Kitabı oku: «Der Schützling», sayfa 2
So viele Ungereimtheiten, und dem Richter sollen sie entgangen sein? Da verfolgten die Staatsschützer Kanters Kontaktmann von Berlin aus quer durch die Bundesrepublik, 25 Beamte aus vier Bundesländern wechselten sich ab. Man hatte es mit einem Profi zu tun, das war ihnen klar.
Die Fahnder hielten im Protokoll über die Beschattung der Zielperson (ZP) in Köln fest: »Alias Jennrich bewegte sich mehrere Stunden in der Innenstadt, wobei er z. B. in einer menschenleeren Straße durch Umdrehen die ihm in Entfernung folgenden Observanten musterte. Dieses Verhalten wiederholte sich. Man konnte davon ausgehen, daß es sich bei der ZP um einen geschulten Inoffiziellen Mitarbeiter handelte.«
Man hatte die Zielperson abends endlich in der Konrad-Adenauer-Allee 25 in Andernach eingekesselt. Und dann soll Kanter mal eben mit dem Auto den falschen Jennrich einsammeln können und zum Bahnhof ins 19 Kilometer entfernte Koblenz chauffieren? Ohne verfolgt und in flagranti mit dem Stasi-Agenten gestoppt zu werden?
Und die Polizei kam, sogar zweimal – zu spät. Sie drang in die konspirative Wohnung ein, aber die war und blieb leer. In einem Schranksafe fand sich lediglich eine handgeschriebene Botschaft für Wohnungsinhaber Kanter. Gefragt wurde nach »wirtschaftlicher Entwicklung«, nach »Auswirkungen der Korruptionsaffäre« in Bonn – gemeint war der Flick-Skandal –, nach Verbindungen der damals regierenden Koalition aus CDU/CSU und FDP zu »führenden Industrie- und Wirtschaftskreisen«.
Richter Vonnahme hat sich offenkundig mit solchen Ungereimtheiten nicht plagen mögen. Der Autor hat ihn 2018 gefragt, ob er durch die Politik unter Druck gesetzt worden sei? Er hat die Frage nicht mit einem klaren Nein beantwortet. »Dazu sage ich nichts.«
In die Einzelheiten ging der Richter in seinem Urteilstext lieber bei Nebenaspekten: »Um dem Angeklagten im Falle der erwarteten polizeilichen Nachforschungen ein Alibi zu verschaffen, ließ Dr. Krüger ihm unter dem Datum des 19. November 1983 einen Brief zukommen, in dem ein ›Hans Frank‹ aus Basel sinngemäß erklärte, er habe überstürzt aus der ihm zur Verfügung gestellten Mansarde des Angeklagten abreisen müssen, da seine Mutter überraschend in ein Krankenhaus eingeliefert worden sei. Nach deren Tod müsse er jetzt den Nachlass regeln, so daß die geschäftliche Zusammenarbeit mit dem Angeklagten für längere Zeit unterbrochen werden müsse. Diese Ausführungen entsprechen, wie auch der Angeklagte wußte, nicht der Wahrheit.«
»Etwa zehnmal pro Jahr« sei es laut Vonnahme seit den 1970er-Jahren zu konspirativen Treffen zwischen Kanter und Krüger gekommen: »Nachdem sich Dr. Krüger über die Unannehmlichkeiten der häufigen Hotelaufenthalte beklagt hatte, einigte man sich im Jahre 1975 darauf, die Begegnungen künftig in dem Anwesen Kanters in Andernach stattfinden zu lassen. Dort betrieb die Schwester Agnes L. des Angeklagten eine Pension, während der Angeklagte einen Schlaf- und einen Büroraum im zweiten und dritten Stock nutzte, die er Dr. Krüger bei dessen Besuchen zur Verfügung stellte. Ende 1981 übertrug der Angeklagte seinen Anteil an dem Gebäude auf seine Schwester und erwarb als Nebenwohnsitz eine Eigentumswohnung in der Konrad-Adenauer-Allee in Andernach, wohin von da an auch die weiteren Zusammenkünfte verlegt wurden. Der Angeklagte händigte Dr. Krüger zu diesem Zweck einen Wohnungsschlüssel aus und stellte ihm ein Zimmer zur Verfügung, in dem er ständig persönliche Sachen deponieren konnte. Somit konnte Dr. Krüger die Wohnung auch dann jederzeit betreten, wenn der Angeklagte wie gewöhnlich tagsüber arbeitete und nur abends verfügbar war. Die Aufenthalte Dr. Krügers erstreckten sich in der Regel über drei bis vier Tage.«
Die Flucht aus Andern ach war Krüger dank Hilfe von ganz oben geglückt. Beim Grenzübertritt am nächsten Tag hätten die westdeutschen Sicherheitsbehörden den falschen Jennrich noch greifen können. Man versuchte es nicht einmal. Erst als Krüger wieder zurück in Sicherheit in der DDR war, bequemte sich der Generalbundesanwalt am 29. September 1983 unter dem Aktenzeichen 7 BJs 225/83 ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Nicht etwa gegen den Inhaber der konspirativen Wohnung und Fluchthelfer Kanter. Sondern »gegen unbekannt«.
