Kitabı oku: «Herausforderungen der Wirtschaftspolitik», sayfa 9
Übungen zur Selbstüberprüfung
Übung 2.1: Nehmen Sie an, dass Sie sich nach dem im Exkurs besprochenen Test einem unabhängigen zweiten Test gleicher Qualität unterziehen und dass das Testresultat wiederum positiv lautet. Wie hoch ist nun die Wahrscheinlichkeit, dass Sie infiziert sind?
Übung 2.2: Machen Sie sich die Zu- und Abgänge im demografischen Sinne in Ihrer kreisfreien Stadt bzw. in dem Landkreis, in dem Sie leben, vom Jahre 1989 bis heute klar. Analysieren Sie den Einfluss von Binnenmigration, Außenmigration sowie den Saldo von Geburten und Todesfällen der einheimischen Bevölkerung auf die Gesamtentwicklung.
Versuchen Sie, die Sozialstruktur Ihrer Stadt bzw. Ihres Landkreises in den Stichjahren 2000, 2010 und 2020 zu vergleichen.
Machen Sie sich die methodischen Probleme klar, wenn Sie an die Erfüllung dieser Aufgaben gehen, und beschreiben Sie diese präzise. Beschreiben Sie, wie Sie mit diesen Abgrenzungsproblemen umgehen.
Übung 2.3: Aggregiert nach Kontinenten vermeldet Statista für das Jahr 2019 Fertilitätsraten für Europa von 1,5 Kindern, für Nordamerika von 1,7 Kindern, für Asien 2,1 Kinder, für Australien und Ozeanien 2,3 Kinder und für Afrika von 4,5 Kinder pro Frau. (Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1724/umfrage/weltweite-fertilitaetsrate-nach-kontinenten/)
Überlegen Sie sich, wie Statista diese Durchschnittswerte ermittelt haben könnte.
Übung 2.4: Es gibt Schätzungen, dass um das Jahr 10000 v.u.Z. etwa 10 Millionen Menschen auf der Erde lebten. Wie hoch war die durchschnittliche Zuwachsrate pro Jahr, wenn Sie annehmen, dass im Jahr 2020 8 Mrd. Menschen auf der Erde lebten?
3 Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung
Im Verlauf der Corona-Epidemie im Jahr 2020 hat sich das deutsche Gesundheitssystem im Vergleich zu fast allen seinen Pendants in Europa und Nordamerika als leistungsfähig erwiesen. Ob und inwieweit diese Aussage verallgemeinert werden kann, d.h. wie der Vergleich zur Seuchenbekämpfung in den ostasiatischen Staaten Thailand, Vietnam, Japan, Taiwan und China aber auch zu Australien und Neuseeland langfristig ausgefallen sein wird, dürfte aber nicht vor 2022 beantwortet werden können.
Die relative Stärke des deutschen Gesundheitssystems war vor allem der Tatsache zuzuschreiben, dass es über Reserven – und damit sind nicht nur Notfallbetten gemeint – verfügte. Selbst für eine vorsichtige und temporäre Gesamtbewertung ist dies allerdings deutlich zu wenig.
Die Grundprinzipien unseres Sozialstaats wurden zwar mit Hinblick auf gesundheitliche Krisen und Epidemien entwickelt, ihre Einführung und Durchsetzung liegt aber bei allen Anpassungen ca. 150 Jahre zurück. Die (historisch neue) Alterung der Bevölkerung Deutschlands wird quasi-deterministisch Auswirkungen auf unsere sozialen Sicherungssysteme haben müssen. Einer geringer werdenden Anzahl von Menschen im Arbeitsalter steht – zumindest für eine Transitionsperiode, die mindestens eine Generation andauern wird – eine größer werdende Anzahl von Menschen gegenüber, die nicht in Beschäftigungsverhältnissen stehen (wobei deren überwiegender Teil das Arbeitsleben bereits hinter sich gelassen hat). Dies betrifft ebenso die „Einwanderung“ in die deutschen Sozialversicherungssysteme, die kurz- und mittelfristig die Gesamtbudgetverteilung der deutschen Volkswirtschaft in Richtung Konsumption zulasten von Investitionen verschieben wird.
