Kitabı oku: «Schwarzes Gold», sayfa 3
Dienstagmorgen, Marseille
Daquin wird am frühen Vormittag zum Direktor des SRPJ Marseille bestellt, der ihn sehr freundlich empfängt. Nicht unbedingt ein gutes Zeichen.
»Ein Mord letzte Nacht in Nizza, das Opfer, Maxime Pieri, ist eine vielschichtige Persönlichkeit, ein bedeutender Marseiller Unternehmer mit einer bewegten Vergangenheit, was seine frühen Jahre betrifft. Grimbert wird Ihnen mehr dazu sagen. Der Staatsanwalt von Nizza hat uns im Rahmen eines beschleunigten Verfahrens mit dem Fall betraut. Ich habe mich mit Richter Bonnefoy beraten, er denkt, die Sache in Belle de Mai ist eine klassische Abrechnung unter Gangstern, und hat nicht vor, eine ausufernde Ermittlung einzuleiten. Sie werden bei diesem Dossier nicht mit Arbeit überlastet sein. Ich habe daher entschieden, Ihnen auch den Fall Pieri zu übertragen, Ihnen und Ihrem Team. Für Sie ist das eine Gelegenheit, sich warmzulaufen. Hier ist das, was uns Nizza per Telex übermittelt hat.« Der Chef reicht Daquin eine dünne Mappe, nur wenige Zettel. »Sie finden darin die Polizeiberichte vom Tatort, die Zeugenaussagen, die an Ort und Stelle aufgenommen wurden, und die Kontaktdaten des Büros vom Staatsanwalt von Nizza. Inspecteur Bonino ist Ihr Ansprechpartner in der dortigen Dienststelle des SRPJ. Sie haben seine Kontaktdaten in der Akte, er ist informiert und erwartet Ihren Anruf. Viel Glück, Daquin.«
Daquin nimmt die Akte, das Gesicht ausdruckslos, ohne Reaktion. »Danke, Herr Direktor.«
Er steht auf und geht hinaus. Jagd auf Niçoiser Territorium, das Opfer eine vielschichtige Persönlichkeit. Ein Auftrag, der stinkt? Vielleicht, aber beschleunigtes Verfahren, eine Chance. Er muss versuchen, sie voll und ganz zu nutzen. Daquin kehrt zurück zu Grimbert und Delmas, die in ihrem Büro auf ihn warten.
»Was wollte der Direktor?«
»Er überträgt uns das Dossier zum Mord an Maxime Pieri vergangene Nacht.«
Grimbert stößt einen überraschten Pfiff aus. »Ich habe die Nachricht von seiner Ermordung heute Morgen im Radio gehört, ich hätte nie gedacht, dass wir eine Chance haben, diesen Fall zu erben.« Daquin hört die Aufregung in seiner Stimme. »Klären Sie uns auf, Commissaire.«
»Der Staatsanwalt von Nizza hat sich für ein beschleunigtes Verfahren entschieden, das unter seiner Aufsicht bleibt, und er hat den SRPJ von Marseille eingesetzt. Der Chef hat uns mit der Ermittlung betraut, mehr weiß ich nicht. Hier ist die Akte, dünn, klar, der Mann wurde vor sieben Stunden getötet. Wir lesen sie und sprechen dann darüber.«
Ein paar Minuten später: »Was denken Sie, Grimbert? Motorrad, großes Kaliber, zehn Schüsse, ist es die x-te Abrechnung im Milieu?«
Grimbert zögert. Brauen zusammengezogen, keine Spur mehr von seinem schiefen Lächeln. Dann legt er los. »Ich stelle gewaltige Ungereimtheiten fest. Erstens mal ist die Exekution zu sauber. Der Mörder schießt nicht aus nächster Nähe, trotzdem trifft er die Frau an Pieris Arm nicht, keine Sachschäden ringsum, die Killer aus dem Milieu arbeiten selten so präzise. Dann die Persönlichkeit von Pieri. Er war zwar einer der Kapitäne von Antoine Guérini, aber vor etwa zehn Jahren hat er auf Geschäftsmann umgesattelt. Heutzutage ist er im Wirtschaftsleben von Marseille ein bekannter Mann, er besitzt eine Firma, die Somar, die ein Dutzend Frachter im Einsatz hat. Ich sehe nicht, dass er sich an den aktuellen Machtkämpfen der Clans beteiligt.«
»Dem Chef zufolge wissen Sie etwas mehr darüber, als Sie uns sagen.«
Grimbert zögert, entschließt sich dann. »Pieri gehört zu der Generation Korsen, die bei Kriegsende und in der Nachkriegszeit enge Beziehungen zur Politik geknüpft haben. Er stand in dem Ruf, Geschäfte an der Grenze der Legalität zu machen …«