Kanter wurde mehrfach von Beamten des Bundeskriminalamtes angehört. Er tischte den Ermittlern eine dünne Geschichte auf und kam damit durch: Ja, er kenne diesen Mann, den die Fahnder als »Jennrich« kannten. Der habe sich ihm vor langer Zeit vorgestellt als Journalist aus Basel mit dem Namen »Dr. Hans Frank«. Er habe zu ihm Vertrauen gefasst und ihm einen Schlüssel zu seiner Wohnung überlassen und ihn spät in der Nacht zum Koblenzer Bahnhof gefahren.
Am 31. Oktober 1984 stellte die Bundesanwaltschaft das Verfahren ein, nach § 170 Strafgesetzbuch mangels »genügendem Anlass« für eine Anklage. Konkrete Gründe für die Einstellung des Verfahrens will die Bundesanwaltschaft auch heute nicht nennen; Akteneinsicht verweigerte sie. Dabei hätten Bundesverfassungsschutz und Bundesregierung 1985 eigentlich einen Erfolg der Spionageabwehr gut gebrauchen können. Der Kölner Behörde war, peinlich, peinlich, in der Abteilung »Spionageabwehr« ausgerechnet der Leiter des Referats »Nachrichtendienste der DDR«, Regierungsdirektor Hansjoachim Tiedge, abhandengekommen. Der alkoholkranke, stark übergewichtige Diabetiker war in die DDR übergelaufen. Warnzeichen – Führerscheinverlust wegen Trunkenheit, Überschuldung, Gehaltspfändungen, Verwahrlosung der Kinder – hatte die Amtsleitung nicht ernst genommen. Über einen Auftritt Tiedges bei einem Grillfest des Bundeskriminalamtes im Sommer 1984 berichtete ein Kollege aus der Abteilung Geheimschutz später, der Regierungsdirektor habe gegen 22.00 Uhr ein »jämmerliches Bild« geboten, in einem »von der Kleidung her ziemlich desolatem Zustand, die Hose offen, von oben bis unten mit Soße bekleckert«.
Wer also sorgte für die Einstellung des Ermittlungsverfahrens? Es war wohl Philipp Jenninger, der Freund Kohls und Kanters. Gleich zwei Verfassungsschützer, Klaus Kuron und Hansjoachim Tiedge, beide zur DDR übergelaufen, zeigten aufgrund ihrer Kenntnisse aus der Kölner Zentrale des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf Jenninger als großen Hintermann, der schützend seine Hand über Kanter gehalten habe. Dem Kanzleramtsminister konnte nicht daran gelegen sein, dass es zum Stasi-Skandal und großen Krach mit Ostberlin wegen Kanter kam. Unbehelligt machte Kanter weiter, und die westdeutsche Abwehr schaute weiter weg. Womöglich noch aus anderem Grund.
Stasi-Forscher Helmut Müller-Enbergs hat in den sichergestellten Akten eine sonderbare Entdeckung gemacht. Auf Anraten von Markus Wolf habe sich Kanter zu Beginn der 1950er-Jahre beim rheinland-pfälzischen Verfassungsschutz beworben. So stehe es in einem Bericht, den Wolf über seinen Agenten »Fichtel« verfasst habe. Im Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit sei damals Panik ausgebrochen, weil der Auslandsgeheimdienst HVA von Westagenten unterwandert worden sei. HVA-Chef Wolf war gehalten, über jeden seiner Kundschaft er ein detailliertes Dossier zu liefern. Kanter ein Mehrfachagent, der an die Geheimdienste der beiden Deutschlands lieferte und dazu noch, zumindest zeitweilig, an die Geheimen der Besatzungsmächte Frankreich und USA? Das könnte mancherlei erklären.
Kanter blieb nach dem Andernacher Zwischenfall unangetastet. Obwohl das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz ihn eindeutig als Stasi-Agenten enttarnt hatte. Der für den Inlandsgeheimdienst zuständige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann berichtete am 18. Dezember 1985 dem Innenausschuss des Bundestags vom »Bekanntwerden eines Spionagefalls, wonach ein illegaler eingeschleuster Agent eines östlichen Nachrichtendienstes über zehn Jahre lang unter anderem den Flick-Konzern ausgeforscht haben solle«. So ist es in der Bundestagsdrucksache 10/6584 festgehalten, dem Bericht des zweiten Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages zu Fragen der Spionageabwehr.
