Kitabı oku: «Ausbruch», sayfa 2

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10. Februar, Paris

Lisa Biaggi führt ein sehr geregeltes Leben. Sie verlässt frühmorgens ihre kleine Wohnung in der Rue de Belleville, nimmt an der Station Belleville die Métro, um nach La Défense zu gelangen, wo sie in einem Zentrum für Arbeitsmedizin als Sprechstundenhilfe arbeitet, und unterbricht die Fahrt an der Station Étoile, um an einem international gut sortierten Kiosk – Tourismus verpflichtet – die italienischen Zeitungen vom Vortag zu kaufen. Sie schlägt sie nicht gleich auf, sie nimmt sich Zeit zum Schlendern und lässt die Gedanken schweifen. Heute ist es sonnig und kühl, wie ein Vorgeschmack des Frühlings, sie setzt sich mit dem Gesicht zur Sonne auf eine Caféterrasse ganz am Anfang der Champs-Élysées und bestellt einen Cappuccino und Croissants. Dieser Zwischenstopp ist der beste Moment des Tages. Sie kostet ihn aus. Seit 1980 ist sie politischer Flüchtling in Frankreich, sie hat hier eine feste Arbeit gefunden, die ihr eine relativ komfortable Existenz ermöglicht, kann sich aber nicht dazu durchringen, hier tatsächlich ihr Leben zu leben. Sie ist über vierzig. Sie spürt, wie sich ihr Körper, ihr Gesicht, ihr Geist verhärten beim Warten auf die Rückkehr, aber es hilft nichts, und die Lektüre der Nachrichten aus der Heimat entfacht den Schmerz des Exils jeden Tag neu. Sie betrachtet den immer dichter werdenden Menschenstrom auf dem Gehweg, seufzt, der Cappuccino ist getrunken, die Pause ist zu Ende, sie schlägt den Corriere della Sera auf, beginnt gedankenverloren darin zu blättern. Schock. Im Innenteil Carlos Foto. Carlo, ihr Gefährte, der Mann ihres Lebens. Überschrift: Spektakuläre Flucht ... Mit Herzklopfen und verschwommenem Blick springt sie von Zeile zu Zeile.

In einem Müllwagen ... mit seinem Mithäftling, Filippo Zuliani, einem Kleinkriminellen ... Komplizen unter den Müllfahrern. Nach den beiden Flüchtigen wird gefahndet ... Fotos der beiden Flüchtigen. Der kleine Gauner sieht auch aus wie einer. Worauf hat sich Carlo in dessen Gesellschaft bloß eingelassen? Nicht sehr beruhigend.

Sie faltet die Zeitung zusammen, versucht sich einzureden, dass Carlo es schon schaffen wird, dass er noch nicht tot ist, aber vergeblich, sie sieht ihn tot. Sie sammelt ihre Sachen ein und macht sich auf in Richtung Métro, nach La Défense ins Büro. Zum Weinen ist es zu früh oder zu spät.

Im Vielleuse, Rue de Belleville, spielt Lisa Billard, augenscheinlich ganz ins Spiel vertieft, ihre schmale, hohe Gestalt über das grüne Tuch gebeugt, das Gesicht von ihren halblangen braunen Locken verdeckt, jede Bewegung präzise. Eine Gepflogenheit, die über acht Jahre zurückreicht, in die Zeit ihrer ersten geheimen Missionen in Paris, als Carlo ihr Kontaktmann zur Organisation in Mailand war. Billard beschäftigt Kopf und Hände, wenn man Abend für Abend zu festen Zeiten auf einen Anruf wartet. Lisa kam auf den Geschmack, und nach Carlos Verhaftung, als das Warten sich erübrigt hatte, machte sie weiter. Bei der Handvoll Stammgäste des Bistros gilt sie als gute Spielerin und wird sehr von ihnen geschätzt, passabel spielende Frauen gibt’s nicht so oft. Heute jedoch spielt sie wie früher, um sich das Warten zu verkürzen. Carlo ist wieder frei ... die alten Gewohnheiten aus der Untergrundzeit, warum nicht? Telefonklingeln, das dritte an diesem Abend. Jedes Mal zuckt sie zusammen, wie früher. Der Wirt nimmt ab, sieht sie an, winkt ihr zu, diesmal ist es für sie, sie eilt zu der alten Telefonkabine, verschließbar, diskret, ganz hinten im Raum, wie früher.