»Auf welcher Seite der Grenze? Diesseits oder jenseits?«
»Jenseits natürlich, das ist doch der Sinn der Redewendung, und zwar mit etlichen Mitgliedern der feinen Marseiller Gesellschaft. Aber das sind bloß Gerüchte, ich habe keinerlei konkreten Beweis.«
»Das könnte ein guter Grund dafür sein, erschossen zu werden.«
»Ja, sicher.«
»Ist es denkbar, dass eine Abrechnung im Milieu inszeniert wurde, um eine gründliche Ermittlung zu verhindern?«
»Das wäre amüsant. Und schlau, mitten im Krieg von Zampa gegen Le Belge. Man könnte glatt auf die Idee kommen, die zehn Kugeln, die man auf Pieri abgegeben hat, wären eine Art Anspielung auf die zehn Kugeln, mit denen Antoine Guérini erschossen wurde. Einfach um sicherzugehen, dass wir die Parallele ziehen.«
»Wie sind unsere Beziehungen zu den Kollegen in Nizza?«
»Kompliziert. Nizza und Marseille sind zwei unterschiedliche Städte. Nicht die gleiche Bevölkerung, nicht die gleichen Politiker. Nicht die gleichen Banditen und nicht die gleichen Bullen. Da wir nicht sehr regelmäßig zusammenarbeiten, sind die Beziehungen ansonsten nicht katastrophal. Ich würde sagen, auf der Mitte zwischen nicht berühmt und passabel. Eher besser als zwischen den verschiedenen Diensten hier im Évêché.«
»Ich rekapituliere. Ein Mord, vielleicht eine Abrechnung im Milieu, vielleicht nicht. Wir werden im Rahmen eines beschleunigten Verfahrens eingesetzt. Ein beschleunigtes Verfahren dauert fünfzehn Tage. Während dieser Zeit haben wir echte Ermittlungsbefugnisse, wir entziehen uns dem Einfluss von Richter Bonnefoy, der aus dem Spiel ist, und unterstehen allein der Aufsicht des fernen Staatsanwalts Coulon, der in Nizza sitzt. Wir können den Fall auf Sparflamme kochen, niemand wird uns das verübeln, oder die Gelegenheit beim Schopf packen und fünfzehn Tage wie die Verrückten arbeiten. Spielen wir das Spiel oder spielen wir es nicht? Grimbert?«
»Wir spielen es.«
»Delmas?«
»Ebenso.«
Adrenalinstoß, Hitzewallung. Gefühl, die Geburt eines Teams zu erleben, wie manchmal beim Rugby inmitten von Gefahr und Zusammenstößen.
»An die Arbeit, keine Zeit zu verlieren. Ich fahre rüber nach Nizza und besuche Bonino in der Dienststelle des SRPJ und Staatsanwalt Coulon. Soll ich einen Durchsuchungsbeschluss für Pieris Firma beantragen?«
»Versuchen können Sie es, aber es würde mich wundern …«
»Wir werden sehen. Sie hier besorgen uns die Polizeiakten über Pieri, Sie treiben Bullen auf, die ihn gekannt haben und uns etwas über ihn erzählen können, Sie machen seine Familie ausfindig und Sie sammeln das Maximum an Informationen über seine Firma. Sie dürfen Ihrer Phantasie freien Lauf lassen, aber achten Sie darauf, dass Sie im abgesteckten Rahmen bleiben, solange die Maschinerie nicht angelaufen ist. Wir werden denen, die uns den Fall gern entziehen wollen, wer immer das sein mag, keinen Vorwand liefern. Morgen früh sehen wir uns hier wieder.«
Delmas und Grimbert treffen sich im Bar-Tabac auf dem großen Platz vor dem Eingang des Évêché. Für die Beamten der Kriminalpolizei ist es wie eine Nebenstelle. Ein gewöhnliches Bistro, aber mit einer großen Terrasse, die freien Blick auf das Zentralkommissariat bietet. So fühlt man sich nicht fremd. Bullen an allen Tischen.
Grimbert zieht Delmas zu einem sonnigen Tisch auf der Terrasse. »Hier muss man sich vorsehen, überall lungern Journalisten rum in der Hoffnung auf irgendwelche Tipps. Einen habe ich an der Bar gesehen, bestimmt ist er hier, um nach Informationen über Pieri zu fischen, ich bin nicht scharf darauf, mit ihm zu reden.«
Grimbert schlägt Delmas vor, die Arbeit aufzuteilen.