Der Präsident des Bunde sverfassungsschutzes, Heribert Hellenbroich, habe schon zuvor, am 19. Dezember 1984, so steht es weiter in dem Bericht des Untersuchungsausschusses, den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Carl-Dieter Spranger (CSU), gewarnt: »Er wies auf einen Namen hin, der im Zusammenhang mit einem möglichen Spionagefall im Hause Flick genannt worden war.« Auch noch im Jahre 1986 notierten die Kölner Abwehrbeamten in einem Geheimvermerk, Kanters Wohnung müsse »als Stützpunkt des MfS angesehen« werden.
Am 22. Januar 1986 veröffentlichte die Welt einen Vermerk des Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes Hellenbroich aus dem Jahre 1984. Der Chef der bundesdeutschen Spionageabwehr war vom Parlamentarischen Staatssekretär Spranger, CSU, aufgefordert worden, sich um mögliche Verstrickungen des Flick-Managers von Brauchitsch in östliche Geheimdienste zu kümmern. Hellenbroich erläuterte später, er habe dies so verstanden, dass geprüft werden solle, »ob Herr von Brauchitsch ein KGB-Agent sein könne«, also für den sowjetischen Geheimdienst tätig sei. Laut Welt hielt Hellenbroich in einer Aktennotiz fest: »Am 5. Dezember beauftragte mich Spranger, Erkenntnisse über von Brauchitsch zusammenzustellen. Gibt es in diesem Zusammenhang irgendwelche Hinweise auf active measures im Zusammenhang mit der Spendenaffäre?« Auf den Rand des Vermerks habe Hellenbroich, so die Welt weiter, von Hand einen Namen geschrieben: »Kanter«.
Schützling Kanter schlug zurück. Kaltblütig, dreist. Er zwang die Zeitung zum Widerruf. Am 8. Februar 1986 druckte die Welt ein Schreiben des Stasi-Agenten: »Nur noch als absurd empfinde ich die Unwahrheiten, die in jenem Artikel über meine Person und meine persönlichen Verhältnisse kolportiert worden sind. Als ›Spion für östliche Geheimdienste‹ sei ich vor einiger Zeit ›aufgeflogen‹, wird da behauptet. Mir ist natürlich nicht bekannt, wer sich solchen Unsinn aus den Fingern gesogen hat. Geheimdienste östlicher Provenienz kenne ich aus Filmen, Büchern und einschlägigen Fernsehserien. Mit anderen Worten: Die WELT scheint Opfer fremder Phantasien geworden zu sein.«
Die Redaktion setzte ihre Entschuldigung darunter: »Unser Leser hat recht. Sein Name ist aufgrund eines Versehens in diesen Zusammenhang gebracht worden. Die WELT bedauert das.«
Und es kam noch besser für Kanter, so Memoirenschreiber von Brauchitsch. Von CSU-Spranger verlangte der DDR-Agent eine »ehrenrechtliche Wiedergutmachung«. Aus dessen Bundesinnenministerium wären ihm schon öfters Kontakte zu Geheimdiensten nachgesagt worden; er bestehe auf Kenntnis sämtlicher Daten, die über ihn vorlägen. Spranger solle ihm mitteilen, welche Maßnahmen man ergreifen werde, »um meine durch die Verlautbarungen Ihres Hauses verletzte Ehre wiederherzustellen«. Andernfalls sehe er sich gezwungen, »die Rechtmäßigkeit Ihres behördlichen Verhaltens in diesem Punkt streitig überprüfen zu lassen«.
Kanters Ehre sollte bald wieder glänzen, auch dank des furiosen Einsatzes von Helga, der Ehefrau des Kanter-Kumpels von Brauchitsch. Sie warf sich in gleichlautenden Briefen an Bundeskanzler Kohl und Bundesinnenminister Zimmerman für ihren Gemahl ins Zeug. Unter Anspielung auf gern angenommene Spendengelder schrieb sie am 28. Januar 1986: »[…] Wie ist es möglich, dass hinter dem Rücken eines Mannes, dessen Fähigkeiten und Tatkraft Sie so oft und gern zum Wohl der Allgemeinheit und des Staates in Anspruch genommen haben, der Verdacht ausgelöst wurde, er sei ein Agent eines ausländischen Geheimdienstes? Sie müssen mir erlauben, daß sich nun meinerseits der Verdacht aufdrängt, Sie hätten bei all diesem nur politische Macht im Sinn gehabt und die Verfassung unserer Republik sowie die Grundrechte seiner Bürger nicht geachtet, wie man es von Ihnen erwartet.«
Kohl antwortete der »lieben Helga« noch am selben Tag »mit großer Betroffenheit«. Das Innenministerium habe klargestellt, »daß zu keinem Zeitpunkt irgendein Gedanke dergestalt existierte, daß gegen Deinen Mann Anhaltspunkte für Landesverrat oder Ähnliches bestanden haben«.