In Deutschland wird eine rege Debatte darüber geführt, ob und wie die Lebensarbeitszeit gestreckt bzw. verlängert werden kann und wie zukünftige Arbeits- und Lebensmodelle aussehen können. Tatsächlich ist Europa aber weit entfernt von einer auch nur näherungsweisen Konvergenz der Lebensarbeitszeit, die in direkter Beziehung zum Rentenbezug steht. So betrug im Jahr 2018 die durchschnittliche Lebensarbeit in Deutschland 38,4 Jahre (Männer arbeiteten im Durchschnitt ca. 4 Jahre länger als Frauen); in Schweden lag der Durchschnittswert bei 41,7 und in Italien bei 31,6 Jahren. Hauptursachen für die unterschiedlichen Lebensarbeitszeiten sind das nicht einheitliche Renteneintrittsalter und die Ausprägung der Jugendarbeitslosigkeit. Auch wenn die Definition eines gemeinsamen EU-Renteneintrittsalters aus zahlreichen Gründen problematisch ist, wäre diese ein sinnvoller erster Schritt zu einer weitergehenden Harmonisierung. Es wird sonst im besten Fall eine politische Herausforderung bleiben, die Bevölkerungen von Ländern mit hoher Lebensarbeitszeit im gegebenen Fall zu überzeugen, sich solidarisch mit Bevölkerungen mit geringerem Renteneintrittsalter bzw. kürzerer Lebensarbeitszeit zu zeigen.
3.1 Kranken- und Pflegeversicherung
Bei der heutigen Organisation des Gesundheitswesens in Deutschland wird ein Anstieg der Gesundheitskosten mit zunehmender Alterung der Bevölkerung nicht aufzuhalten sein, es sei denn, es werden drastische Leistungseinschränkungen in der Grundsicherung in Betracht gezogen.1 Die GesundheitsausgabenGesundheitsausgaben ohne Arzneimittelausgaben für einen 60-jährigen waren im Jahre 2016 etwa 2,8-mal und die eines 80-jährigen etwa 5,7-mal so hoch wie für einen 30-jährigen; qualitativ ähnliche Relationen existieren bei Arzneimittelausgaben. Ihr längeres Leben, Schwangerschaften und Geburten erklären intuitiv, dass (wenn auch nicht in welchem Maße) bei Frauen höhere Kosten vorliegen als bei Männern.[34]
Interessant ist jedenfalls immer zu wissen, wer untersucht hat sowie was und wie untersucht wurde. Die bereits gestellte Frage „Cui bono?“ führt dabei nicht immer zu einer Antwort, aber oft in die richtige Richtung. Das Gesundheitswesen absorbierte im Jahr 2018 ca. 11,2% des BIPs der Bundesrepublik Deutschland.[35] Es sind dabei nicht nur die Alterung, sondern ebenso die Lebensbedingungen und Eigenheiten unseres Gesundheitssystems, die die Kosten nach oben treiben. Um profitabel zu sein, brauchen Krankenhäuser wie Arztpraxen Kranke und keine Gesunden: Es ist somit nicht überraschend, dass die Behandlungshäufigkeit besonders dort hoch ist, wo sich viele Ärzte befinden.
Mit monokausalen Aussagen kommen wir aber auch hier nicht weiter: Von 1990 bis 2019 hat sich die Anzahl der berufstätigen Ärzte in Deutschland von ca. 237.700 auf ca. 402.100 fast verdoppelt2 [36], wobei der Anstieg der Ärzteschaft einerseits auf einer altersbedingt erhöhten Nachfrage nach ärztlichen Leistungen beruhte, andererseits aber auch neue Nachfrage generierte.
Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind die privaten Krankenversicherungen (deren Gründung auch als Ausdruck einer früheren Entsolidarisierung der Gesellschaft betrachtet werden kann), deren zukünftige Existenz mittelfristig durchaus in Frage steht. Die Kosten pro Bürger bzw. Versicherten betreffend ist statistischer Schrecken aller Kassen übrigens nicht der moderat rauchende und/oder trinkende Arbeiter oder Angestellte, sondern der gesundheitsbewusste, gebildete Mensch.[37] Es gibt natürlich auch Studien, die genau das Gegenteil behaupten.
Stolpersteine bei wissenschaftlichen Studien und ihrer Methodik
Wie bereits gesehen werden Statistiken oft benutzt, um Zusammenhänge darzustellen. Das Vorliegen von Kausalität, d.h. das Nachweisen eines Ursache-Wirkungszusammenhanges, zu zeigen, ist in den Sozialwissenschaften indes zumeist sehr schwierig (wenn nicht gar unmöglich).