»Lisa, ich bin’s.«

Obwohl es sie sehr aufwühlt, zum ersten Mal seit sieben Jahren wieder persönlich seine Stimme zu hören, ist ihr zum Lachen zumute, wer sonst sollte es denn sein? Ein seit sieben Jahren auf Eis liegendes telefonisches Stelldichein ...

»Ich weiß.«

»Ich wusste, ich würde dich erreichen. Ich liebe dich.«

»Ich habe Angst, Carlo.«

»Ganz ruhig. Ich habe wenig Zeit. Hör mir gut zu. Die Führungsspitze unserer Organisation hat erklärt, dass sie den bewaffneten Kampf einstellt und ihre Niederlage anerkennt.«

»Ich weiß, ich lese immer noch Zeitung.«

»Sie hat das Richtige getan, ich bin einverstanden, auch wenn ich gern gefragt worden wäre. Aber dadurch ändert sich die Lage. Ich habe den Kampf sieben Jahre lang im Knast fortgesetzt. Ich habe nicht aufgegeben, ich habe alle Weisungen befolgt. Doch jetzt legen wir die Waffen nieder, es ergibt keinen Sinn mehr, im Knast zu bleiben. Für den Heldentod habe ich nichts übrig.«

»Das heißt?«

»Das heißt, ich gehe fort.«

»Einfach so?«

»Ja, einfach so. Du erinnerst dich? Damals nannten wir das ›Politik der Ziele‹. Hält man ein Ziel für richtig und notwendig, nimmt man es in Angriff, man verwirklicht es, man wartet nicht, bis man darauf angesetzt wird. Ich habe mir meine Freiheit genommen.«

»Das ist idiotisch, jetzt, wo die Roten Brigaden angekündigt haben, dass sie die Waffen niederlegen, wird man euch in den kommenden Monaten freilassen. Und wir können vielleicht in die Heimat zurück.«

»Niemals. Du redest, als würdest du sie nicht kennen. Sie hassen uns, weil wir ihre erbärmlichen Machenschaften haben auffliegen lassen, und weil wir ihnen Angst gemacht haben, richtig Angst. Sie haben entdeckt, dass sie womöglich sterblich sind. Jetzt, wo sie gewonnen haben, werden sie uns dafür bezahlen lassen, sie rächen sich und werden sich weiterhin rächen, es wird niemals eine Amnestie geben, sie lassen uns bis in alle Ewigkeit im Knast oder im Exil vergammeln.«

»Das kann nicht sein, Carlo, es gibt noch Demokraten in diesem Land ...«

»Du bist naiv. Kennst du den Berg von Sondergesetzen, wie viele von uns sitzen im Knast? Fünftausend? Mehr? Du hast doch das neue Aussteiger-Gesetz gelesen? Erst die Reumütigen, jetzt die Aussteiger, du wirst sehen, was für verheerende Folgen das hat, wir werden an der Wurzel verfaulen. Wir werden in alle Richtungen auseinandergesprengt, sie werden alles daransetzen, uns zu vernichten, einen nach dem andern. Unsere Politiker, Pseudo-Demokraten inbegriffen, sind unfähige und rachgierige Versager.«

»Nehmen wir an, es wäre so. Erhöht das deine Chancen, davonzukommen?«

»Zumindest werde ich es versucht haben. Den Gefallen, im Gefängnis zu verrecken, tue ich ihnen nicht. Ich bereue nicht, ich steige nicht aus, ich leugne nichts, und die, die es tun, widern mich an. Denen aber, die gewonnen haben, sage ich, ihr könnt mich mal, ich beschaffe mir mit kleinstmöglichem Risiko Geld und Papiere und haue ab, ich werde anderswo leben, wo ich frei atmen kann.«

»Seit sie dich vor einem halben Jahr zu den gewöhnlichen Strafgefangenen verlegt haben, habe ich Angst. Ich fand das nicht normal. Ich habe Angst, dass das eine Falle ist. Und jetzt noch dieser Mithäftling ...«

»Keine Paranoia, Lisa.«

»Was jetzt, bin ich naiv oder paranoid?«

»Beides. Mach dir keine Sorgen. Mein Mithäftling und ich haben uns schon getrennt.«