Der für die Verdachtsan frage verantwortliche Spranger erinnert sich: »Da ist alles ganz schnell totgemacht worden.« Nicht nur von Brauchitsch, sondern auch Kanter bekam seine Ehrenerklärung.
Der beamtete Staatssekretär des Innenministeriums, Hans Neusel, bescheinigte dem Stasi-Agenten am 11. März 1986 schriftlich, »ausnahmsweise«, denn der Verfassungsschutz gebe Privatpersonen grundsätzlich keine Auskünfte, »bin ich in Ihrem Falle jedoch bereit, Ihnen mitzuteilen, daß Ihre Person in den Unterlagen des Ministeriums und der Sicherheitsbehörden des Geschäftsbereichs lediglich im Zusammenhang mit Ihrer Zeugenschaft in einem auch Ihnen bekannten Ermittlungsverfahren gegen unbekannt vermerkt ist.«
»Der Brief des Staatssekretärs«, schreibt von Brauchitsch weiter in seinen Erinnerungen, »war wahrscheinlich das schönste Geschenk, das Adolf Kanter je erhalten hat.«
DRITTES KAPITEL
Der Geheimprozess
Die Bonner Redaktion des Spiegel hatte zu Zeiten des Kalten Krieges ihr Büro in einem viergeschossigen Zweckbau an der Ecke Dahlmannstraße/Welckerstraße, mitten im Regierungsviertel der Bundeshauptstadt am Rhein. Aus den Fenstern nach Westen ging der Blick auf das Nachbarhaus an der Welckerstraße, zweistöckig, gebaut in den 1950er-Jahren, die neonhellen Räume belegt von Fachverbänden und Informationsdiensten. Wer da ein- und ausging? Für uns vom Spiegel nicht interessant. Man beachtete die Leute gegenüber nicht und grüßte sich nicht.
Das war ein Fehler. Wir haben uns um die Gelegenheit gebracht, den erfolgreichsten und einflussreichsten deutschen Spion jener Jahrzehnte der Teilung Deutschlands kennenzulernen. Wir hätten die Bekanntschaft eines stets oberflächlich freundlichen, unauffälligen Mannes machen können, nicht klein, nicht groß, dicklich, stattlich, das nach hinten gekämmte Haar gelichtet, Hornbrille, Typ Sachbearbeiter im grauen Anzug, immer mit Krawatte, leise und höflich. Das war Adolf Josef Kanter, 41 Jahre lang Agent Ostberlins, vorübergehend festgenommen erst nach dem Ende der DDR, gestorben 2004 in einem Altenheim in Vallendar am Rhein als 79-jähriger Pflegefall nach einem Treppensturz, eine der wichtigsten Quellen der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), von 1974 bis 1981 Prokurist und stellvertretender Leiter der Politischen Stabsstelle der Geschäft sführung des milliardenschweren Flick-Konzerns am Sitz der Bundesregierung in Bonn, Job: vertrauliche Informationen beschaffen, Politiker schmieren, politische Entscheidungen kaufen.
Kanter gehörte zu den mächtigsten Wissenden von Bonn, er war einer der wenigen, die über sehr viele Leute in Parteien, Parlament und Regierung sehr viel wussten, das keinesfalls nach draußen dringen durfte. Er hatte viel Geld zur Verfügung. Er hatte einen guten Draht zu Helmut Kohl. Stasi-General Markus Wolf hat Kanter in den Rang Günter Guillaumes, des DDR-Spions an der Seite Willy Brandts, erhoben: »Seine Informationen waren kaum weniger wertvoll.« Und Kanter lieferte viel, viel mehr als Guillaume. Bei Enttarnung Guillaumes trat der SPD-Bundeskanzler zurück, der Stasi-Agent hatte zu viel Intimes mitbekommen, der westdeutsche Regierungschef hätte bloßgestellt werden können – für den späteren CDU-Kanzler Kohl ein abschreckendes Beispiel, ein Schicksal, das er sich in jedem Fall ersparen wollte.