Als Beispiel diene die für die meisten von Ihnen vermutlich intuitiv nachvollziehbare Aussage, dass die Ausgaben eines Landes für sein Gesundheitssystem und die Lebenserwartung seiner Bewohner in einem direkten Zusammenhang stehen. Der vermutete Zusammenhang ist: Je mehr ein Land für sein Gesundheitssystem ausgibt, umso länger leben dort die Menschen.
Nach kurzem Nachdenken ergeben sich allerdings bereits viele Fragen:
Könnte es nicht sein, dass die längere Lebenserwartung die höheren Gesundheitsausgaben auslöst, weil alte Menschen kränker sind oder öfter krank werden als junge?
Könnten nicht andere Ursachen (Ernährung, Klima, Kriegsvermeidung) die längere Lebenserwartung besser erklären?
Woher kennt man überhaupt die Lebenserwartung von Menschen, die noch leben? (Diese Frage haben wir schon erörtert. Aus medizinischer Sicht: Eigentlich kann man hierzu doch nur für tote Menschen Aussagen treffen.)
Woher weiß man, wie hoch die Gesundheitsausgaben sind? Was ist eine Gesundheitsausgabe? Wie geht man mit unterschiedlichen Preisen von z.B. Gesundheitsdienstleistungen um?
und, und, und …
Nicht überraschend ist, dass (nicht nur) in Deutschland das Pflegefallrisiko mit dem Alter steigt. In den Altersgruppen bis 60 Jahre ist es, vor allem weil es kaum noch den Körper ruinierende Berufe gibt (dies war vor 50 Jahren übrigens noch anders) sehr gering; danach steigt es aber steil an. Die Anzahl der über 80-jährigen in Deutschland wird c.p. von heute knapp 6 Mio. (eigene Berechnung) auf 9 Mio. im Jahr 2050 ansteigen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht von einer notwendigen Verdreifachung des Beitragssatzes zur PflegeversicherungPflegeversicherung bis 2030 aus.[38] Alles ceteris paribus natürlich!
In den Pflegeheim Rating Reporten, die das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung, die Philips GmbH und das Institute for Healthcare Business erstellen, wurde u.a. im Jahre 2014 geschätzt, dass die Zahl der Pflegebedürftigen von 2,6 Millionen im Jahre 2015 bis zum Jahre 2030 auf 3,5 Millionen Menschen steigen wird. Im Bericht für 2019 wurden für 2030 bereits 4,4 Mio. Pflegebedürftigen geschätzt.[39]
In den folgenden 15–20 Jahren müssten damit ca. 100 Mrd. Euro in den Ausbau der stationären Pflege investiert werden, damit genügend Heimplätze für die wachsende Zahl der Pflegebedürftigen vorhanden sein werden. In der stationären Pflege müssten schließlich bis zu 475.000 Pflegefachstellen hinzukommen.[40] Die „Pflegeindustrie“ wird also wachsen, mit Auswirkungen hin zu Essensversorgern, Wäschereien und – Stichwort Windeln – Müllentsorgern.
3.2 Rentenversicherung
Die AltersvorsorgeAltersvorsorge in Deutschland stützt sich auf drei Säulen. Säule 1 bildet die gesetzliche, für alle Beschäftigten verpflichtende Rentenversicherung, durch die die Versicherten Anspruch auf eine Altersrente erwerben. Säule 2 besteht aus der betrieblichen, d.h. vom Arbeitgeber mitfinanzierten bzw. -organisierten Altersversorgung. Säule 3 bildet die private Vorsorge in Form eines eigenverantwortlich angesparten Vermögens, das im Alter „entspart“ werden kann.
Die gesetzliche Rentenversicherung gehört wie die Kranken-, Unfall-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung zu den seit Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland schrittweise eingeführten Bismarck’schen Sozialgesetzen.
Im Jahre 1954 wurde das sogenannte Umlageprinzip eingeführt: Die jüngeren Generationen kommen seitdem für die Renten der Alten auf und erwerben selbst einen Anspruch auf eine zukünftige Rente (Stichwort Generationenvertrag). Die eingezahlten Beiträge werden also nicht gespart, sondern sofort auf die laufenden Rentenzahlungen umgelegt, wobei sie durch Steuermittel „aufgestockt“ werden.