»Und die Komplizen, von denen in den Zeitungen die Rede ist?«

»Die Müllfahrer. Das sind keine Politischen, sondern kleine Ganoven. Sie wurden bezahlt, sie sind untergetaucht und sie wissen nichts. Meine beiden derzeitigen Begleiter sind auch keine Politischen, und ich traue ihnen. Lisa, gib mir Zeit, dieses Geld und diese Papiere zu beschaffen, alles ist geplant und organisiert, das wird nicht schwierig, ich werde mich nicht in Gefahr begeben, und danach verschwinde ich ins Ausland. Von dort rufe ich dich an, und du kommst zu mir. Mein nächster Anruf wird der Beginn unseres neuen Lebens sein. Ich liebe dich, Lisa ...«

»Hör auf. Sei still. Das verkrafte ich nicht. Ich erwarte deinen nächsten Anruf.«

Sie legt auf. Die Angst ist unvermindert stark. Die Müllmänner sind keine Politischen, sind sie deshalb schon vertrauenswürdig? Kein Risiko, das glaubt sie nicht. Der Tod lauert überall. Sie lehnt sich gegen die Scheibe der Telefonkabine, atmet tief durch.

Februar/​März, Mittelitalien, im Gebirge

Filippo läuft in Richtung Nord-Nord-Ost. Es ist sehr schönes Wetter bei klarer Spätwintersonne. Er läuft frühmorgens, in den kältesten Stunden des Tages, um sich aufzuwärmen, macht in der prallen Mittagssonne ein Nickerchen, wäscht sich gelegentlich, nicht oft, in eiskalten Flüssen und sucht nachts Unterschlupf in verfallenen Hütten, unter Büschen, um zu schlafen so gut es eben geht. Er hält sich am Hang, ohne sich allzu weit von der Ebene zu entfernen. In den Dörfern, durch die er kommt, kauft er Brot und Käse. Pro Tag legt er gut zwanzig Kilometer zurück. Die Wege sind steil, das Laufen ist beschwerlich, zumal für ihn, der nie einen anderen Sport getrieben hat als den hektischen Sprint durch die Straßen von Rom, um den Bullen zu entwischen, aber es macht ihm ganz unerwartet Freude. Nach dem Lärm, in dem er die ganzen letzten Jahre gelebt hat, erst in den besetzten Häusern Roms, dann im Gefängnis, entdeckt er jetzt die Stille des Mittelgebirges, gewöhnt sich nach und nach daran, empfindet sie als schützenden Kokon, in den er sich schmiegt, horcht darauf, was sein Körper ihm sagt, seine sich ausbildenden, kräftiger werdenden Muskeln, seine sich tief mit Luft füllende Lunge. Er horcht auf die Wörter und Sätze, die in seinem Kopf Gestalt annehmen, ohne Ordnung und ohne Ziel, und frohlockt darüber, sich frei zu fühlen, ohne Bindungen und ohne Zukunft.

Eines Tages, er ist schon über eine Woche unterwegs, erblickt er hinter einer Wegbiegung am Übergang zwischen Ebene und Gebirge, gestochen scharf in der Sonne, wie ein zum Greifen nahes Spielzeug die strenge Silhouette einer ganz aus Stein erbauten Stadt, ein von Mauern umringter Wald aus Türmen, ein steinernes Universum in Gelb- und Weißtönen, aus dieser Entfernung keine Spuren menschlichen Lebens.

Ein Gefühl großer Vertrautheit. Er hat diese Stadt, oder ihren Zwilling, schon einmal gesehen, auf einem großen gerahmten Foto. In der Kneipe Guidoriccio da Fogliano, wo seine Mutter ihn regelmäßig hinschickte, seinen Vater holen, wenn der zu voll war, um allein nach Hause zu finden, hing es hinter der Kasse an der Wand. Auf dem Foto bildeten die steinernen Städte den Gegenpart zu einem Eroberer in Rüstung und seidenem Waffenrock, aufrecht auf seinem Ross, das einzige menschliche Wesen weit und breit in einer mit Befestigungsbauten und Lanzen gespickten weißen Felsenlandschaft vor schwarzem Himmel, im Krieg gegen die ganze Erde und gegen alle Götter, eine bewusste Pose für die Ewigkeit. Die Einsamkeit war sein Reich. Dieser Eroberer menschenleerer Landstriche und verlassener Städte hatte lange Zeit die Tagträume des nach einer Identität suchenden Kindes Filippo bewohnt. Maßlos bewunderte er den großartigen siegreichen Krieger und zugleich Todesengel, der jede Form von Leben um sich herum auslöschte. Wenn er ihn neben sich heraufbeschwor, empfand er eine Mischung aus Angst und Sehnsucht, die ihn wohlig erschauern ließ. Seine besten Kindheitserinnerungen.