»Du übernimmst das Archiv im Évêché, du suchst alle Akten raus, die Pieri betreffen, wenn möglich, machst du seine Familie ausfindig und erstellst zu morgen eine Zusammenfassung. Ich für meinen Teil gehe zur Handelskammer und zum Finanzamt, mal sehen, was ich zusammenklauben kann. Morgen früh ziehen wir mit dem Commissaire Bilanz.«
Die Handelskammer hat ihren Sitz in einem Gebäude mit monumentaler Fassade, kitschig und überladen, eine Glanzleistung der Kommunikationspolitik des Marseiller Unternehmertums Ende des 19. Jahrhunderts: Es war geboten, auf reich zu machen, das ist gelungen. Die Verantwortlichen der Kammer weigern sich einhellig, Inspecteur Grimbert zu empfangen. Zu viel zu tun, keine Zeit zu vergeuden, nichts zu sagen. Und sie schicken ihn zu ihren Sekretärinnen, die seit den frühen Morgenstunden ihren Text auswendig gelernt zu haben scheinen: Pieri, ein dynamischer Unternehmer, sehr präsent bei allen Sitzungen. Sicher, er gehört nicht zur selben Welt wie die großen Familien der Ölmühlen und Seifenfabriken, die sich nicht dazu herablassen würden, ihn bei sich zu empfangen, ihn aus der Ferne aber schätzen. Ihnen ist nie auch nur das Geringste von einem ernsthaften Konflikt zu Ohren gekommen. Dieser Mord hat mit dem Marseiller Wirtschaftsleben nichts zu tun.
»Ein von zehn Kugeln durchlöcherter Körper, ein Großkaliber Sorte Bazooka, die Präzision eines Eliteschützen – Ihnen zufolge war das sicher eine eifersüchtige Ehefrau, die im Affekt getötet hat, ein Verbrechen aus Leidenschaft«, sagt Grimbert mit ernster Miene.
»Und warum nicht?«, antworten die Frauen lachend.
Verärgert über diese lässige Art, mit ihm umzuspringen, hat Grimbert einen Geistesblitz. »Wo ist das Dokumentationsarchiv der Kammer, ich will die Akte über die Somar einsehen.«
Unerwartetes Ansinnen, die Sekretärinnen beraten sich.
»Das Archiv ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, es ist Mitgliedern vorbehalten.«
»Ich bin nicht ›die Öffentlichkeit‹, ich bin Inspecteur der Marseiller Kriminalpolizei, und ich ermittle im Mord an einem Ihrer Mitglieder. Sagen Sie mir unverzüglich, wo sich das Archiv befindet.«
Das Archiv liegt unter dem Dach. Während er durch die engen, fensterlosen Gänge läuft, zweifelt Grimbert ernstlich am Nutzen seiner Unternehmung. Aber jetzt, wo er danach gefragt hat …
Die Dokumentarin steuert ihn schnell an die richtige Stelle. »Maxime Pieri, natürlich weiß ich von seiner Ermordung, ich habe Radio gehört. Ich bin ihm mehrmals begegnet, ein sehr höflicher Mann. Ich kann Ihnen seinen Nachruf geben.«
»Jetzt schon ein Nachruf? Er ist erst heute Morgen gestorben …«
»Wir haben zu allen wichtigen Marseiller Unternehmern Nachrufunterlagen, die wir ständig aktualisieren. Presseausschnitte und ein paar getippte Notizen. Um bei Bedarf Stoff für die Presseerklärungen und die Grabreden zu haben.«
»Reizend. Und die von Pieri hat noch niemand angefordert?«
»Nein.« Sie lacht. »Man wird sich um die Predigt nicht reißen. Auf der Straße erschossen wie ein Gangster, das macht sich schlecht. Und die Journalisten sind noch nicht auf die Idee gekommen, uns aufzusuchen. Hier ist die Akte, gehen Sie sorgsam damit um, bringen Sie die Ordnung nicht durcheinander.«
Grimbert setzt sich an einen kleinen Tisch in dem ausgestorbenen Archiv, die Dokumentarin wendet sich wieder ihrer Beschäftigung zu.
Als Erstes eine knappe biografische Notiz: Maxime Pieri wird 1926 in Calenzana auf Korsika geboren. Er kommt als Kind nach Marseille. Im Sommer 1944 beteiligt er sich mit der Waffe in der Hand an der Befreiung von Marseille. Im September 1944 tritt er als Freiwilliger in die legendäre 2e DB ein. Im Juni 1945 wird er mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet.
Kurzer Überschlag, damals war er neunzehn. Respekt.
Der nächste Abschnitt beginnt 1962 mit der Gründung der Somar. Die siebzehn Jahre seiner kriminellen Karriere mit Schweigen zugedeckt. Geschichte schreiben heißt, das Vergessen zu managen.
