Kitabı oku: «10 SHERLOCK HOLMES – Die neuen Fälle Box 4»

Yazı tipi:

SHERLOCK HOLMES

Die neuen Fälle

Herausgeber:

ROMANTRUHE-Buchversand

Cover: Rainer Engel

Satz und Konvertierung:

DigitalART, Bergheim.

© 2020 Romantruhe.

Alle Rechte vorbehalten.

Die Personen und Begebenheiten der

Romanhandlung sind frei erfunden;

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Sherlock Holmes ist auch als

Print-Ausgabe erhältlich!

Inhalt

DER WERWOLF VON WHITE CHAPEL

DER VERSCHWUNDENE BRÄUTIGAM

DAS RÄTSEL DER ROBERT CLIVE

DAS GEHEIMNIS DER WEISSEN DAME

DAS GEISTERWRACK

DER SCHWUR VON ARDINGLY

BEI EINLADUNG MORD

DIE NACKTE GRÄFIN

DIE BERBER-QUEEN

TOTE STERBEN NICHT

DER WERWOLF VON WHITE CHAPEL

Box 4 – Fall 31

In den vielen Jahren, in denen ich meinem Freund Sherlock Holmes helfend zur Seite stehen durfte, wurden wir Zeugen so manch sonderbarer Ereignisse. Manches erschien auf den ersten Blick sogar übernatürlicher Natur zu sein.

So erinnern Sie sich sicherlich noch an den Fall, mit dem uns Mister Robert Ferguson betraute. Das Kindermädchen hatte beobachtet, wie seine peruanische Frau Blut aus dem Halse des gemeinsamen Babys saugte und daraufhin den Verdacht geäußert, seine Frau könne ein Vampir sein.

Obgleich diese Schlussfolgerung logisch erschien, lehnte Holmes einen solchen Gedanken ab; Vampire gehörten für ihn in das Reich der Legenden und des Aberglaubens.

Auch möchte ich an dieser Stelle auf den Fall des Geistes verweisen, der Sir Paul Godwin, 7. Earl of Hathersage, in seinem eigenen Schloss heimsuchte. Ich veröffentlichte diese Erzählung vor nicht allzu langer Zeit unter dem Titel Totengesang. Nicht nur, dass sich Holmes in diesem Zusammenhang einen üblen Scherz mit mir erlaubte, indem er mich mit einem selbst gebastelten Gespenst erschreckte. Nein, selbst auf mich wirkte es während der Untersuchungen, als sei eine unglückliche Seele von den Toten zurückgekehrt.

Abermals hatte Holmes hiervon nichts wissen wollen. Mit der ihm eigenen Akribie war er an den Fall herangegangen und hatte ihn schließlich gelöst. Am Ende stand ein Drama, das mir selbst jetzt noch die Tränen in die Augen treibt. Bemerkenswert an diesem Fall waren zwei Dinge. Zum einen ließ er eine der Schuldigen entkommen, zum anderen war dies einer der außergewöhnlichen Fälle, in den eine noch außergewöhnlichere Frau verwickelt war – Irene Adler.

Viele Fälle von Holmes weisen auf den unbefleckten Leser etwas Besonderes, etwas Befremdliches auf, auch wenn Holmes oftmals sehr schnell den wahren Kern der Sache erkennt und in der Lage ist, hinter all die Ablenkungen und Verwicklungen zu schauen. Je seltsamer ein Fall anmutet, umso simpler ist er, wie Holmes selbst zu sagen pflegte. Es sind die scheinbar einfachen Fälle, die einem Detektiv das größte Geschick abverlangen.

Eine Ausnahme, die diese Regel bestätigen könnte, möchte ich Ihnen heute näherbringen. Und auch dieser gehört in eine Reihe jener, die ich zu Beginn erwähnte, denn sowohl die Zeugen als auch Scotland Yard gingen von übersinnlichen Vorgängen aus; auch wenn es Inspector Lestrade nicht direkt sagte. Seine Blicke und seine Andeutungen sprachen hingegen Bände!

Das alte Jahr war mit dem seltsamen Fall des Aloisius van Horn zu Ende gegangen. Holmes, zufrieden mit diesem finalen Erfolg, hatte den Mut gefunden, die Tage bis Silvester in größtmöglicher Ruhe zuzubringen. Dies lag vielleicht auch daran, dass überraschend sein Bruder Mycroft in unseren Räumen erschienen war, um mit uns den Jahreswechsel zu begehen. Die Hälfte des Abends vergnügten sich die Brüder damit, die Menschen auf der Baker Street zu beobachten und Schlussfolgerungen über ihr Leben anzustellen. Nach einem guten Essen ging die Zeit mit Geschichten aus der süßen und lang zurückliegenden Jugend dahin, bis wir schließlich auf das neue Jahr anstoßen konnten.