Dabei hatte »Hansen« – Guillaumes Deckname – in den Jahren zwischen 1969 und 1974 lediglich 45 Berichte nach Ostberlin geschickt. Kanter brachte es in vier Jahrzehnten auf eine vierstellige Zahl Dossiers. Seine – beim DDR-Zusammenbruch vernichtete – Akte bei der Stasi füllte 36 Ordner mit mehr als 14.400 Blatt. Kanter wurde von der Stasi-Spitze als dermaßen wichtig eingestuft , dass selbst im Kriegsfall die Verbindung zu ihm aufrechterhalten bleiben sollte. Eine Bedeutung, die nur wenigen Quellen im Ausland zugemessen wurde.
Kanter sei sogar »wesentlich wichtiger« für den Osten in der Ära des Kalten Krieges gewesen als Guillaume. So das Urteil des Berliner Abwehrchefs Helmut Müller-Enbergs. Seine Fachkenntnis stellte der Stasi-Forscher wiederholt unter Beweis, so enttarnte er den Westberliner Polizisten Karl-Heinz Kurras (er erschoss 1967 den Studenten Benno Ohnesorg bei einer Schah-Demo) als Stasi-Agenten. Müller-Enbergs befand über den Kanzlerspion Guillaume: »Der war nicht mal Mittelklasse«, ein »Medienprodukt«, ohne hervorragende nachrichtendienstliche Qualitäten. Müller-Enbergs berichtete dem Autor aus langen Gesprächen mit dem HVA-Chef 2005, ein Jahr vor dessen Tod: Wolfs Erfahrung nach hätten seine Späher im Durchschnitt zehn Jahre durchgehalten, dann wären sie vom Doppelleben zermürbt gewesen. Kanter alias »Fichtel« aber hätte vier Jahrzehnte lang geliefert, kaltblütig, diszipliniert. Besonders geschätzt habe Wolf, wie genau dieser Agent zu steuern gewesen sei. Erst habe Ostberlin ihn als A-Quelle, als Abschöpfungsquelle, auf die sich herausbildende Europaszene in Westdeutschland angesetzt, danach dann auch noch auf die CDU um Helmut Kohl in Rheinland-Pfalz, in beiden Bereichen mit immensem Ertrag an aufschlussreichen Informationen aus seinen zielstrebig auf- und ausgebauten Netzwerken von auszuhorchenden Kontaktpersonen.
Wie aus Ostberlin aufgetragen, brachte sich Kanter in die nach Kriegsende aufblühende Europa-Bewegung ein, verschaffte sich Zugang sogar zu Walter Hallstein, dem deutschen ersten Vorsitzenden der Brüsseler Kommission der Europäischen Wirtschaft sgemeinschaft (EWG). Zugleich gelang es »Fichtel«, sich an Kohl und seinen Unterstützerkreis heranzumachen. Kohls Herz für Kanter ließ sich mit einem Wort erklären: Geld. In den frühen Kampfjahren gegen die CDU-Altvorderen im Bundesland Rheinland-Pfalz hat Kanter dem Jungmachtmenschen Spenden aus dubioser Quelle zugeschoben, auch damals schon aus Kassen, die dem neu gewonnenen Kanter-Freund Eberhard von Brauchitsch, dem späteren Flick-Generalbevollmächtigten, offenstanden. Kohl, zum Mainzer Ministerpräsidenten aufgestiegen, zeigte sich erkenntlich, bewahrte über seinen Justizminister und durch Eingriff in das Rechtssystem den Geldbeschaffer Kanter vor Ungemach, als dem Schützling ein scharfer Staatsanwalt auf den Fersen war. Erst recht galt es, den Goldjungen Kanter pfleglich zu behandeln, als der von 1974 an im Bonner Flick-Büro saß, das wesentlich beim Verteilen der Schmiergelder in Millionenhöhe – bar natürlich, ohne Quittung – mitzureden hatte. Von Anbeginn an berichtete Kanter auf das Genaueste der Stasi-Zentrale, wie und was da lief in der BRD zwischen Kapital und Politik und wie sich westdeutsche Politiker mit ihrer Käuflichkeit unter Druck setzen ließen.