Grimbert notiert: Pieri gründet seine Firma 1962 mit einem einzigen Frachter. Er ist also sechsunddreißig Jahre alt. Beinahe stetiges Wachstum. Die Somar besitzt heute eine Flotte von zehn Schiffen und interessiert sich für das Chartergeschäft mit Öltankern.
Ein Artikel aus einer Wirtschaftswochenzeitung, Info Éco Avenir, wurde ausgeschnitten und abgeheftet. Er datiert von November 1964, unterzeichnet von einem gewissen Pascal Thiébaut, dessen Foto in Briefmarkengröße oben auf der Seite abgedruckt ist, neben dem Titel »Das Ende des Marseiller Modells?«.
Grimbert überfliegt die Beschreibung des »Marseiller Modells«: Die Geschäftstätigkeiten von Hafen und Industrie sind stark verflochten, da der Hafen die verarbeitende Industrie mit landwirtschaftlichen Rohstoffen aus den Tropen versorgt. Als das Hafengeschäft nachlässt, geht die davon abhängige Industrietätigkeit zurück, die Krise setzt ein. Der Artikel ist von 1964, und da ist die Krise schon da? Wir befinden uns seit zehn Jahren in der Krise und es geht einfach so weiter? Was treiben die eigentlich da oben? Ein traumverlorener Moment, dann nimmt Grimbert seine Lektüre wieder auf. Der Journalist fragt nach den Gründen: Zusammenbruch des Kolonialreichs und Industrialisierung der Dritten Welt, die die Versorgung mit Rohstoffen versiegen lassen? Nein. Die Hauptursache des Niedergangs von Marseille ist das Scheitern seiner wirtschaftlichen Eliten, schreibt er: »Ein Familienkapitalismus, der sich durch die Nachfolge von drei oder vier Generationen an der Firmenspitze überlebt hat, jeglichem Wandel misstrauisch gegenübersteht und lieber in Immobilien als in Industrie investiert, und Erben, die sich in die freien Berufe flüchten.«
Grimbert staunt über die Heftigkeit der Anklage in einer Publikation, die im Ganzen betrachtet sehr wenig revolutionär ist. Das für ihn Interessanteste kommt noch:
»Ist dieser Niedergang unabänderlich? Vielleicht nicht, wenn es den wirtschaftlichen Eliten gelingt, sich zu erneuern. Ich bin einem neuen Typus Unternehmer begegnet, die von Projekten nur so übersprudeln. Maxime Pieri hat sein Seefrachtunternehmen vor zwei Jahren gegründet, mit begrenztem Kapital und einem spektakulären Umsatzwachstum von nahezu 25 % pro Jahr. Ich frage ihn, woher diese Dynamik kommt. Zwei wesentliche Faktoren, sagt er. Die Welt ist im Wandel, man muss sich anpassen und neue Kunden finden. Er akquiriert in den Ländern östlich des Mittelmeers, Türkei, Syrien, Libanon, Handelsstrecken, die nicht mehr notwendigerweise über Marseille verlaufen. Und um das für sein Wachstum nötige Kapital aufzutun, umwirbt er eine Klientel, die Ersparnisse hat, aber nicht daran gewöhnt ist, in Geschäfte zu investieren. Er entwickelt neue Formen der Beteiligung-Investition mit begrenzter Laufzeit, um diese Leute anzuziehen, den Banken vertraut er nicht, zu teuer und zu ängstlich. Zudem liebäugelt er mit dem Erdöl, dem zweifellos die Zukunft gehört, sagt er, aber das ist eine andere Geschichte.«
Dann skizziert der Journalist das Porträt von zwei weiteren »Marseillern der Zukunft«. Grimbert hört auf zu lesen, die Dokumentarin ist anderswo beschäftigt, er steckt den Artikel ein, schließt die Akte, bringt sie ihr zurück, verabschiedet sich und geht.
Draußen auf der Straße läuft er mit schnellen Schritten, um seinen Kopf abzukühlen. Es fällt ihm schwer, den Artikel aus dieser Intelligenzlerzeitschrift zu schlucken, der Pieri als Helden der Marseiller Wirtschaft hinstellt.
Als Nächstes auf dem Programm: das Finanzamt des Bezirks La Joliette. Er steigt direkt hoch ins Büro von Inspektor Micchelozzi, ein Nachbar, mit dem er sonntags zur Zeit der Messe manchmal Boule spielt und dazu einen Pastis trinkt. Herzliche Begrüßung. Schon weniger herzlich, als Grimbert auf sein Anliegen zu sprechen kommt.