Nie zuvor war mir Mycroft Holmes derart sympathisch gewesen wie an jenem Abend, und ich muss zugeben, dass unsere späteren Begegnungen, die nächste sollte schon im Januar folgen, aber davon will ich ein andermal berichten, von einer deutlich größeren Herzlichkeit geprägt waren, als dies je zuvor der Fall gewesen war.

Nachdem wir die Hälfte des 1. Januars verschlafen hatten, unternahmen wir am Nachmittag einen langen Spaziergang, ehe wir den Tag mit einem Dinner ausklingen ließen, das eindeutig aus den Resten des Vortages bestand.

Dass das Verbrechen nicht lange auf sich warten lassen würde, ahnten wir freilich. Dass es uns jedoch bereits am 2. Januar heimsuchen sollte, das kam auch für uns überraschend.

Wir saßen gerade beim Frühstück, als es an der Tür klingelte. Kurz darauf hörten wir die schweren Schritte von Inspector Lestrade, und dann stand er auch schon vor uns.

»Nehmen Sie Platz!«, bat Holmes freundlich. »Bitte, mein lieber Lestrade, und lassen Sie sich von uns das Beste zum neuen Jahr wünschen!«

»Ihnen das Gleiche!«, sagte der Polizist, während er Holmes’ Aufforderung nachkam. »Ich sehe, Ihnen bekommt der Januar gut.« Bei diesen Worten deutete er auf den üppig gedeckten Tisch.

»Bedienen Sie sich. Und dann berichten Sie, was Sie zu uns führt. Ich denke, es handelt sich um einen Mordfall. Jemand kam kürzlich zu Tode, wahrscheinlich in den Stunden der Dunkelheit. Ein scheußliches Verbrechen, wie mir deucht, und zudem so ungewöhnlich, dass Sie keine Zeit mit eigenen Ermittlungen verschwenden; sie kamen unmittelbar zu uns, noch bevor Sie die Ermittlungen in aller Ernsthaftigkeit aufnahmen!«

»Wie in aller Welt machen Sie das?«, fragte Lestrade, während er nach einer Scheibe Toast griff. Mrs. Hudson hatte ihm bereits Tee serviert und bei dieser Gelegenheit auch ein Gedeck aufgelegt.

»Beobachtungen und Deduktion!«, sagte Holmes. »Das ist das ganze Geheimnis!« Er schenkte Lestrade ein Lächeln. »Also schön, gehen wir der Reihe nach vor. Als Sie sich setzten, fiel mir der starke Geruch nach Desinfektionsmittel und Formaldehyd an Ihnen auf; eine Mischung, die man in dieser Form nur im Leichenschauhaus vorfindet. Demnach besuchten Sie diesen Ort, bevor Sie zu uns kamen. Dies lässt den Schluss zu, dass Sie uns wegen eines Mordes aufsuchen.«

Lestrade nickte.

»Es ist nun kurz nach neun. Die Leiche wurde schon in das Leichenschauhaus gebracht, was eine ganze Weile beansprucht. Daher schloss ich darauf, dass der Mord geschah, noch bevor die Sonne aufging. Richtig?«

Wieder nickte Lestrade.

»Bleibt noch mein Hinweis darauf, dass Sie die Ermittlungen noch nicht in aller Ernsthaftigkeit aufgenommen haben. Auch hierfür ist die Zeit zuständig. Wenn Sie den Toten bereits zu dieser Stunde im Leichenschauhaus besuchten und – wie der Geruch impliziert – sofort zu uns kamen, können sie zeitlich nicht ermittelt haben. Höchstens ein paar Aussagen jener, welche am Tatort gegenwärtig waren; wer immer die Leiche fand, wird gewartet haben, vielleicht auch andere Zeugen, die sich eingefunden hatten.«

Holmes schnalzte mit der Zunge. »Beobachtung Deduktion!«

»Sehr gut!«, sagte Lestrade. »Und natürlich haben Sie mit jedem Wort recht!« Der Inspector biss in den mit Butter und Marmelade belegten Toast. »Die Tote heißt Sandy Miller, eine Gefallene aus dem East End. Sie wurde übel zugerichtet, Mister Holmes. Wirklich übel!«

»Was ist ihr widerfahren?«, hakte ich nach.