Da das Umlagesystem wegen des demografischen Wandels nur noch bedingt leistungsfähig ist – d.h., immer weniger Junge müssen immer mehr Alte finanzieren – wurde und wird es immer wieder reformiert. Die derzeit prominentesten Beispiele sind die stufenweise Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre bis zum Jahr 2029 und die Ausweitung der Versteuerungspflicht auf die gesamte Rente ab 2040. Bereits 2002 hatte das Bundesverfassungsgericht die fehlende Rentenbesteuerung für verfassungswidrig erklärt. Wer 2020 in Rente ging, muss 80% davon versteuern. Das Niveau der gesetzlichen Altersrente wird ferner von 51% im Jahr 2015 auf voraussichtlich 44,9% des durchschnittlichen Nettolohns bis zum Jahr 2030 gesenkt.[41] Damit verbunden ist die Aufforderung der Bundesregierung an die Bevölkerung, eigenverantwortlich für das Alter vorzusorgen. Langfristig soll die private Vorsorge als Ausgleich zur schrumpfenden Säule 1 an Bedeutung gewinnen; deshalb wird sie (Stichworte Riester- und Rüruprente) vom deutschen Staat gefördert.
„Richtig“ privat vorsorgen ist indes leichter gesagt als getan. Sowohl Investitionen in Aktien als auch in Immobilien können ihre Tücken haben. Schwer verkäufliche Immobilien in strukturschwachen Gebieten können sich – leicht einsichtig – als Fluch erweisen, und die Aussage, dass Aktien langfristig die beste Geldanlage seien, wird durch Wiederholung in ihrer Pauschalität nicht richtiger. Als warnendes Beispiel sei hier eine Grafik des japanischen Leitindex Nikkei225 von 1981–2020 angegeben.
Abb. 3.1:
Nikkei225, 1985–2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv)
Wenn Sie einen kurzen Blick auf Abb. 3.1 werfen, werden Sie ohne großes „Rumrechnen“ schnell feststellen, dass Sie einen großen Teil Ihres Vermögens verloren hätten, wenn Sie um 1990 herum angefangen hätten, Ihr Geld in japanische Standardaktien, d.h. also in weltbekannte Firmen wie Mitsubishi, Sony, Canon, Toyota usw., zu investieren. Hier nützte es Ihnen auch nur wenig, zu wissen, dass der Nikkei225 Ende des Jahres 2020 wieder bei ca. 27.500 Punkten stand. Der Argumentation, dass Aktien langfristig die beste Geldanlage seien, sollten Sie nun – wenn dies nicht bereits der Fall war – etwas kritischer gegenüberstehen. Langfristig sind wir, um ein Bonmot von John Maynard Keynes zu zitieren, alle tot.1
Damit hier kein Missverständnis entsteht: Dies ist kein Plädoyer gegen Aktien! Es bietet sich allerdings zumeist eine „vernünftige Diversifizierung“ in verschiedene risikobehaftete Assetklassen an. Da aber die aggregierte Wertentwicklung fast aller Assetklassen langfristig positiv korreliert ist, wird den meisten Menschen in Zukunft vermutlich nicht viel anderes übrig bleiben, als lange zu arbeiten, wenn ein gewisser Lebensstandard gewahrt werden soll.
Bemerkung:
Hier sei wiederum angemerkt, dass – und dies ist seit Langem bekannt – ein beträchtlicher Teil der deutschen Bevölkerung (Stichwort Niedriglohnsektor) die Möglichkeit, substanziell für das Alter zu sparen, nicht hat. Es wird also eine gesellschaftliche Aufgabe bleiben müssen, heutigen Geringverdienern ein materiell würdiges Leben im Alter zu ermöglichen. Dies ist kein „Jammern“ über den Niedriglohnsektor; schlecht bezahlte Arbeit ist in fast jeder Hinsicht für die Gesellschaft und auch die Betroffenen besser als keine Arbeit. Dennoch lohnt sich ein Blick in die Schweiz, die auch ein anderes Demokratiemodell praktiziert als Deutschland, wie dort mit gering qualifizierter Arbeit und deren Vergütung umgegangen wird.