»Hast du von Pieris Ermordung gehört?«
»Natürlich.«
»Ich arbeite an dem Fall. Du kennst dich mit der Somar ein bisschen aus. Wie denkst du über die Sache?«
»Ich bin nicht persönlich mit der Somar befasst, aber ich bin wie alle anderen, ich weiß von Pieris früheren Beziehungen zu den Guérinis. Wenn du mich fragst, war seine Verbindung zu den Guérinis längst Geschichte. Die Firma ist sauber. Die Geschäftstätigkeit ist real, die Schiffe existieren, die Verträge und die Waren ebenso. Und soweit ich weiß, zahlt das Unternehmen seine Steuern. Die zwei Steuerprüfungen in fünf Jahren, die dort stattgefunden haben, hatten keine spektakulären Steuernachzahlungen zur Folge. Nur Lappalien, wie überall.«
Grimbert redet noch über dies und jenes, das Wetter, das Wochenendhaus, das Angeln, um Micchelozzi Zeit zu geben, das Für und Wider abzuwägen. Dann: »Gut, ich geh dann mal. Sonst gibt es nichts, was du mir sagen kannst?«
»Ich habe hier und da was läuten hören, im Flurfunk … du weißt ja, die Leute reden, ohne immer Bescheid zu wissen … Es gab wohl ein paar etwas undurchsichtige Geschichten rund um den Bau des Ölhafens von Fos. Die Grundstückspreise dort sind explodiert, es gab auch eine verworrene Begebenheit mit einer von den großen Ölgesellschaften unabhängigen Raffinerie, es war von versuchter Erpressung die Rede, Pieri soll darin verwickelt gewesen sein, alles ziemlich vage.«
Sobald Grimbert sein Büro verlassen hat, greift Micchelozzi zum Telefon. Die Bullen interessieren sich für die Somar. Diese Information muss man in Umlauf bringen und die entsprechenden Vorkehrungen treffen.
Grimbert hat schnell Bilanz gezogen. Fos, wahrscheinlich eine falsche Fährte, um mich abzuwimmeln. Aber Pieri sagte am Ende des Artikels: »Erdöl, die Zukunft, eine andere Geschichte«. Das verdient jedenfalls eine kurze Untersuchung. Micchelozzi gibt vor, sich für die Somar nicht zu interessieren, aber er ist bestens informiert über die Steuerprüfungen bei der Firma. Das ist eine glaubwürdige Information, denn auf seinem Posten beim Finanzamt ist er ein Knotenpunkt für sämtliche Finanzmauscheleien von Marseille. Vielversprechend.
Dienstagnachmittag, Nizza
Inspecteur Bonino wurde Daquins Kommen angekündigt. Er erwartet ihn im SRPJ im Zentralkommissariat von Nizza. Er empfindet seine Situation als ausgesprochen misslich. Der Direktor der Kriminalpolizei hat ihn beauftragt, an dem beschleunigten Verfahren im Mordfall Pieri mitzuwirken, jedoch unter Leitung und Verantwortung von Daquin und seinem Marseiller Team. Was nicht gerade stimulierend ist. Und unter dem wachsamen Blick von Staatsanwalt Coulon, dem er keineswegs blind vertrauen kann. Kurz, er befindet sich in einer heiklen Lage in einem zum Himmel stinkenden Fall. Er wird seinen Job machen, ohne übertriebenen Eifer. Mit der Priorität, den Schlägen auszuweichen, die es von allen Seiten zu hageln droht.
Die Niçoiser Polizei hat die Somar von Pieris Tod in Kenntnis gesetzt. Offensichtlich gibt es keine Familie zu benachrichtigen. Auf der Suche nach einer großzylindrigen Ducati klappern zwei Polizisten die Kfz-Werkstätten der Region ab, ohne viel Hoffnung. Alle gehen von einer Bande italienischer Killer aus, die längst wieder über die Grenze sind. Bonino hat Erkundigungen über das Ehepaar Frickx eingeholt. Die Frau ist die Enkelin eines südafrikanischen Bergbaumagnaten. Der Mann ist ein wichtiger Trader, Europa-Repräsentant der Firma Co Trade, Weltmarktführerin im Erzhandel. Er weiß nicht genau, was das bedeutet, aber Grund zum Argwohn. Der Ehemann ist derzeit auf Geschäftsreise in Südafrika, wo es Bonino gelungen ist, ihn zu erreichen, um ihn über die Missgeschicke seiner Gattin zu informieren, die immer noch mit schwerem Schock im Krankenhaus liegt. Der Ehemann hat versprochen, morgen Abend vor Ort zu sein. Gute Nachricht, da man ihm durchaus ein paar Fragen stellen muss, denn seine Frau behauptet, dass er mit Pieri geschäftlich zu tun hatte.