Jetzt, am Ende der Welt auf einer unglaublichen Flucht, holen ihn diese Erinnerungen ein, und auch wenn heute die Angst vor den verlassenen Städten den Ruhm des Eroberers überstrahlt – eine Frage des Standpunkts –, macht dieses vertraute Bild Filippo Mut, gibt ihm das eigentümliche Gefühl, nicht ganz verloren zu sein. Er grüßt die Stadt von fern und setzt seinen Weg fort.

4. März, Bologna

Er läuft. Die Tage verrinnen, einer nach dem anderen, ohne Zwischenfälle, alle gleich, die Zeit hat kein Maß mehr. Nach zwei oder drei Wochen taucht eine wuchtige Kirche in Filippos Blickfeld auf, einsam liegt sie zwischen Bäumen auf einem Bergkamm. Er wagt sich bis auf den Vorplatz. Vor ihm fällt der Berg steil ab zu einer bis zum Horizont reichenden Ebene. Zu seinen Füßen, ganz nah, Bologna, mit seinen Türmen, seinen Campaniles, seinem von den neueren Stadtvierteln umschlossenen Altstadtkern aus braunem Stein und rosaroten Ziegeln, lebendiges buntes Treiben, das bis zu ihm heraufschallt. Er verharrt reglos. Durch das viele Laufen hat er schließlich sein Ziel erreicht, den Norden. Bittere Erinnerung an das Verlassenwerden, das ihn genau da hat landen lassen, wo er jetzt ist: auf einem Grat zwischen zwei Welten. Fest steht: Er ist verloren. Angst: »Du musst dich verstecken, bis sich die Lage beruhigt.« Woher weiß er, wann die Lage sich beruhigt hat? Sich verstecken, immerzu? Vor der Kirche beginnt ein Säulengang, halb Weg, halb Treppe, der fast schnurgerade zur Stadt hinunterführt. Die unzähligen gelb und rot gefärbten lichtdurchfluteten Arkaden künden von dem Glück, wieder auf menschliche Gesellschaft zu stoßen, auf belebte Straßen, auf Leute, die sich begegnen, drängeln, vielleicht miteinander reden. Überraschungen, Entdeckungen, Missgeschicke, die tausend Mosaiksteinchen des ständig pulsierenden urbanen Lebens, das Ende der Einsamkeit, dort, ganz nah, ein paar hundert Meter entfernt. Die Verlockung ist zu groß. Ohne länger zu überlegen, beginnt Filippo den Abstieg, fängt an zu rennen, stürmt den Hang hinab, springt von Stufe zu Stufe, mag kommen, was will.

Nachdem er in einem öffentlichen Bad, beim Frisör und beim Barbier gewesen ist, kauft sich Filippo eine Zeitung und setzt sich auf eine Caféterrasse, um sie bei einem Espresso durchzublättern. Nicht, dass Barbierbesuche oder Zeitunglesen zu seinen Gewohnheiten zählen, aber diese Handlungen scheinen ihm angemessene Rituale zur Feier seiner Rückkehr ins Stadtleben. Er faltet die Zeitung auseinander, wirft achtlos einen Blick darauf und bleibt an der Titelschlagzeile hängen.

Überschrift: GEHT DER ROTE TERROR WIEDER LOS? Unterzeile: »Ehemaliger Anführer der Roten Brigaden bei missglücktem Bankraub in Mailand getötet.«

Kumpels von Carlo vielleicht? Der Artikelvorspann springt ihm ins Gesicht:

Carlo Fedeli, einer der dienstältesten Aktivisten der Roten Brigaden, der vor drei Wochen aus dem Gefängnis geflohen war, wurde gestern vor der Mailänder Filiale der Banca di Sardegna e Piemonte in der Via Del Battifolle 10 bei einem versuchten Raubüberfall getötet ...