»Offenbar war es ein Tier. Der Polizeiarzt kam zu der Ansicht, dass sie von einem Wolf zerfleischt wurde.«

»Von einem Wolf?«, fragte Holmes überrascht. »Das ist wahrlich neu! Gibt es eine Tiershow in der Stadt?«

»Ein Wanderzirkus aus dem recht neuen Königreich Rumänien kam vor zwei Wochen in London an. Sie wollen durch ganz England tingeln. Wir haben noch nicht mit den Leuten dort gesprochen, denn die Zeugenaussagen sind ... bizarr!«

Lestrade kratzte sich am Kopf, schwieg und aß. So, als sei ihm das, was er zu sagen hatte, peinlich.

»In welcher Beziehung?«, fragte Holmes neugierig.

»Ein Mann sagte aus, er habe die Tat beobachtet. Der Täter sei ... kein Mensch gewesen, sondern ein ... Werwolf!«

Holmes, der gerade einen Schluck Tee hatte nehmen wollen, hielt irritiert inne. »Ein Werwolf?«, fragte er dabei ungläubig. »Also ein Mann, der sich in einen Wolf verwandelt hat?!«

»So sagte es der Zeuge. Er war jedoch nicht nüchtern, sodass ich ihn erst einmal nach Hause geschickt habe. Vielleicht ändert sich seine Aussage, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hat.«

»Vielleicht ...« Holmes trank, dann schüttelte er den Kopf. »Ein Werwolf! Vampire und Geister hatten wir schon. Aber ein Lykanthrop ist neu! Ich wäre erfreut, würden Sie uns um Hilfe bitten.«

Lestrade schien erleichtert. »Danke, Mister Holmes. Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen. Ich habe Ihnen hier alles Notwendige notiert. Bitte lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas herausgefunden haben. Ich gebe Ihnen in dieser Sache freie Hand!«

»Ihnen ist unwohl zumute!«, stellte Holmes fest.

Lestrade lockerte den Kragen seines Hemdes. »Ein wenig! Ich mag keine wilden Tiere, und das Gerede von einem Werwolf strapaziert meine Nerven. Zudem habe ich auch ohne solche Geschichten genug zu tun. Sie ahnen nicht, wie viele Einbrüche und Diebstähle es an Silvester gab.«

»Ich hatte auch nicht angenommen, dass Sie müßiggehen, mein lieber Freund!« Holmes prostete ihm mit der Tasse zu. »Wir werden das Unsrige tun, den Fall aufzuklären!«

*

»Was halten Sie von der Sache?«, wollte Holmes wissen, nachdem Lestrade gegangen war und Mrs Hudson den Tisch abgeräumt hatte. »Ein Werwolf ... Das klingt höchst sonderbar, finden Sie nicht?«

»Schon!«, gab ich zu. »Aber wir hatten es bereits mit Vampiren und Geistern zu tun. Wer weiß, was wirklich dahintersteckt!«

»Sehr richtig. Nun, mein lieber Watson, wie wäre es, wenn Sie unser schlaues Buch zurate ziehen? Was weiß es über Werwölfe zu berichten?«

Ich las den Eintrag und fasste für Holmes zusammen, was darin stand.

»Die Geschichten von Menschen, die sich in Wölfe verwandeln, sind teils uralt. Schon in der griechischen Mythologie kommen sie vor. Unsere heutigen Geschichten sind jedoch dem Aberglauben des Mittelalters geschuldet. Zum Werwolf wird, wer von einem Werwolf gebissen wird. Andere sagen auch, magische Kräuter und Pasten könnten einen Menschen in einen Wolf verwandeln. Im Mittelalter und auch in der frühen Neuzeit gab es vor allem in Frankreich und Osteuropa unzählige Werwolf-Prozesse; wer beschuldigt wurde, eine solche Kreatur zu sein, musste meist sein Leben lassen!«

»Osteuropa«, sinnierte Holmes. »Und es gibt eine Tierschau aus dem Königreich Rumänien in der Stadt. Ich denke, das wäre ein guter Anhaltspunkt. Was meinen Sie, Watson?«

Ich klappte das Buch zu. »Vielleicht sollten wir uns erst mit dem Zeugen unterhalten? Möglich, dass er bald wieder nüchtern ist und uns eine ganz andere Geschichte erzählt. Zudem würde ich mir gerne das Opfer ansehen. Ich kenne Tierverletzungen aus meiner Zeit in der Armee!«

Mein Freund nickte. »Ja, Sie haben recht, Watson. So sollten wir vorgehen. Also auf, machen wir uns an die Arbeit! Carpe diem!«

*

Als wir Whitechapel erreichten, war es bereits früher Nachmittag. Wir hatten uns eine Weile im Leichenschauhaus aufgehalten; die Tote war in der Tat grauenvoll zugerichtet worden, aber dies offenbar nicht von Menschenhand.