Unterdessen haben zwei Inspektoren Emilys Zeugenaussage überprüft. Der Besitzer der Kunstgalerie in Villefranche, der Emily sehr gut kennt – sie besucht regelmäßig seine Galerie –, hat bestätigt, dass sie Pieri am Vorabend in seinem Beisein getroffen hat, und offenkundig rein zufällig. Die Casinomitarbeiter kannten Pieri gut, er war Stammgast. Er hatte in den vergangenen drei Monaten mehrfach dort zu Abend gegessen, er spielte ein bisschen, ohne Leidenschaft, immer allein, außer am Abend seiner Ermordung. Emily Frickx dagegen war vorher noch nie dort gewesen. Bonino schließt daraus, dass Pieris Ermordung im Voraus geplant gewesen sein kann, da er im Casino Stammgast war, und Emilys Zeugenaussage somit bestätigt ist. Eigentlich eine gute Nachricht.
Daquin ist immer noch nicht da. Mehr aus Langeweile denn in der Hoffnung, Informationen zu finden, schaut Bonino in die Polizeiakten. Emily Frickx. Überraschung, im Zentralkommissariat von Nizza existiert tatsächlich eine Akte über sie.
28. Mai 1971. Der Bereitschaftspolizist im Zentralkommissariat von Nizza erhält einen anonymen Anruf, in dem eine Prügelei auf der Promenade des Anglais gemeldet wird, auf Höhe des Palais de la Méditerranée, an der mindestens ein Dutzend Personen beteiligt sind. Das Team von Brigadier Kosciusco fährt zum Ort des Geschehens und stellt die folgende Sachlage fest: »Eine Gruppe von etwa zehn Personen, die Männer in Anzug und Melone, die Frauen in langen Kleidern und mit Blumen im Haar, hat auf der Promenade des Anglais ein Klavier aufgestellt. Wir identifizieren sofort die üblichen jungen ›Künstler‹-Störenfriede, die zum Umfeld des Ladens von Ben Vautier gehören. Unter dem Beifall ihrer Begleiterinnen schlagen die Männer mit Hämmern auf das Klavier ein. Das Klavier gongt, knirscht und geht unter Geschrei und Gesängen zu Bruch. Durch den Lärm aufmerksam gewordene Passanten protestieren empört, wollen das Abschlachten des Klaviers verhindern und geraten mit der Gruppe hysterischer Frauen aneinander, die die Zerstörer mit Fausthieben verteidigen. Hier und da kommt es zu Handgreiflichkeiten. Wir beschließen daher, die Unruhestifter festzunehmen, um die Ruhe wiederherzustellen. Die Trümmer des Klaviers werden an Ort und Stelle zurückgelassen und die Stadtreinigung wird informiert.«
Es folgt die Liste der zur Feststellung der Personalien vorübergehend festgenommenen Personen, auf der tatsächlich der Name Emily Frickx aufgeführt ist.
Bonino blättert sofort weiter zur Aussage der jungen Frau.
Emily Frickx gibt zu Protokoll:
»Wir schlugen auf ein Klavier, wir machten Musik. Das war ein Konzert. Die Frau, mit der ich mich geprügelt habe und die ich ansonsten nicht kenne, wollte von meinem Standpunkt, den ich ihr darzulegen versuchte, nichts hören und ging brutal auf einen meiner Freunde los, sie versuchte ihn zu beißen. Ich wollte sie daran hindern und wir sind in eine Schlägerei geraten.«
Nach stundenlanger Kakophonie im Kommissariat hatten die entnervten Polizisten schließlich alle auf freien Fuß gesetzt.
Bonino ist überrascht, er hätte nicht gedacht, dass Emily, die ohnmächtige junge Frau von vergangener Nacht, Ehefrau eines bedeutenden Geschäftsmanns, mit diesen übergeschnappten Niçoiser Künstlern verkehrt. Aber deshalb ist sie noch lange nicht die Komplizin eines Mörders. Man muss Vernunft walten lassen. Diese Akte belegt ihre schon länger gehegte und erwiesene Vorliebe für das, was man gemeinhin zeitgenössische Kunst nennt, und kann insofern die Glaubwürdigkeit ihrer Zeugenaussage untermauern.
Daquin trifft just in diesem Moment ein. Eher kühle Kontaktaufnahme. Bonino ist älter als Daquin und hat kaum Hoffnung, eines Tages Commissaire zu sein. Er ist klein, rundlich, beginnende Glatze, einfallslos in Anzug und Krawatte, und er mag keine großen robusten, eher gutaussehenden Kerle, die ihm seine Ermittlungen wegschnappen, aber Daquin gibt sich geradezu ehrerbietig, er kommt ihm Bericht erstatten. Die Marseiller wollen ihre Nachforschungen auf Pieris Firma lenken. Was hält er davon?