Diversifikation
Grundsätzlich ist es sinnvoll, Vermögen in unterschiedliche Assets, deren Renditeverteilungen bei positiven erwarteten Renditen möglichst gering korreliert sind, aufzuteilen. Hier bieten sich zur Bestimmung der Anteile des zu investierenden Vermögens u.a. die naive Diversifizierung (in jede Anlage wird der gleiche Prozentsatz des Vermögens investiert) oder auch die Anwendung der Markowitztheorie an, bei der üblicherweise eine minimale Zielrendite vorgegeben wird und im Anschluss die prozentualen Beiträge der einzelnen Assets zur Ermittlung des korrespondierenden varianzminimalen Portfolios berechnet werden. Beide Ansätze haben indes Grenzen, insbesondere wenn nicht teilbare „teure“ Assets wie Immobilien Bestandteile des Portfolios sind. Und wenn es weltweit crasht, dann crasht es weltweit, d.h., der Diversifizierungsnutzen, der aus der Korrelationsstruktur der unterschiedlichen Anlagen in „Normalzeiten“ gewonnen wurde, wird deutlich reduziert.
Einordnung und Ausblick
Deutschland (und Europa) wird älter, es werden nicht genug Kinder geboren, um den biologischen Bestand der europäischen Nationen „aus eigener Kraft“ dauerhaft auf dem aktuellen Niveau zu erhalten. Besonders hart betroffen sind ländliche Räume in fast allen europäischen Staaten und in ihrer Gesamtheit die ärmeren Staaten am geografischen Rande der EU.
Mittelfristig werden die Staaten nicht alle ihnen heute obliegenden Aufgaben (Straßenbau bzw. -instandhaltung, wohnortsnahe Kindergärten und Schulen, Krankenversorgung, etc.) flächendeckend aufrechterhalten können. Spiegelbildlich stieg – jedenfalls vor Ausbruch der Corona-Pandemie – der Preisdruck auf den Wohnungsmärkten in den Ballungsgebieten und sank die Werthaltigkeit von Wohnimmobilien in vielen ländlichen und kleinstädtischen Regionen.
Der mittel- und langfristige Erfolg von Zuwanderung hängt von deren Komposition sowie von staatlichen und privaten Anstrengungen ab, Zuwanderer in die Gesellschaft zu integrieren, d.h. insbesondere, sie in bezahlte (bzw. gut genug bezahlte, um davon anständig leben zu können) Beschäftigungsverhältnisse zu bringen.
Exkurs: Das Bruttoinlandsprodukt
Erste Versuche, das nationale Einkommen zu schätzen, gehen auf das 17. Jahrhundert in England zurück: William Petty und Gregory King legten die Grundsteine für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR).
Das bei Weitem bedeutendste Maß für die Stärke einer Volkswirtschaft ist das Bruttoinlandsprodukt, dem wir bereits im Exkurs zur Statistik am Ende von Kapitel 2 begegnet sind. Grob gesagt handelt es sich beim BIP um den in Geld gemessenen Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb eines Staatsgebietes erwirtschaftet werden. Es wird also gemessen, was in Geld bezahlt wurde und was besteuert wurde. Lebensqualität, die durch Nachbarschaftshilfe, Haushalts- und Kindererziehungsarbeit gewonnen wird sowie Elemente der Schattenwirtschaft gehören nicht dazu.
Das BIP kann über drei verschiedene Wege ermittelt werden: In der Entstehungsrechnung wird die Wertschöpfung aller Produzenten als Differenz zwischen dem Wert der produzierten Waren und Dienstleistungen und dem Vorleistungsverbrauch berechnet, wobei die Gütersteuern hinzugefügt und die Gütersubventionen abgezogen werden. Die Verwendungsrechnung ermittelt das BIP als Summe aus privatem und staatlichem Konsum, Investitionen und Außenbeitrag. Bei der Verteilungsrechnung wird das BIP aus der Summe der Arbeitnehmerentgelte, der Unternehmensgewinne und der Vermögenserträge in der Volkswirtschaft berechnet.
Rechnungswesen ist nicht neutral, es „lässt sich den Zwecken einer Organisation entsprechend formen, was wiederum Einfluss auf die weitere Entwicklung dieser Organisation nehmen kann.“ (Mazzucato, S. 111) Dies können Sie sich verdeutlichen, indem Sie auf Betriebsebene die Grundprinzipien des HGB und diejenigen der amerikanischen Rechnungslegung IFRS gegenüberstellen. Ebenso ist es nicht zeitinvariant. Historisch interessant ist vor allem die Entwicklung der Produktionsgrenze. Der französische Nationalökonom (den Begriff Volkswirt gab es damals noch nicht) Quesnay betrachtete im 18. Jahrhundert zum Beispiel die Landwirtschaft, Fischerei, Jagd und den Bergbau als produktiv, die Haushalte, den Staat und sogar die Industrie hingegen nicht. So wird verständlich, dass der Begriff des Wachstums in der Ökonomie erst im frühen 19. Jahrhundert dauerhaft auftauchte, da Kapital theoretisch unbegrenzt wachsen kann, Boden, der bis dato wichtigste Produktionsfaktor, hingegen naturgemäß beschränkt ist. Die wichtigste Änderung in der VGR fand schließlich in den 1970er Jahren statt, in denen übrigens auch der Goldstandard beerdigt wurde. Erst vor weniger als 50 Jahren wurde begonnen, den Finanzsektor in die Berechnung des BIPs miteinzubeziehen. Davor wurde das Finanzwesen nur als Transformationssektor, der nicht produktiv war, betrachtet.