Sein Blick verschwimmt, er krümmt sich auf seinem Stuhl, atmet stoßweise, Tränen steigen ihm in die Augen. Das Gefühl, im Stich gelassen, verraten worden zu sein, war so stark, dass er die Erinnerung an Carlo komplett verbannt hatte. Jetzt kehrt sie mit Macht zurück. »Versteck dich ... Pass auf dich auf.« Du hast mich nicht im Stich gelassen, du bist in den Krieg gezogen und hast versucht mich zu schützen. Ich aber dachte, du lässt mich fallen, ich habe dir nicht vertraut, der Verräter bin ich, ich schäme mich.

Als er wieder ruhig atmen kann, liest er weiter.

Gestern, am Freitag, dem 3. März, hält gegen 15 Uhr ein Geldtransporter vor der Filiale der Banca di Sardegna e Piemonte in der Mailänder Via Del Battifolle. Zwei Mann bewaffneter Geleitschutz, Massimo Gasparini und Fredo Albrizio, steigen aus und betreten die Bank, in der sie sich maximal zwei Minuten aufhalten dürfen. Sie sind Profis. Die Zeitpläne ihrer Touren wechseln täglich, um die Gefahr von Überfällen auszuschließen. Doch diesmal wurden sie erwartet.

Kaum haben sie die Bank betreten, halten zwei Lieferwagen in Parkbuchten links und rechts der Filiale und versperren so die Sicht auf ein breites Stück Gehweg. Die beiden Wachmänner kommen heraus, einer trägt zwei Säcke, der andere hat die Hand am Holster. In dem Augenblick steigt Carlo Fedeli mit gezogener Waffe aus dem rechten Lieferwagen und brüllt dem bewaffneten Wachmann zu, er soll die Hände hochnehmen, während zwei Komplizen aus dem anderen Lieferwagen springen, um die Säcke in ihre Gewalt zu bringen. Genau in diesem Moment kommen zufällig zwei Carabinieri aus den Kundenräumen, wo einer der beiden, ein Stammkunde dieser Filiale, soeben Schecks auf sein Konto eingezahlt hat. Dann geht alles sehr schnell. Die beiden Carabinieri greifen zu ihren Waffen, Carlo Fedeli dreht sich um, richtet die Waffe auf sie, ein Schuss fällt, abgegeben von einem der Geldtransportbegleiter oder einem von Fedelis Komplizen. Carabiniere Lucio Renzi sieht sich bedroht, schießt und trifft Carlo Fedeli, der auf der Stelle tot ist. Seine beiden Komplizen begreifen, dass das Unternehmen gescheitert ist, feuern ihrerseits ein paar Salven ab, um ihre Flucht zu sichern, und töten Carabiniere Giorgio Barbieri, 28 Jahre alt, verheiratet, Vater zweier kleiner Kinder von 1 und 3 Jahren, sowie einen der Geldtransportfahrer, Nino Gasparini, ebenfalls verheiratet und Vater einer fünfjährigen Tochter. Dann verschwinden sie, vermutlich auf ein oder zwei Motorrädern. Die beiden Lieferwagen waren gestohlen. Sie werden derzeit von Kriminaltechnikern untersucht, bislang ohne Ergebnis.

Die Polizei hat die flüchtigen Komplizen noch nicht identifiziert, verfolgt aber eine heiße Spur.

Erste Reaktion, idiotisch: Und wenn es gar nicht wahr ist? Er setzt eine unbeteiligte Miene auf, steht auf und kauft am nahe gelegenen Kiosk zwei weitere Tageszeitungen. Kehrt zu seinem Tisch zurück, faltet sie auseinander. Doch, da ist die Meldung, identisch. Auf einer der Titelseiten prangt sogar ein großes Foto von drei mit Planen zugedeckten Leichen, einem blutverschmierten Gehweg.

Es ist also wahr. Muss wahr sein. Jetzt darf er im Schmerz versinken, den Blick starr auf das Foto geheftet. Ein paar Tränen. Erinnerungen. Die langen Gespräche, die Freundschaft, ja Bewunderung für diesen Mann, der so gut reden konnte. Durch das viele Zuhören dachte ich schließlich, die Geschichte, die er erzählte, wäre irgendwie ein bisschen auch meine Geschichte. Gefühl eines unwiederbringlichen Verlusts, wie ein Loch in meinem Leben.

