wurde beschattet, in Berlin am Bahnhof Zoo, im D-Zug 246, 1. Klasse, am 27. September 1983, Abfahrt 7.58 Uhr, über Helmstedt nach Hagen. Dort kaufte er eine Fahrkarte nach Andernach. Im Hauptbahnhof Köln stieg er aus, schlenderte zweieinhalb Stunden durch die Kölner Innenstadt. Weiterfahrt im Eilzug nach Andernach, Ankunft 19.07 Uhr. Im Taxi ließ sich der falsche Jennrich durch das Rheinstädtchen zum Mehrfamilienhaus Konrad-Adenauer-Allee 25 fahren. Zwei seiner Observanten drängten sich mit in den Aufzug, im vierten Stock stieg man aus. Krüger/Jennrich holte einen Schlüssel hervor, sperrte eine Wohnungstüre auf, schloss sie hinter sich und ward nicht mehr gesehen. Der Name auf dem Schildchen über der Klingel: Adolf Kanter.

DDR-Spionagechef Markus Wolf gibt in seinen Erinnerungen (Fußnote: MW Spionagechef im Kalten Krieg, List, 1997) die Abläufe wieder: Man habe eine »Eilmeldung von einer Quelle im Verfassungsschutz« erhalten: »Unser Kontaktmann zu Kanter, Dr. Werner K., gerade auf dem Weg in die Wohnung, die Kanter als Unterkunft für seinen regelmäßigen Besucher gemietet [falsch, Kanter hatte sie gekauft, D. K.] hatte, war enttarnt worden. Er stand seit dem Grenzübertritt unter Beobachtung. Die Beschatter folgten ihm bis vor die konspirative Wohnung. Seine Verfolger warteten noch mit dem Zugriff, weil sie natürlich K.s Gastgeber in flagranti überraschen wollten. In der Wohnung erreichten wir unseren Mann endlich, und es gelang ihm eine abenteuerliche Flucht. Wir fürchteten, eine unserer wichtigsten Quellen zu verlieren. Kanter mußte zum Verhör, dann aber wurden überraschend die Ermittlungen gegen ihn eingestellt. Unser Mann beim Verfassungsschutz, Klaus Kuron, gab Entwarnung: Auf höhere Weisung seien die Untersuchungen gestoppt worden.«

Markus Wolf liegt es fern, die ganze Wahrheit zu schreiben. Woher kam die »höhere Weisung«, von der Klaus Kuron berichtet hat? Kuron war beim Kölner Bundesverfassungsschutz für DDR-Spionageabwehr zuständig, wurde 1992 zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Flick-Manager von Brauchitsch hegte später, nach Kanters kurzzeitiger Verhaftung – er kam 1994 gegen eine Kaution von 150.000 DM gleich wieder frei – mehr als einen bloßen Verdacht: »Alles, was nach 1983 in Richtung Kanter lief, hätte dann faktisch unter Schutz gestanden – Naturschutzpark Kanzleramt, ein dolles Ding.« Kuron bestätigte den Verdacht. Er meldete seinem Stasi-Führungsoffizier Gunther Nels, die Ermittlungen gegen Kanter seien »auf Grund einer direkten, persönlichen Intervention« des Staatsministers im Kanzleramt, des engen Kohl-Freundes Philipp Jenninger, gestoppt worden.

Kohl hat dem Stasi -Agenten das Tor zum Kanzleramt weit geöffnet. »Der darf hier rein«, habe der Pfälzer nach seinem Einzug in die Bonner Regierungszentrale angeordnet, erinnerte sich Thomas Gundelach, der Bürochef des Staatsministers Jenninger. Kanter und Kohl waren alte Bekannte aus gemeinsamen Zeiten in den 1950er-Jahren bei der Jungen Union. Kanter war damals schon der Mann mit den Spendengeldern.

»Jenninger hat mir gesagt«, berichtete Gundelach im Gespräch mit dem Autor weiter, »der Kanzler hat mich gebeten, mich um Kanter zu kümmern.« Ihm, Gundelach, habe Jenninger dann aufgetragen: »Wenn ich keine Zeit habe, setzen Sie sich mit dem zusammen.« Von seinen »gelegentlichen« Zusammentreffen mit Kanter im Kanzleramt hat Gundelach einige Eindrücke bewahrt: »Ein unscheinbarer Mann. Leise und höflich. In Auftreten und Kleidung eher unterwürfig mit dem Gehabe eines Sachbearbeiters, das dazu einlud, ihn zu unterschätzen. Hatte etwas Lauerndes, Schleichendes an sich, ein Typ für die Hintertreppe, der die Öffentlichkeit meidet. Aber auch einer, der geduldig und beharrlich ausfragen konnte.«

Wie auch, ohne massiven Eingriff von oben, hätte die Flucht von Kanters Verbindungsmann Krüger/Jennrich aus Andernach gelingen sollen? Richter Joachim Vonnahme, der Kanter am 23. März 1995 statt zu drei Jahren Gefängnis, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, lediglich zu milden zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilte, schildert in seiner geheim gehaltenen Urteilsbegründung den Ablauf der wundersamen Rettung: »Dr. Krüger bemerkte die Beschattung jedoch. Von Andernach aus setzte er sich deshalb telefonisch mit dem Angeklagten in Verbindung, schilderte ihm den Sachverhalt und erklärte ihm, daß er unverzüglich die Heimreise antreten wolle. Dieser holte ihn darauf vereinbarungsgemäß mit dem PKW ab und brachte ihn zum Bahnhof in Koblenz, von wo aus Dr. Krüger nach Hause zurückfuhr. Zwei Versuche, ihn in der Wohnung in Andernach festzunehmen, blieben erfolglos, da sich zu den Zeitpunkten der beiden polizeilichen Durchsuchungen niemand dort aufhielt.«

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