Kitabı oku: «Borgo Sud», sayfa 3
Adriana war zu weit vom Tod entfernt, um ihn vorauszuahnen, und wie alle jungen Menschen vertraute sie auf die Unsterblichkeit der Eltern.
6
Am nächsten Tag musste ich sie im Auto »wohin« bringen. Wir fuhren am rechten Flussufer entlang, als sie sagte, ich solle anhalten. Wir gingen zu Fuß weiter, Adriana immer etwas vorneweg, kerzengerade und auf den Weg konzentriert. Kleine salzige Wellen schwappten von der Mündung stromaufwärts, irritierten meine Augen.
»Hätten wir nicht später kommen können, wenn es kühler ist?«, fragte ich.
»Manche Sachen muss man in der Mittagshitze machen«, erwiderte meine Schwester und wandte sich Richtung Borgo Sud.
Gewiss litt auch sie unter ihrem Strohhut und der Sonnenbrille, die sie sich ohne zu fragen bei mir geborgt hatte. Wir wagten uns zwischen die Sozialwohnungsblocks und die ein- bis zweistöckigen Häuser. Ich war noch nie in diesem Viertel gewesen, wusste aber, dass Adriana seit Jahren hier verkehrte.
Die Stadt erstaunte mich, sie entpuppte sich als größer und verschieden von dem Plan in meinem Kopf, der sich aufs Zentrum und wenige Vororte beschränkte. Einige Hauswände waren mit naiven Motiven bemalt, ich blieb einen Moment stehen, um das Bild eines muskulösen Seemanns zu betrachten, der sein Boot aufs Trockene zog, im Hintergrund Segel im Wind.
Auf der Straße war niemand unterwegs, weder zu Fuß noch im Auto, die Fensterläden waren geschlossen, die Lieferwagen der Fischhändler parkten am Gehsteigrand. Das Viertel wirkte wie ein geschlossener Raum, in dem die Zeit langsamer verging und andere Regeln herrschten. Eine unsichtbare Grenze schottete ihn von Pescara rundherum ab. Aber es war sauber, nicht ein weggeworfenes Stück Papier auf dem Boden.
Adriana bemerkte, dass ich zurückgeblieben war, trat zu mir und zog mich am Arm.
»Das ist kein Ausflug, beeil dich«, knurrte sie zwischen den Zähnen. »Die, die nicht draußen auf dem Meer sind, schlafen nach dem Mittagessen«, fügte sie leise hinzu, als könnten wir jemanden wecken.
Aber auf einem schattigen Balkon im ersten Stock saß doch jemand und aß mit nacktem Oberkörper eine Wassermelone. Als er uns sah, hielt er mit dem Stück in der Luft inne. Er spuckte Kerne aus. Unter seinem Blick bewegte Adriana sich ruckartig, ein Zeichen dafür, dass sie Angst hatte. Irgendwann machte sie plötzlich kehrt, ich folgte ihr in den Schutz eines Wohnblocks. Hinter uns hörte man Geschrei, es konnte von dem Mann stammen.
Eine Weile liefen wir mit schnellen Schritten herum, aber irgendwie ziellos. Schließlich, nachdem sie sich mehrmals umgeblickt hatte, führte sie mich zur Rückseite eines grünen Hauses. Zuerst lauschten wir all dem Schweigen, dann schob sie ihren Arm durch die Stäbe eines Gittertors und fand tastend den Schlüssel, um es zu öffnen, so als sei sie diese Geste gewohnt.
»Was machst du da, wohin gehen wir?«, protestierte ich halblaut.
»Ich hab dir ja gesagt, dass ich mir ein paar Sachen holen muss, es dauert nicht lang.«
Sie zog mich hinein in etwas, das kein Hof, keine Veranda und auch kein Garten war, aber noch sichtbare Spuren eines Familienlebens aufwies. Auf einer Seite kümmerten neben einem Liegestuhl und einem geschlossenen Sonnenschirm ein paar Pflanzen in der ausgetrockneten Erde vor sich hin. Der übrige Platz war mit einem gewellten Vordach geschützt: darunter eine Arbeitsplatte mit Gaskocher und Spülbecken, ein Tisch mit Plastikdecke und lauter verschiedenen Stühlen. In einer Ecke gelbe Fischerstiefel und zusammengeknüllte Netze, die vielleicht geflickt werden sollten. Der Schirokko der letzten Tage hatte alles mit einem Sandschleier bedeckt. Die Fenstertür stand offen und die Scheibe war zerbrochen, die Splitter knirschten unter Adrianas Schritten.
»Warte hier auf mich, und falls du was Verdächtiges hörst, pfeif«, sagte sie auf der Schwelle.