Dann, Schock, Carlos Sätze, die sich jäh und glasklar zurückmelden: »Ich denke, man wird viel über meine Flucht reden. Und man wird nach dir fahnden, weil du mit mir geflohen bist. Du musst dich eine Zeitlang verstecken, bis sich die Lage beruhigt.« Für einen Moment hatte Schweigen geherrscht, dann hatte Carlo gefragt: »Verstehst du, was ich dir sage?« Natürlich nicht, in dem Augenblick hatte er es nicht verstanden, und er fühlt sich schuldig. Jetzt wiegen diese Worte tonnenschwer. »Man wird viel über meine Flucht reden.« Warum seine Flucht? Es war auch meine, oder etwa nicht? Ich muss unbedingt Presseberichte über unsere Flucht auftreiben. Wo kriegt man die her? Filippo faltet seine Zeitungen zusammen, steckt sie in den Rucksack, bezahlt seinen Kaffee und macht sich auf die Suche nach einer öffentlichen Bibliothek.

In der Stadtbibliothek ist die inländische Tagespresse des gesamten zurückliegenden Monats frei zugänglich. Es sind kaum Leute da. Filippo findet schnell die Zeitungen von der Woche ihrer Flucht, erinnert sich aber vor Aufregung nicht an das genaue Datum. Er schnappt sich die komplette Woche und setzt sich mit dem Rücken zum Raum an einen Einzelplatz.

Rasch stößt er auf die Titelseite der Stampa, Schlagzeile: »Flucht eines ›Gründervaters‹ der Roten Brigaden.« Darunter zwei Fotos: eins von Carlo und eins von ihm. Neuerlicher Schock. Ein Bild von ihm, Filippo, vorn auf einer Zeitung. Das ist doch aberwitzig. Er schließt die Augen, fährt mit der Hand über das Foto, betrachtet es erneut, es ist immer noch da, er muss sich damit abfinden. Er liest die Bildunterschrift: »Filippo Zuliani, verurteilter Straftäter und Mithäftling von Carlo Fedeli, wichtigster Komplize bei einem von langer Hand geplanten Ausbruch.«

Komplize bei einem von langer Hand geplanten Ausbruch. Diesmal packt ihn Panik. Die Polizei fahndet nach den Komplizen des Bankraubs, nach den Polizistenmördern, und sie verfolgen eine heiße Spur. Die heiße Spur bist du. Wichtigster Komplize bei einem von langer Hand geplanten Ausbruch, und kannst nicht beweisen, dass du zur Zeit des Überfalls allein durchs Gebirge gewandert bist. Kannst nicht beweisen, dass du nicht auf diesem Gehweg vor dieser Bank in Mailand warst, wo du noch nie gewesen bist. Seine Geschichte ist ein bisschen auch meine Geschichte. Nein, sie ist nicht ein bisschen deine Geschichte, du steckst bis zum Hals mit drin. Wenn die Bullen dich schnappen, bist du erledigt. Und hier in der Zeitung ist dein Foto. Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Wie dumm von dir, zum Barbier zu gehen. Wie kommt es, dass du noch nicht erkannt worden bist? Irrsinniger Drang zu fliehen. Kämpf dagegen an. Verhalte dich unauffällig. Die Zeitungen müssen zurückgeräumt werden. Schweißausbruch, feuchte Hände. Stocksteif legt er die Zeitungen zurück an ihren Platz, kontrolliert, ob sie richtig einsortiert sind, steuert auf den Ausgang zu. Nichts geschieht. Er geht hinaus. Niemand spricht ihn an.

Er läuft durch irgendwelche Straßen, setzt sich auf eine Bank, um sich wieder zu fangen. Zwei Tote. Man wird mir zwei Tote anhängen. Zwei Tote, einer davon ein Carabiniere. Das steh ich niemals durch. Nicht ich, nicht zwei Tote, das ist vollkommen aberwitzig. Dazu hab ich gar nicht das Zeug. Einziger Ausweg, abhauen, verschwinden. »Falls es dir in Italien zu heiß wird, geh nach Frankreich. Lisa Biaggi in Paris. Geh zu ihr, sag, dass ich dich schicke, sie wird dir helfen.« Die hatte er ganz vergessen. Er greift in den Rucksack, wühlt hektisch darin herum, da ist er ja, ganz unten, der Umschlag mit Lisas Adresse. Das ist die Rettung.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
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ISBN:
9783867549646
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