»Was sagt Staatsanwalt Coulon?«
»Keine Ahnung. Ich wollte erst mit Ihnen sprechen. Ich werde ihn aufsuchen, wenn ich hier raus bin.«
»Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
»Selbstverständlich.«
Bonino übergibt Daquin Notizen, die alle ihm verfügbaren Informationen enthalten. Frickx wird morgen Abend da sein, perfekt, es wird vereinbart, dass Daquin übermorgen erneut nach Nizza kommt und sie Frickx gemeinsam treffen. Dann schiebt Bonino Daquin die Polizeiakte über Emily zu. Der liest sie sehr aufmerksam, erbittet eine Kopie, die er in seine Mappe legt. Er schätzt die Arbeit von Boninos Team und sagt es ihm.
Die beiden Männer verabschieden sich ohne Feindseligkeit. Daquin begibt sich zu Staatsanwalt Coulon im Gericht von Nizza. Die erste Begegnung ist wesentlich, er muss konzentriert bleiben. Diese Ermittlung ist eine Aufwärmrunde, hat der Direktor vom SRPJ Marseille gesagt. Eine Aufwärmrunde, die eine Möglichkeit bedeuten kann, die Verantwortung auf den jüngsten Neuzugang abzuwälzen, den Pariser. Oder schlimmer, einen Fallstrick. Ich kann mich leicht darin verfangen.
Der Staatsanwalt hat ihn erwartet. Er empfängt ihn unverzüglich und wirkt überrascht: ein so junger Commissaire!
Nach ein paar einleitenden Sätzen erwähnt Daquin die Möglichkeit einer Hausdurchsuchung in Pieris Firma. Der Staatsanwalt hebt die Brauen, Daquin argumentiert. »Klassisches Vorgehen. Mit Nachforschungen über das Opfer beginnen, um das Tatmotiv zu erhellen.«
»So jung und schon klassisch? Gehen wir es sachte an, Commissaire. Monsieur Pieri ist das Opfer, nicht der Täter, und wir müssen jeden Schritt unterlassen, der das Bild seiner Firma befleckt. Die Somar ist allseits geachtet und dynamisch, was im Kontext der Krise der Marseiller Wirtschaft außergewöhnlich ist. Haben Sie Ihre hiesigen Kollegen schon kennengelernt?«
»Da komme ich gerade her, Herr Staatsanwalt.«
»Man hat dort eine Hypothese, glaube ich.«
»Welche, Herr Staatsanwalt? Es wurde nichts dergleichen erwähnt.«
»Für sie ist Pieris Ermordung im Zusammenhang mit all den Abrechnungen zu betrachten, die die Côte seit Monaten mit Blut tränken, eine Episode im Machtkampf zwischen Zampa und Francis Le Belge um das Erbe der Guérini-Brüder. Es ist möglich, dass Pieri mit Verspätung für seine anrüchige Vergangenheit an der Seite von Antoine Guérini bezahlt hat. Wenn das zutrifft, liegt der Schlüssel für diese Abrechnung nicht bei der Somar, die, wie Ihnen jeder sagen wird, ein respektables Unternehmen ist, und das soll sie auch bleiben. Wir wollen nicht alles durcheinanderwerfen. Trotz seiner Vergangenheit war aus Pieri seit etwa zehn Jahren eine angesehene Persönlichkeit der Marseiller Wirtschaft geworden.«
»Wann werden wir eine Rekonstruktion des Verbrechenshergangs durchführen können?«
»Das wäre möglicherweise eine schlechte Reklame für unsere Casinos zu Beginn der Tourismussaison. Und teuer ist es auch. Wir wollen keine unvernünftigen Ausgaben verursachen. Wie Pieri erschossen wurde, scheint sehr klar. Ihre Niçoiser Kollegen haben mir einen Bericht dazu übergeben.« Der Staatsanwalt steht auf, drückt Daquin herzlich die Hand. »Halten Sie mich in kurzen Abständen auf dem Laufenden. Wir zählen darauf, dass Sie umsichtig vorgehen. Angesichts der Person des Opfers ist dies ein extrem heikler Fall.«
Rückfahrt nach Marseille, über zwei Stunden Fahrt, sehr lästig, Daquin hat weder eine Vorliebe für Autos noch fürs Fahren, auch nicht als Sport. Als er Nizza über die Promenade des Anglais verlässt, fährt er im Schritttempo am Palais de la Méditerranée vorüber. Eine hohe Fassade in aggressivem Weiß vom Typ mehrstöckige Sahnetorte. Ein Durcheinander von Stilen, pseudo-römische Arkaden, gerahmt von pseudogriechischen Pilastern, gekrönt von Basreliefs und Statuen, die sehr nach 19. Jahrhundert aussehen. Ein Tempel des schlechten Niçoiser Geschmacks der Dreißigerjahre. Dieser Tatort ist eine Theaterkulisse, perfekt für ein inszeniertes Verbrechen. Solange man mir keine Rekonstruktion genehmigt, bleibt das Ganze für mich ein Schattenspiel. Ich muss mit eigenen Augen sehen, was passiert ist. Wir werden unsere eigene Rekonstruktion durchführen.