Beim BIP handelt es sich kurz gesagt um eine „in Entwicklung begriffene gesellschaftliche Konvention [..], die sich weder durch physikalische Gesetzmäßigkeiten noch durch absolute ‚Realitäten‘ definiert, sondern Ideen, Theorien und Ideologien der jeweiligen Ära reflektiert, in der sie entstanden ist.“ (Mazzucato, S. 111)
Nach dem bereits gesehenen (vgl. inbesondere den Exkurs zum täglichen Umgang mit Zahlen und Statistik am Ende von Kapitel 2) ist es schlicht aberwitzig, die Entwicklung bzw. den Zustand einer Volkswirtschaft aus einer einzigen Größe ableiten zu wollen. Maßzahlen, die die Dominanz des BIP bisher aber nicht beeinträchtigten, gibt es reichlich; z.B. den Gini-Index, den Engels-Koeffizienten, den Human Development Index, diverse Glücksindizes und den Better-Life-Index der OECD.
Gegen das BIP werden allerdings noch weitere konzeptionelle Gründe ins Feld geführt:
1 Das BIP enthält Größen, die lediglich Wohlstandseinbußen ausgleichen, obwohl tatsächlich nur beschädigte oder verloren gegangene Bestandswerte wie Schäden an Häusern nach einem Sturm wiederhergestellt wurden.
2 Das BIP erfasst zahlreiche Effekte nicht, die den Wohlstand mitbestimmen. Dies betrifft Umweltverschmutzung wie unbezahlte Arbeit.
3 Für die Berechnung des BIPs ist es egal, ob jemand seine Arbeit mit Freude oder aus Zwang erfüllt.
Die „heilige Kuh“ zeitgenössischer Wirtschaftstheorie und -politik ist indes das Wachstum des Bruttinlandproduktes. Wenn von Wachstum des BIPs geredet bzw. darauf abgestellt wird, stellen sich unmittelbar Fragen, wozu das Wachstum da sein soll und was wachsen soll. Diese Fragen sind unabhängig von Umweltfragen gerade deshalb relevant, weil die materiellen Bedürfnisse der überwiegenden Mehrheit der Menschen in den Industrieländern längst gedeckt sind und die meisten Menschen „von dem Geld, das sie nicht haben, Dinge kaufen, die sie nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die sie nicht mögen.“[42]
Wachstum einer Wirtschaft heißt zuallererst, dass der „Gesamtkuchen“, der aufgeteilt werden kann, größer wird. Das bedeutet etwas vereinfacht, dass es „Akteure“ gibt, die ihr Einkommen erhöhen können, ohne das Einkommen anderer Akteure zu verringern. Es handelt sich somit nicht um ein Nullsummenspiel (s. Exkurs zu Kapitel 8), bei dem der Gewinn eines Akteurs den Verlust eines anderen Akteurs bedingt. In den entwickelten Ländern führte dies bis vor ca. 10–20 Jahren dazu, dass die überwiegende Mehrzahl der Menschen einen im historischem Maßstab gesehen beträchtlichen materiellen Wohlstand genoß, ohne dass die wirklich Reichen etwas hergeben mussten. Auf globaler Ebene führte die Arbeitsteilung dazu, dass ein Großteil der Menschen, die in sich entwickelnden Ländern leben, ihrer vormaligen absoluten Armut entkommen konnten. Die alten Industrieländer konnten somit verfolgen, wie der Rest der Welt wohlhabender wurde, ohne etwas abgeben zu müssen. Damit wurde, jedenfalls für eine gewisse Zeit, technischer Fortschritt mit weitgehender Vollbeschäftigung verbunden. Kurz gesagt hat das Wachstum der vergangenen Jahrzehnte die betroffenen Gesellschaften befriedet.