Sein Haus in der Lindenstraße 19 in Hangelar nahe Bonn nutzte Kanter als Spionagehilfsmittel: Er hörte seine Mieter ab. 1970 hatte er einen ganz besonderen Fang gemacht: Egon Bahr zog bei Kanter ein. Bahr, zu jener Zeit Staatssekretär im Bundeskanzleramt, war ostpolitischer Stratege, engster Berater und Freund des SPD-Kanzlers Willy Brandt. Der setzte ihn als Chefunterhändler für die auf Verständigung zielenden Ostverträge mit der Sowjetunion und Polen ein. »Es gelang uns sogar«, berichtet Markus Wolf in seinen Memoiren, »im Privathaus Egon Bahrs Abhöranlagen zu installieren. Wir belauschten ihn dort bei ebenso geheimen wie freimütigen und oft auch fröhlichen Gesprächen mit seinen sowjetischen Partnern. So wusste ich bisweilen wahrscheinlich vor dem Bundeskanzler, mit wie viel Geschick der Unterhändler über seine konspirativen Kanäle die Verhandlungen vorantrieb. Die ›Verwanzung‹ seines Hauses, die uns im Verlauf von Reparaturarbeiten gelang, war ein seltener Glücksfall. Trotz einigem Aufwand glückten uns solche Operationen nur sehr selten. Nach einiger Zeit blieben alle Mikrofone in Bahrs Haus mit einem Schlag stumm. Ich vermute, daß unsere sowjetischen Freunde etwas gemerkt und Egon Bahr gewarnt hatten, denn Moskau paßte es gar nicht ins Konzept, daß die DDR-Führung allzuviel über die Annäherung der UdSSR an Bonn erfuhr.« Über den Vormieter Bahrs, auch eine für Ostberlin höchst interessante Zielperson, schwieg sich Wolf aus.
Bahr hatte in Kanters Haus einige Male mit Willy Brandt die Köpfe zusammengesteckt, um die nächsten Züge in der Ost- und Entspannungspolitik abzusprechen. Wolf hatte also dank Kanter den Sowjets, mit denen er laut Müller-Enbergs enger zusammenarbeitete, als er zugeben mochte, einiges an Informationsleckerbissen zu bieten. Doch auch Wolf wurde manipuliert. »Egon Bahr wusste schließlich«, erinnert sich Christiane Leonhardt, eine von Bahrs Partnerinnen in den 1970er-Jahren, »[…] dass das Haus total verwanzt war. Er hat das des Öfteren gesagt und er hat sich einen Spaß daraus gemacht, den Lauschern im Osten gezielt Infos über Absichten und Schachzüge und so zukommen zu lassen. Egon Bahr hat denen die Wanzerei nicht groß übel genommen.« Aber dass sein Vermieter hinter der Abhörerei stecken könnte, darauf sei Bahr bei all seinem Scharfsinn nicht gekommen.
Zumal der ein besonders netter Kerl zu sein schien, wie sich auch später zeigte. In Flicks Lobbybüro an der Bonner Hausdorffstraße gehörte es zu Kanters Aufgaben, für die Düsseldorfer Konzernzentrale Vorschlagslisten jener Politiker mit klebrigen Händen in Regierung, Parlament und Parteien zusammenzustellen, die ihrer industriefreundlichen oder rechtskonservativen Haltung wegen finanziell gefördert oder deren Gunst, wenn es den Interessen des Konzerns diente, durch »inoffizielle Zahlungen« gekauft werden sollte. In einer dieser Listen der Flick-Zentrale über »Inoffizielle Zahlungen« aus dem Jahre 1978 standen der Betrag 40.000 und der Name Egon Bahr, knapp vier Wochen, nachdem die Bonner SPD/FDP-Regierung dem Konzern beim Verkauf seiner Daimler-Anteile Steuerersparnisse in Höhe von Hunderten Millionen D-Mark spendiert hatte. Der Staatsanwaltschaft gegenüber wird Bahr später erklären, er könne sich das nicht erklären.
Am 3. Juli 1978 hatte sich Bahr, damals SPD-Bundesgeschäftsführer, mit von Brauchitsch getroffen. Es ging um die steuerbefreite Wiederanlage des Erlöses aus Flicks Verkauf von 29 Prozent der Daimler-Aktien nach § 6b des Einkommensteuergesetzes. Der Flick-Manager zitiert in seinem Buch Der Preis des Schweigens aus seinen Notizen über die Unterredung im Wortlaut: »Bahr nannte unsere 6b-Anträge eine ›Schummelei‹.« Aber Bahr habe das Gespräch mit ihm nicht gesucht, weil er ihn habe beschimpfen wollen. In Bahrs Bundestagswahlkreis Flensburg habe der zu Flick gehörende Feldmühle-Konzern viele Arbeitsplätze geschaffen. »Bahr will einen Teil der Feldmühle-Investitionen zur Sicherung des Werkes Flensburg. Als alter Stratege faßt er das Ganze über 6b an, um seine Scheibe Wurst sicherzustellen. – Er bekommt sie. Nur weil einige Abgeordnete in ihren Reihen so tapfer Widerstand geleistet hatten, konnte die SPD doch nicht leer ausgehen.«
Kanter war beim Flick-Konzern durch Freund von Brauchitsch in die Schlüsselstellung eines Prokuristen und Vizechefs der Politischen Stabsstelle der Geschäftsführung am Sitz der Bundesregierung geschoben worden. Firmengründer Friedrich Flick hatte im Zweiten Weltkrieg sein Industrieimperium zum größten deutschen Rüstungsunternehmen ausgebaut, von dem er wesentliche Teile über den Zusammenbruch hinüber retten konnte. Als Kriegsverbrecher verurteilt, dank seiner Beziehungen und Mittel vorzeitig aus der Haft entlassen, war der Kriegsgewinnler rasch wieder an die Spitze der westdeutschen Industrie gelangt.