Ich hatte Soldaten gesehen, die von wilden Tieren angefallen worden waren. Sie hatten alle die typischen tiefen Kratzwunden aufgewiesen, wie sie für die Krallen der Vierbeiner charakteristisch sind.

Auch das Opfer aus Whitechapel wies diese Wunden auf.

Die Krallen hatten erst die Kleidung vom Körper der Frau gerissen, ehe sie den bloßen Leib der Frau malträtierten. Die Striemen verliefen in regelmäßigen Abständen über Rücken, Arme, Oberschenkel, die Füße, das Gesicht und den Hals.

Vor allem letztere Attacke hatte sich als fatal für die Frau erwiesen, denn die scharfen und spitzen Krallen hatten die Arterien verletzt. Auf diese Weise war binnen kurzer Zeit sehr viel Blut aus ihrem Körper gelaufen; letztlich die Todesursache.

Nicht tödlich waren hingegen die tiefen Eindrücke von Reißern im Nacken der Frau, auf die uns der Polizeiarzt aufmerksam gemacht hatte. Offenbar hatte die Bestie nicht nur mit den Krallen ihr Opfer zu reißen versucht, sondern auch mit dem Maul. Die Zähne waren dabei tief eingedrungen, ohne aber die Halswirbelsäule zerstören zu können. Der Mediziner hatte hierzu die These aufgestellt, dass sich die Frau zu diesem Zeitpunkt noch heftig hatte wehren können. Später, als dies nicht mehr der Fall war, benutzte das Tier andere Methoden, um sie schließlich zu töten.

Anhand der Spuren, vor allem der Krallen, schloss der Polizeiarzt nach Rücksprache mit einem Veterinär auf einen Wolf, nicht auf eine Wildkatze. Kleinere Verletzungen deuteten darauf hin, dass dieses Tier seine Krallen nicht einfahren konnte.

Von der Aussage des Zeugen, dass es sich bei dem Angreifer um einen Werwolf gehandelt habe, hatte der Mediziner nichts wissen wollen. Das, so erklärte er kategorisch, sei ausgeschlossen. Ein Mensch könne sich nicht in einen Werwolf verwandeln; Punkt, aus!

Holmes schien sich dieser Meinung anzuschließen, ich selbst war mir in solchen Dingen nie wirklich sicher. Nur, weil wir bisher keinen Vampir, keinen Werwolf oder Geist gesehen hatten, bedeutete dies doch nicht, dass es keine gab.

Whitechapel war eine heruntergekommene Gegend, in der sich Prostitution und Kriminalität angesiedelt hatten. Es war wohl kein Wunder, dass einige Jahre zuvor Jack the Ripper hier und nirgendwo sonst sein Unwesen getrieben hatte. Betraten wir das East End, waren wir stets auf einen rüden Versuch gefasst, uns um unsere Brieftaschen zu bringen. Schon bei früheren Gelegenheiten hatten uns Mugger angerempelt und dabei ganz zufällig ihre Hände in unsere Taschen gleiten lassen; bei unvorsichtigeren Menschen hätte dies wohl funktioniert. Aber Holmes hatte mich so manch einen Trick gelehrt, sodass wir stets ohne Verluste nach Hause kamen.

Unser Zeuge wohnte in einem kleinen, schäbigen Haus, das man nur durch einen Hinterhof betreten konnte. Laut den Aufzeichnungen von Lestrade hieß er Antony Bekker. Mehr hatte unser Freund noch nicht aus ihm herausbekommen; zum einen war er zu betrunken gewesen, zum anderen zu aufgeregt ob des Mordes, den er beobachtet hatte.

Bekker öffnete nach dem dritten Klopfen. Wir hatten einen vierschrötigen Mann vor uns, dessen Wangen und auch die Nase vom reichlichen Alkoholkonsum gerötet waren. Seine Augen standen etwas hervor, wie man es von Trinkern kennt.