Auch wenn die Wirtschaft in Deutschland nicht mehr wächst, könnte unser Einkommen längerfristig stabil bleiben oder gar steigen, wenn deutsche Unternehmen auch in Zukunft im Ausland entsprechende Gewinne erwirtschaften und diese wieder nach Deutschland zurückfließen. Die Krux ist allerdings, dass globales Wachstum nötig ist, damit unsere heutige Wirtschaft wie gewohnt funktioniert.
Dass wir uns offensichtlich an einem historischen Wendepunkt befinden, hat zahlreiche bestimmende Faktoren, von denen die sich ändernde Demografie die wichtigste Ursachengruppe darstellt. Wenn in alternden Gesellschaften immer weniger Menschen immer mehr Menschen versorgen müssen, könnte dieses Problem theoretisch durch Wirtschaftswachstum, das dann primär auf Innovationen bzw. technischem Fortschritt basiert, eingehegt werden (s. Kapitel 10). Falls dies nicht gelingt, wird der Gesamtkuchen a priori kleiner und wir stehen, wenn wohl auch nicht zuerst in Deutschland, sehr bald nicht mehr nur vor theoretischen Diskussionen zur Einkommens- und Vermögensverteilung.
Die Glücksforschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer interessanten neuen wissenschaftlichen Disziplin im Schnittpunkt von Psychologie, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften entwickelt. Bekanntester Vertreter ist der Schweizer Professor Bruno Frey. Außer Frage steht dabei, dass Glück schwer messbar und damit international auch schwer vergleichbar ist. Rankings, in denen die Schweiz, Bhutan oder verschiedene Südseeinseln auf den Spitzenplätzen rangieren, bedienen somit offensichtlich die Wünsche ihrer Empfänger.
Glück oder das Streben nach Glück ist westliches Denken. Die berühmteste Festlegung finden wir in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: Dass „the pursuit of happiness“ zu den selbstverständlichen Wahrheiten gehöre. Etwas auch nur ansatzweise Vergleichbares findet sich im Konfuzianismus nicht.
Bekannt ist, dass eine gute Bildung, lange Lebenserwartung, gute Gesundheitsversorgung und materieller Wohlstand noch lange nicht glücklich machen. Das „Paradebeispiel“ dafür ist Japan: Während sich das Bruttoinlandprodukt per capita von 1958 bis 1991 in etwa versiebenfacht hatte, ging die life satisfaction bei geringen Schwankungen sogar leicht zurück.1[43]
Dies geht sogar weiter als das sogenannte Easterlin-Paradox, das „nur“ besagt, dass die Erhöhung des BIP ab einer gewissen Schwelle nicht mehr mit einer Verbesserung des Glücksgefühls einhergeht. Dies ist auch nicht wirklich überraschend, da „glücklich sein“ schlecht gesteigert werden kann.
Der große griechische Philosoph Aristoteles entwarf in seiner Tugendethik keine Regeln, sondern er stellte auf Haltungen ab. Sind diese Haltungen tugendhaft, stellt sich Glück von allein ein. Hier war ihm John Maynard Keynes ca. 2300 Jahre später mit seinem Wunsch nach einem guten Leben sehr nah.
Das Problem liegt wie so oft in den Begriffen; was also Glück ist bzw. besser was darunter verstanden wird. Ist der Wunsch nach „größtmöglichem Glück“, wie Keynes glaubte, ein vernünftiges politisches oder eher ein ethisches Prinzip, wie der Philosoph David Hume (1711–1776) es darlegte? Erinnern Sie sich hieran, wenn wir in Kapitel 13 das mehr als 2000 Jahre existierende Ideal der alten wie der heutigen Chinesen, Harmonie zwischen Himmel und Erde zu erreichen, besprechen werden.
Sehr empfohlen sei Ihnen an dieser Stelle ein weiteres Vater-und-Sohn-Buch: Robert und Edward Skidelskys „Wie viel ist genug: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens“. Das Buch wurde in seinem Erscheinungsjahr 2012, zum Höhepunkt der Finanzkrise, sehr wohlwollend aufgenommen, geriet aber mit zunehmender Erholung der Weltwirtschaft wieder schnell in Vergessenheit. Ebenso ist von den bereits erwähnten „Rufen“ nach einer besseren Volkswirtschaftsausbildung an den Hochschulen nur punktuell etwas geblieben.