Hatte Flick die Nazis und die SS, Adolf Hitler und Heinrich Himmler mit Millionenbeträgen geschmiert, um Rohstoffe aus der Kriegsbeute und Rüstungsaufträge zu ergattern, machte sich der Alte, wie später sein Sohn Friedrich Karl, auch die Bundestagsparteien und ihre Spitzenpolitiker durch Millionenzahlungen gefügig.
Gesteuert wurde der breite Fluss der Gelder zur »Pflege der politischen Landschaft«, wie von Brauchitsch das nannte, aus dem geräumigen Büro des Chefbuchhalters Rudolf Diehl im ersten Stock der Düsseldorfer Flick-Zentrale. Diehl führte penibel Buch über die Zuwendungen, die Listen fielen in die Hände von Staatsanwaltschaft und Steuerfahndung. Die Flick-Affäre platzte auf, 1981 wurde das Bonner Lobbybüro geschlossen, von Brauchitsch gefeuert, ein neues Management bestellt. Diehl war es, der die Geldscheinbündel aus seinen schwarzen Kassen in Aktenkoffer gepackt hatte, Diehl waren die entsprechenden Weisungen von oben, meistens per Telefon, zugegangen, Diehl war eine Schlüsselfigur der Korruptionsunkultur des Milliardenkonzerns. Und deshalb für Markus Wolf besonders interessant. Bis dato nicht bekannt: Es gibt gewichtige Indizien, dass die Stasi Büro und Telefon Diehls mit Kanters Hilfe verwanzt hatte.
Bernd Würthener, einst Revisor und Finanzvorstand bei den Buderus-Eisenwerken, einer Tochterfirma des Flick-Imperiums, schilderte dem Autor jene turbulenten Tage um den Jahreswechsel 1982/83. Sonntags sei in den Fernsehabendnachrichten gemeldet worden, dass Hans Werner Kolb, der Vorstandsvorsitzende von Buderus, zum Nachfolger des geschassten von Brauchitsch als persönlich haftender Gesellschaft er bei Flick berufen worden sei. Am nächsten Morgen habe ihm der Chef am Telefon befohlen: »Sie kommen mit mir nach Düsseldorf, wir müssen den Sauladen reinigen.« In der ersten Vorstandssitzung in der viergeschossigen Flick-Zentrale in Düsseldorf-Oberkassel habe ihn Kolb auf den Stuhl neben sich platziert, ein Signal, welches Gewicht er dem Revisor beimesse. »Sie prüfen alle und alles durch«, sei Kolbs Vorgabe gewesen. Auf Würtheners Frage, in welchem Büro er denn tätig werden könne, habe Kolb geantwortet: »Gehen Sie durchs Haus und nehmen Sie sich, was Ihnen gefällt.« So sei er, berichtete Würthener, zu Diehls Büro gekommen, »das stand leer, der war ja im Gefängnis«.
»Als Technikfreak« habe er bald gemerkt, »da stimmt was nicht mit Diehls Telefon«. Beim Mittagessen habe er zu Kolb gesagt: »Ich glaube, wir werden abgehört. Was sollen wir tun?« Kolb habe kurz von einem seiner billigen Schmöker, die er gerne beim Essen las, aufgeblickt und gesagt: »Trauen Sie keinem hier in dem Unternehmen, holen Sie sich Hilfe von außen.« Er habe drei Spezialisten kommen lassen, und die seien bald fündig geworden: Wanzen im ersten Stock, Aufzeichnungs- und Übermittlungsgeräte im Keller. »Wir haben niemanden informiert, im Hause nicht und auch nicht den Staatsschutz.«
Wer steckte dahinter? Ihre größte Angst sei gewesen, sagte Würthener, dass es die RAF gewesen sein könne. Der Mord an Hanns Martin Schleyer sei ja nicht lange her, die Furcht vor der Roten Armee Fraktion bei den Industriebossen immer noch groß gewesen. Kolb und er hätten wegen des RAF-Verdachts dann im hessischen Steinbruch Hermannstein Schießübungen gemacht, zwecks Selbstverteidigung. Sie hätten aber auch, erinnert sich Würthener, darüber spekuliert, dass es die Steuerfahndung gewesen sein könnte, die den Flick-Laden abgehört hat. Und mit der Steuerfahndung hätte man sich ja weiß Gott nach der ganzen Flick-Affäre nicht anlegen wollen. Übrigens habe er auf Mallorca später einen der Steuerfahnder des in der Spendenaffäre zuständigen Finanzamtes St. Augustin getroffen, und der habe ihm beim Kölsch glaubhaft versichert, so etwas hätten sie nie gemacht.