Er blickte uns trübe an, blinzelte dann in die Helligkeit des Januar-Tages und fluchte in sich hinein. »Geht es wieder um die tote Nutte?«

»So ist es. Ihr Name war Sandy Miller. Sie sagten aus, Sie hätten etwas gesehen?«

»Hätte ich besser meine Schnauze gehalten!«, murrte Bekker. »Mir glaubt ohnehin keiner. Also, verschwinden Sie, ich sage kein Wort mehr!«

»Sie sagten etwas von einem Werwolf!«, sagte Holmes ungerührt. Dann holte er eine Pfundnote aus der Tasche. »Ich bin niemand, der etwas allzu rasch abtut. Bitte, erzählen Sie mir Ihre Geschichte und diese Pfundnote ist die Ihre!«

Der Mann leckte sich über die Lippen. »Sie sind ja ein komischer Polizist!«, murmelte er dann.

»Mein Name ist Sherlock Holmes«, stellte sich mein Freund vor. »Und dies ist mein Partner, Doktor Watson. Wir sind keine Polizisten!«

Bekker wollte nach der Banknote greifen, aber Holmes war schneller und zog die Hand zurück. »Erst die Geschichte!«

»Ich war heute schon früh auf den Beinen. Im Moment arbeite ich für einen Bäcker; ist keine schwere Aufgabe, mein Job ist es, Bestellungen auszuliefern. Also muss ich schon um vier aus den Federn. Ich zog mich an, steckte meine Buddel ein, um den Tag zu überstehen, und ging los. Vorne an der Ecke zur Thomas Street hörte ich plötzlich einen Schrei. Ich schaue in einen Hof und da sehe ich eine Frau, die sich verzweifelt gegen ein ... ein ... ein Ding wehrt. Groß wie ein Mensch, aber der Kopf wie ein Wolf. Er stand auf seinen Hinterbeinen, mit den Vorderpfoten jedoch schlug er wieder und wieder auf sie ein. Ich sah, wie seine Krallen die Haut und das Fleisch von den Knochen der Frau rissen. Und die Laute, die er dabei von sich gab ...«

Bekker schüttelte sich vor Grauen. Sein Blick flackerte, nervös holte er eine Flasche aus der Tasche und nahm einen tiefen Schluck. »Ich bin wie der Teufel gerannt und hab dabei nach einem Schutzmann gebrüllt. Schließlich kam einer. Der wollte mich verhaften, aber schließlich kam er doch mit mir. Tja, und da lag sie dann, fast nackt und übel zugerichtet!«

»Waren Sie betrunken, als Sie den Angriff sahen?«

»Nein. Der Boss würde mich rauswerfen, käme ich besoffen zum Dienst. Ich trinke hin und wieder einen Schluck, damit ich nicht das Zittern bekomme. Als ich die Frau aber da liegen sah ... Ich hab die Flasche in einem Zug gekippt und bin zurück in mein Bett!«

»Wie sah der Wolf aus?«, fragte Holmes. »Konnten Sie Details erkennen?«

»Schwarz, glaube ich. Mit weißer Schnauze. Und struppiges Fell. Lange Schnauze, gelbe Augen. Und er hatte keinen Schwanz!«

»Keinen Schwanz?«, versicherte sich Holmes. »Sind Sie sicher?«

»Nun ja, ich habe zumindest keinen gesehen«, sagte Bekker leise.

»Das ist bemerkenswert!« Holmes reichte dem Mann die Banknote, nickte ihm freundlich zu und bedeutete mir, ihm zu folgen.

Wir gingen die Straße entlang und standen schließlich in jenem Hof, in dem sich der Mord ereignet hatte.

Schnee war gefallen und hatte die Szenerie mit frischem Weiß bedeckt. An einer Mauer sahen wir dennoch Blutspritzer, mehr als fünf Fuß über dem Boden!

»Hier ist in der Tat etwas sehr Sonderbares geschehen!«, sagte Holmes, während er die Blutspritzer betrachtete. »Etwas, das selbst ich nicht auf Anhieb durchschaue.«

Er starrte sekundenlang auf die Spritzer, dann wandte er sich abrupt ab und ging davon. »Kommen Sie, mein Freund. Sprechen wir mit den Verantwortlichen der Tierschau!«

*

Das Verbrechen schläft nie!