Während der Fahrt schweifen seine Gedanken umher. Gemischte Tagesbilanz. Positiv die Reaktionen von Grimbert und Delmas. Das Team ist im Begriff, sich zu bilden, ich kann es regelrecht spüren. Passabel das Treffen mit Bonino. Verheerend die Unterredung mit Staatsanwalt Coulon. Er liefert die »offizielle« Version, will sagen, seine eigene, nicht die von Bonino: Exekution durch das Milieu. Wie sagte Grimbert? »Ich stelle gewaltige Ungereimtheiten fest.« Und schloss die Möglichkeit einer Inszenierung nicht aus. Der ist der geborene Bulle. Und aus mir unbekannten Gründen zählt Staatsanwalt Coulon auf mich, den Jungspund, um die These einer Abrechnung im Milieu zügig zu bestätigen und den Fall zu begraben. Deutlicher konnte er es nicht sagen. Und wenn ich nicht die offizielle Linie verfolge, werde ich aufs Abstellgleis geschoben und habe nichts zu erwarten, weder vom Direktor noch vom Staatsanwalt, niemand wird mich unterstützen. Gut. Ich werde mich nicht abschieben lassen. Einzige Möglichkeit, dem zu entgehen: die Mörder finden, oder zumindest Fährten auftun, Fakten, Beweise. Coulons Blockadehaltung ist zu verbohrt, um haltbar zu sein, wenn ich vorankomme, und sei es nur wenige Schritte. Ohne ein bisschen Glück, viel Glück, werde ich es nicht schaffen. Nach draußen gehen, Witterung aufnehmen, herumlaufen, viele Gelegenheiten schaffen, um meinem Glück zu begegnen, und wenn ich ihm begegne, werde ich es zu ergreifen wissen. Bis dahin lege ich mich auf die Lauer, Geduld ist eine Tugend. Schon möglich, aber wir haben nur fünfzehn Tage. Keine ausgemachte Sache. Aufregend.
Marseille, Vorfreude auf die Wohnung hoch über dem Getriebe, dem Lärm und den Gerüchen des Vieux-Port. Der Plan für heute Abend: Cognac auf der Loggia. Allein. Das Vergnügen, allein zu sein. Das ganze Jahr in Beirut ist er das nie gewesen, allein. Und das hat ihm am Ende zu schaffen gemacht. Beirut, eine Idee von Lenglet. Als Daquin Lenglet begegnet ist, war er sechzehn Jahre alt. Seine selbstmordgefährdete Mutter hatte sich schließlich mit Alkohol und Medikamenten umgebracht und war seit drei Jahren tot. Er hegte eine Vorliebe für Jungs, von der er nicht recht wusste, wie er sie leben sollte, und befand sich im offenen Krieg gegen seinen Vater. Lenglet brachte ihm bei, ohne Komplexe zu vögeln. Eine weder zur Schau gestellte noch versteckte Sexualität, ganz normal. Dabei haben sie nie eine sexuelle Beziehung gehabt oder in Liebesdingen konkurriert, was ihnen eine stabile und dauerhafte Freundschaft ermöglicht. Sie haben zusammen Politologie studiert, beide mit glänzendem Abschluss, und derselben Neigung zu geistigen und körperlichen Abenteuern folgend hat Lenglet sich dem diplomatischen Dienst in seiner geheimdienstnahen Variante zugewandt und Daquin der Polizei, eine Revolte gegen seinen Vater, für den der diplomatische Dienst denkbar war, die Polizei – ein Bettlerberuf – dagegen nicht, er hat einen Juraabschluss gemacht und ist dann in die Kommissarsschule eingetreten. Danach Beirut, Sicherheitsdienst der französischen Botschaft, wo Lenglet seit zwei Jahren arbeitete, die Begegnung mit Paul Sawiri, einem fünfundvierzigjährigen Libanesen, Mitarbeiter von Lenglet, intelligent, kultiviert. Seine erste dauerhafte Beziehung, ein Jahr, eine Ewigkeit. Erdrückend mit der Zeit, wie übrigens auch die ständige Gegenwart Lenglets. Eine noch nicht abgeschlossene Trennung. Und jetzt Marseille, Cognac, Vieux-Port und Alleinsein.