Sie ließ mir keine Zeit, sie daran zu erinnern, dass ich nicht pfeifen konnte. Sie durchquerte ein Zimmer und noch eins, dann hörte ich sie die Treppe hinaufsteigen. Vorsichtig, die Ohren gespitzt beim geringsten Geräusch, aber auch mit der Selbstverständlichkeit von jemandem, der in diesem Haus gewohnt hat. Ich wollte nicht ohne sie draußen herumstehen und trat ins Halbdunkel einer Küche, nur dass auf einer Seite ein schmales Bett stand und am Fußende die Wiege, in der Vincenzo geschlafen hatte. An den zerwühlten Laken erkannte ich meine Schwester, die plötzlich aufgewacht war und sie weggeschleudert hatte.
Die Einrichtung war schlicht, aber gepflegt in allen Einzelheiten. Auf einem Wandbord lag eine Sammlung Muscheln, nach Größen geordnet, die goldenen Spiralen ins Licht gerückt. Auf dem Fernseher einige Bücher: Hundert Fischrezepte stand auf den Buchrücken, Das Meer auf dem Tisch.
Überall erkannte ich Adrianas Hand, aber meine Fremdheit dem gegenüber, was sie hier geschaffen hatte, erschütterte mich.
An einem Haken neben der Tür, durch die wir hereingekommen waren, hing eine wetterfeste Seemannsjacke. Ein starker Geruch nach Verwesung verpestete den Raum, ich blickte mich um: Im Spülbecken deckte ein umgedrehter Teller einen anderen zu. Ich hob ihn hoch, befreite eine Fliege, die davonflog. Die rohen Fleischscheiben wimmelten von weißen Larven, kleinen, trägen Würmern, die in den zum Auftauen dort liegen gebliebenen Lebensmitteln schwelgten. Ich sah das Datum auf dem Abreißkalender an der Wand: Seit Adrianas Flucht waren mehr als zehn Tage vergangen.
Am Boden trat ich auf etwas Weiches: die Haarsträhne, die Adriana fehlte, als sie bei mir ankam. Auf dem Tisch lag, beschwert mit einem Glas, ein Zettel, auf dem mit mühsamer, ungeübter Schrift stand: Wenn du wiederkommst, klingel bei mir, ich helf dir.
Die Unterschrift darunter: Isolina.
Adriana stürmte die Treppe herunter.
»Gehen wir«, sagte sie.
Sie drückte mir einige vollgestopfte Tüten in die Hand, solche aus dem Supermarkt, sie selbst trug eine pralle Reisetasche. Die zwei Teller samt Inhalt hatte ich zum Wegwerfen schon in eine andere Tüte gesteckt. Sie legte den Torschlüssel an seinen Platz zurück und wir gingen hinaus. Nun mussten wir erneut das Viertel durchqueren. Wir gingen rasch, aber ohne zu laufen, und drehten uns immer wieder um. Böse Augen starrten uns aus den höheren Stockwerken nach, oder vielleicht bildete ich es mir nur ein. Ich teilte Adrianas Angst, ohne zu wissen, welche Gefahr ich mit ihr teilte. In den vorangegangenen Tagen hatte ich ihr nicht ein Wort darüber entlocken können, was ihr zugestoßen war. Manchmal lassen ihre Geständnisse lange auf sich warten, so wie jetzt.
Keuchend erzählte ich ihr von der Botschaft auf dem Tisch.
»Ach, die liebe Isolina«, sagte sie obenhin. »Sie wohnt da nebenan.«
Plötzlich öffnete sich ein Brachfeld zwischen den Wohnblocks. Kinder und Jugendliche spielten in kurzen Hosen, ihre T-Shirts waren Farbtupfer auf dem von der Sonne verbrannten Gras. Einige lungerten hinter einer Reihe Wellblechhütten um etwas oder jemanden herum.
»Lelé, wer weiß, was sie ihm wieder antun«, murmelte Adriana zwischen den Zähnen und verlangsamte den Schritt.
Einen Moment lang zögerte sie, dann ging sie stur weiter. Wir atmeten schon die feuchtschwüle Luft am Fluss, als sie schlagartig stehen blieb, von einem Gedanken erfasst.
»Ich hab was Wichtiges vergessen, das muss ich noch holen. Du bring jetzt das Zeug zum Auto und fahr es dann runter zum Strand, ich komm in einer Viertelstunde« – damit machte sie auf dem Absatz kehrt. Sie drehte sich kurz um und rief: »Wenn du mich nicht kommen siehst, fahr heim, und passt auf das Kind auf.« Ein Schrei in der Luft.
Ich zählte die Minuten, während ich an der Stelle auf sie wartete, die sie mir genannt hatte. Ich stieg aus dem Auto, drinnen war es nicht zum Aushalten. Draußen regte sich kein Hauch, es gab nirgends Schatten. Die Luft war salzig und roch stark nach Meer, trocknete den Mund aus. Eine Frau überquerte die Straße, in der Hand eine Strohtasche, aus der die zusammengerollte Badematte hervorlugte. Sie musterte mich, als sei ihr meine Anwesenheit zwischen den Hitzewellen, die auf dem Asphalt flimmerten, völlig unerklärlich.