Zu diesem Schluss kam ich bereits im Rahmen der vorangegangenen Geschichte, und auch jetzt bewahrheitete es sich wieder. Wir waren gerade zu Bett gegangen, als uns der schrille Ton der Glocke daran hinderte, Schlaf zu finden. Schuld war ein junger, von Lestrade geschickter Constable. Er hatte nur wenig zu sagen – es gab eine weitere Leiche in Whitechapel, und wieder war eine Frau gestorben.

Diesmal jedoch wartete der Tatort unverändert auf uns.

Während wir in einer Polizeikutsche unserem Ziel entgegenfuhren, ging ich noch einmal in Gedanken durch, was wir wussten.

Viel war es nicht!

Nach unserem Gespräch mit Mister Bekker hatten wir besagte Tierschau besucht und dort mit dem Verantwortlichen gesprochen. Natürlich hatten sie auch Wölfe dabei – fünf, um genau zu sein. Und alle waren vorhanden.

Wir erfuhren, dass ihre Tiere bereits in Gefangenschaft geboren waren und niemals jagen mussten. Weder zeigten sie besondere Neigungen zur Flucht, noch griffen sie Menschen an. Wir durften die Tiere nicht nur sehen, sondern auch berühren; sie lagen harmlos im Wagen und bewiesen, wie sehr unser moderner Hund doch von ihnen abstammt.

Auch lernten wir, dass bei Wölfen die Pfoten schon von klein auf voll ausgebildet sind; sie wachsen nicht mehr. Oberflächliche Spuren oder auch Kratzer lassen daher keinen Aufschluss über das Alter des Tieres zu. Einzig die Länge eines Schritts oder die Tiefe eines Eindrucks kann zur Bestimmung des Alters zurate gezogen werden.

In unserem Fall half uns das nicht weiter; die tiefen Kratzspuren beim ersten Opfer lagen dicht an dicht, da das Tier wie rasend mit den Pranken geschlagen hatte.

Als wir unser Ziel erreichten, hatte sich bereits eine größere Menschenmenge um den Tatort versammelt. Polizisten sperrten den direkten Bereich ab, Schaulustige hatten sich eingefunden und selbst die Presse war vertreten.

Laut Glockenschlag war es nun erst Mitternacht; noch waren die Straßen Whitechapels belebt.

»Ah, Holmes und Watson!«, rief Lestrade, während wir uns einen Weg bahnten. »Offenbar hat unser Werwolf wieder zugeschlagen!«

Er gab sich keine Mühe, seine Worte zu dämpfen. Demnach wusste bereits jeder, was man dank Bekker munkelte.

»Gibt es Zeugen?«, erkundigte sich Holmes.

»Eine Zeugin; eine Prostituierte, die das Geschrei ihrer Kollegin hörte. Sie kam hierher und sah einen Wolf auf zwei Beinen. Die Beschreibung passt zu der Aussage von Bekker!« Der Beamte blickte zu der zu Tode verängstigten Frau, die etwas abseits saß und sich von einem älteren Mann etwas Brandy einflößen ließ.

»Nun denn, schauen wir uns das Werk des Werwolfs an!«, sagte Holmes gedämpft.

Wir folgten Lestrade, sahen die Leiche – und der Anblick schockierte uns. Wieder war es eine Gefallene, und wieder war sie auf grausige Weise zerfleischt worden.

Scharfe Krallen hatten ihre Kleidung in Stücke gerissen und vom Körper geschält, ehe sie Haut, Fleisch und Sehnen zerfetzten. Es gab kaum eine Stelle am Körper der jungen Frau, die keine Wunden aufwies. Blut war über einen großen Radius verteilt und auch hier an eine Wand gespritzt.

Holmes schaute sich die Wunden und auch die Lage der Leiche sehr genau an, ehe er begann, die nähere Umgebung zu untersuchen. Ich hingegen kauerte mich neben die Tote und nahm einen ersten Bestand auf. Es konnte nicht schaden, dem Polizeiarzt ein wenig unter die Arme zu greifen.

Plötzlich aber packte mich Holmes am Arm. »Kommen Sie, Watson! Die Jagd beginnt!« Er riss einem Beamten eine Laterne aus der Hand und eilte davon.

Ich folgte ihm, so gut es ging.

Wir eilten die Straße entlang, vorbei an dem ersten Tatort. Wir passierten die große Baustelle der Blackwall Buildings, bogen zweimal ab und stoppten schließlich unvermittelt.