»Nach einer Weile aber wussten wir, es war die DDR.« Bei den Wanzen, das hätten die Spezialisten schließlich herausgefunden, habe es sich um umgebaute Hörgeräte aus der Bundesrepublik gehandelt, die als milde Gabe für bedürftige DDR-Bürger »nach drüben« geschickt worden seien. Die Hörhilfen seien im Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen zu Spionagezwecken hergerichtet worden. Kolb und er hätten ihr Wissen für sich behalten, die Stasi nicht warnen wollen. Wenig später seien beim Einbau einer neuen Anlage die Gerätschaften unauffällig entfernen worden. Würthener: »Heute bin ich sicher, dass Kanter die Stasi-Leute da reingelassen hat. Kanter war ja Prokurist, der hatte freien Zugang zur Zentrale.« Damals aber habe niemand Kanter verdächtigt. »Der galt viel in Düsseldorf, alle hatten Respekt vor dem. Alle wussten, der ist CDU-Mitglied, der ist der Freund von Kohl.«
Der Kohl -Freund hatte der Stasi große Mengen Herrschaftswissen geliefert. Bonns Gegner im Ost-West-Konflikt gelangten in den Besitz brisanter Informationen, die ihnen politische Macht über die Klassenfeinde im Westen gaben. Ostberlin hatte es dank des von Kanter gelieferten politischen Sprengstoffs in der Hand, die Elite des anderen Lagers mitsamt dem Bundeskanzler in die Luft zu jagen. Als Mitglied der Flick’schen Geschäftsführung wusste Kanter von allen – durchweg illegalen – Schmiergeldzahlungen. Stasi-Minister Mielke und sein General Wolf waren durch ihren Mann bei Flick umfassend, bis in alle höchst peinlichen Einzelheiten, informiert über die gekaufte Bonner Republik. Es war ein großer Schatz an »Kompromaten«, wie im östlichen Geheimdienstjargon Belastungsmaterial hieß, mittels dessen sich Personal der Gegenseite bloßstellen oder gefügig machen lässt. Die DDR-Führung besaß Beweise, dass sich die ganze illustre Gesellschaft der Bundeshauptstadt aus Flicks schwarzen Kassen bedienen ließ: Helmut Kohl, Franz Josef Strauß, Otto Graf Lambsdorff, Hans-Dietrich Genscher, Walter Scheel, Hans Friderichs, Hans Matthöfer, Alfred Nau. Willy Brandt auch, behauptete von Brauchitsch. Ihm habe er »persönlich« das Geld – mal 40.000 D-Mark, mal 50.000 D-Mark – übergeben. Bis hoch zu Regierungschefs und Parteivorsitzenden – die Spitzenleute der Bonner Demokratie waren erpressbar.
Otto Schily, ab 1984 für die Grünen im Flick-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags, hat in seinem Buch Politik in bar (1986) zusammengerechnet, welche Beträge in welche Taschen gesteckt wurden. Von 1969 bis 1980 habe der Flick-Konzern für den Politikerkauf die stattliche Summe von 26 Millionen D-Mark ausgegeben. Davon gingen 15 Millionen D-Mark an Politiker der CDU/CSU. 6,5 Millionen Mark sackten Politiker der FDP ein. 4,5 Millionen D-Mark nahmen Politiker der SPD vom Flick-Konzern an. Allein das CSU-Oberhaupt Franz Josef Strauß habe 1,16 Millionen D-Mark in bar erhalten, dazu »Sonderzahlungen« in unbekannter Höhe. An den CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl gingen, Sonderzahlungen wiederum nicht gerechnet, 665.000 D-Mark, ebenfalls in großen Scheinen. Der FDP-Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff kassierte, so steht es in den Akten des Untersuchungsausschusses, 1,1 Millionen, eventuelle Sonderzahlungen blieben unbekannt. Es ging dem Konzern und seinem Chef Friedrich Karl Flick im Wesentlichen darum, mithilfe geschmierter Politiker die bei Aktienverkäufen und Wiederanlage des Erlöses fälligen Steuern von knapp unter einer Milliarde D-Mark nicht zu zahlen. Das klappte. Die DDR-Führung war dank Kanter und Wolf dabei stets auf dem letzten Stand.