Holmes schaute sich suchend um. Wir standen in einer kleinen Seitenstraße, die schon nach wenigen Yards vor einer großen Mauer endete. Vier Häuser standen ringsum, zwei an jeder Seite.

Holmes drehte sich und schwenkte dabei die Laterne. Einmal hielt er kurz inne, so als habe er hinter einem der dunklen Fenster eine Bewegung bemerkt. Dann aber konzentrierte er sich auf die Spuren im Schnee.

»Nach was suchen wir?«, fragte ich leise. Obgleich es keinen Grund gab, die Stimme zu senken. Aber die späte Stunde und die Ruhe ringsum verleiteten mich zu einem Wispern.

»Blut! Vor allem Blut! Es hat uns hergeführt!«

Ich ging ein Stück zurück und sah tatsächlich feinste Tropfen roten Blutes im Schnee. Spuren von uns, aber auch von diversen anderen Personen führten die Straße entlang und zu den vier Eingangstüren.

Holmes untersuchte derweil jeden dieser Eingänge akribisch. Als er dem Schnee auf dem Boden keine Informationen mehr abgewinnen konnte, las er die Namen der Bewohner von den Schildern neben den Türen ab.

Plötzlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht und er nickte. Dann aber wandte er sich wieder ab und schlenderte jene Straße zurück, die wir zuvor entlanggehastet waren.

»Dieses Verbrechen ist äußerst kaltblütig. Auch wenn ich den Zweck der Taten noch nicht ganz begriffen habe, ahne ich doch, dass dies überaus absonderlich und derart brutal ist, dass einem der Strick als zu schnell und wenig strafend erscheinen wird«, sagte er, noch ehe wir den Tatort erreichten.

»Holmes, glauben Sie, es handelt sich wirklich um einen … Werwolf?«, fragte ich leise.

»Oh, da bin ich mir sicher. Aber nicht in jener Form, wie ihn sich abergläubische Menschen gerne vorstellen. Nein, hier haben wir es mit einem ganz speziellen Exemplar des Mannwolfs zu tun. Ich werde morgen einige Erkundigungen einziehen. Mal sehen, was sich ergibt.«

Er sprach kurz mit Lestrade, während ich zu dem inzwischen eingetroffenen Polizeiarzt ging und mit ihm über das sprach, was wir hier sahen.

Anschließend fuhren wir zurück zur Baker Street. Während der Fahrt schwieg mein Freund. Obgleich ich zu gerne gewusst hätte, was ihn bewegte, ließ er mich mit keinem Wort an seinen Erkenntnissen teilhaben.

*

In den nächsten Tagen sah ich wenig von Holmes. Er hatte gleich am Morgen nach dem zweiten Mord einige Telegramme geschrieben, war dann aber aufgebrochen. Wohin er ging, verriet er mir nicht.

So gingen die Tage ins Land. Hin und wieder verließ Holmes das Haus in der Verkleidung eines einfachen Arbeiters und kehrte erst spät zurück, dann wieder saß er in seinem Sessel, las aufmerksam jeden Artikel zu dem Fall, grübelte oder besah sich unseren Wandkalender.

Nach einiger Zeit normalisierte sich sein Tagesablauf wieder. Er gab sich der Muse und seinen chemischen Experimenten hin, korrespondierte mit einem Wissenschaftler in Bukarest und schmökerte in einem Buch alter Sagen und Legenden.

Wäre es darin nicht auch um Werwölfe gegangen, man hätte meinen können, er habe das Interesse an dem Fall völlig verloren.

Eines Abends, wir hatten gerade gegessen, blickte er mich an. »Sie reisen morgen ab?«

Ich nickte. Meine Koffer waren gepackt, das Ticket erworben. Lady Cunningham hatte mir bereits telegrafiert und versprochen, eine Kutsche zu schicken.

»Würden Sie die Freundlichkeit besitzen, mich heute Nacht auf eine kleine Jagd zu begleiten? Sie und Ihr Revolver wären mir eine unschätzbare Hilfe!«

»Gewiss. Ich nehme an, es geht um den Werwolf?«

Holmes nickte. »Ich denke, dass er heute Abend wieder morden wird. Wir müssen bereit sein, um dem Treiben ein Ende zu bereiten!«

»Wie kommen Sie darauf, dass er gerade heute zuschlägt?«, wunderte ich mich. »Und überhaupt – wissen Sie denn, wer es ist?«

»Das weiß ich schon eine Weile. Die Frage ist nur, ob ich es beweisen kann. Und das konnte ich bisher nicht. Daher entschied ich mich, den Mannwolf auf frischer Tat zu ertappen; dies sollte jedem Gericht als Beweis dienen, um ihn an den Galgen zu bringen!«

»Um Himmels willen, Holmes!«, rief ich in meinem Entsetzen aus. »Wenn Sie den Täter kennen, wie können Sie dann so ruhig dasitzen? Er hätte schon viel früher zuschlagen können!«

»Das glaube ich nicht. Gedulden Sie sich noch etwas und Sie werden verstehen, wie ich hier all die Abende so ruhig sitzen konnte. Aber nun rasch – machen Sie sich zum Aufbruch bereit! Und vergessen Sie den Revolver nicht!«

Er selbst sprang ebenfalls auf und eilte in sein Zimmer. Ich kam seiner Aufforderung nach. Dabei schenkte ich den Koffern einen kurzen Blick. Ich würde am nächsten Morgen im Zug schlafen können; bis nach Schottland hinauf war es doch ein gutes Stück!

*

Wir nahmen ein Brougham zu jenem Ort, an dem das zweite Opfer sein Ende gefunden hatte, stiegen dort aus und trafen zu meiner Überraschung Lestrade sowie einige seiner Beamten.

»Sind Sie sicher, dass es heute Nacht geschehen wird?«, fragte der Inspector, nachdem er uns begrüßt hatte.

»Sehr sicher!«, erwiderte mein Freund. »Watson und ich werden nun dahin gehen, wo wir den Täter vermuten. Sollten wir richtig liegen, treiben wir ihn in Ihre Arme! Aber halten Sie sich versteckt, falls er uns zuvorkommt!«

Holmes hatte sehr leise gesprochen. So, als würde er schon jetzt fürchten, dass wir dem Täter unsere Pläne verraten könnten.

Nachdem Lestrade ihm durch ein kurzes Nicken zu verstehen gegeben hatte, dass er verstanden habe, wandte sich Holmes um und bedeutete mir, ihm zu folgen.

Wir gingen jene Straßen entlang, die wir schon einmal genommen hatten. Schließlich erreichten wir jene Abzweigung, hinter der sich das letzte Mal die Spur verlor.

Diesmal betraten wir die kurze Sackgasse jedoch nicht, sondern begannen damit, die Straße auf und ab zu spazieren.

Zum Glück gab es hier einige Läden, sodass wir uns deren Auslagen anschauen konnten. Wer jedoch einmal in der abendlichen Januarkälte spazieren gegangen war, der mag erahnen, wie schnell jede Wärme aus unseren Gliedern wich. Zumal wie uns nicht allzu auffällig verhalten durften. Es war noch recht früh am Abend, gerade neun durch, sodass doch etliche Passanten unterwegs waren.

Wir sahen einige Prostituierte, die auf der Straße nach Kunden Ausschau hielten. Männer betraten die Pubs, einige suchten aber die zahlreichen Bordelle auf, die es hier im East End zu finden gab.

Mehr und mehr fühlte ich mich in meiner Haut unwohl. Zumal einige der käuflichen Damen der Meinung zu sein schienen, dass Holmes und ich lediglich zu scheu seien, sie anzusprechen. So kam es, dass sie uns anzügliche Blicke schenkten, jedoch auf Distanz blieben.

Seltsamerweise schien mein Freund durchaus Gefallen an diesem Spiel zu haben, denn er erwiderte das Lächeln hin und wieder, ohne jedoch die Abzweigung aus dem Blick zu verlieren.

»Holmes, meine Füße werden taub. Wie lange müssen wir noch warten?«, fragte ich ihn, als die Glocke zehn schlug.

»Ich denke, er wird bald … Da ist er!«

Holmes wandte sich ab, doch in der Scheibe eines Gemischtwarenladens konnten wir einen großen Mann sehen, der dick bekleidet auf die breite Straße trat, sich umschaute und dann langsam davonging.

Ihm folgten wir in einigem Abstand. Er ging in jene Richtung, in der Lestrade und seine Männer warteten, bog dann aber überraschend in eine kleine Straße ab.

In ihr wurde es deutlich düsterer, denn nicht alle Laternen funktionierten klaglos. An manchen Stellen griffen lange Schatten nach uns, an anderen wiederum fiel das Licht zwielichtiger Spelunken durch schmuddelige Fenster und färbte den Schnee mal rot, dann wieder blau.