Adrianas Viertelstunde zog sich hin, wollte nicht enden. Dann war sie plötzlich um, und die Zeit begann zu rasen. Ich sah Adriana tot, mit einem Messer in der Brust, erwürgt oder einfach zufällig von jemandem überfahren, da sie das Laster hatte, auf die Straße zu laufen, ohne sich umzusehen. Schon immer hatte ich Angst um sie gehabt, so leichtsinnig und fahrig, wie sie war. Als junge Mädchen hatten wir ein paar Jahre zusammengewohnt. Ich stand damals kurz vor dem Examen, saß abends am Küchentisch und lernte unter der runden Neonlampe. Adriana kam und kam nicht heim. Gegen zwei, drei Uhr morgens sank mein Kopf auf die Bücher, erschöpft vom Warten auf ein winziges Geräusch: das Drehen ihres Schlüssels im Schloss, den Beweis, dass sie wieder eine Nacht voller Abenteuer in der Stadt überlebt hatte.
Wie lange sollte ich auf sie warten? In dem gnadenlosen Licht schien sich die Vorahnung ihrer letzten Worte schon bewahrheitet zu haben: Zu Hause passte Piero auf das Kind auf, das unterdessen bestimmt aufgewacht war.
Als sie unvermutet an der Autotür stand, wusste ich nicht einmal, woher sie gekommen war. Unterm Arm trug sie einen in Zeitungspapier gewickelten Gegenstand.
»He, willst du noch länger hier rumstehen?«, herrschte sie mich sofort an.
Sie nahm den Hut ab und legte ihn vorsichtig hinten auf den Gegenstand, den sie noch geholt hatte. Zwischen den wenigen Millimetern Haar, die auf ihrem Kopf nachgewachsen waren, funkelten lauter Schweißtropfen wie winzige Brillanten.
Bis zur Brücke über den Fluss schwiegen wir, im wütenden Verkehr des Sommernachmittags. Adriana hatte meine Sandalen ausgezogen und die Füße auf die Lüftungsklappe gestützt.
»Wer weiß, ob Vincenzo bei Piero geweint hat«, sagte ich leise.
»Dein Mann kann gut mit Kindern umgehen«, erwiderte sie nachdenklich.
»Und Rafael? Ist er der Vater?«
»Als er noch da war, hat er immer mit Vincenzo rumgetollt.« Bei der Erinnerung zitterte ihre Stimme.
»Und wo ist er jetzt?«, fragte ich.
Zum Kaufhaus Upim hingewandt, um ihre Tränen zu verbergen, bedeutete sie mir mit der linken Hand, sie nicht weiter zu bedrängen.
»Was war denn noch so Wichtiges im Haus?«, fragte ich nach ein paar Minuten, als wir an der Ampel standen.
»Das wirst du gleich sehen.« Adriana streckte sich zum Rücksitz hin.
Sie riss das Papier ab, es schien sich um ein Bild zu handeln, so von der Seite betrachtet. Der große Vincenzo, wie sie ihn nun nannte, lehnte neben seinem Freund, dem Zigeuner: sie lächelten in Schwarz-Weiß, beide mit einer Zigarette zwischen den Fingern. Im Hintergrund unscharf das sich drehende Karussell, und dann eine Wiese unter dem heiteren Himmel. Ein paar Monate nach der Beerdigung hatte ein anderer Zigeuner dieses Foto gebracht, und Adriana hatte es für sich beansprucht. Im Dorf hing es an der Wand gegenüber von unserem Bett, wir sahen es jeden Morgen beim Aufwachen.
Aus dieser Wohnung, die ganz ihr selbst gehörte, hatte sie sich ein Stück unserer Erinnerungen zurückgeholt.
7
Rafael war der Junge, der meine Schwester aufs Boot mitnahm, wenn sie mit fünfzehn die Schule schwänzte. An den Tagen, an denen die Invincibile am Steg vertäut blieb, gingen sie an Bord, um im Wasser der Mündung zu schaukeln. Das erste Mal haben sie zwischen den gestapelten Styroporkassetten und dem Fischgeruch miteinander geschlafen, auf einer alten Matratze. In den eiskalten Nächten auf offenem Meer warf Rafael sich zum Schlafen darauf, wenn er die Netze hinuntergelassen hatte oder die Reusen, die mit Lorbeersträußchen bestückt waren, um die Tintenfische anzulocken. Er hat das rote Rinnsal gesehen, es mit dem Finger aufgefangen und neugierig daran geleckt. Vielleicht war es Adrianas Blut, das sie fürs Leben verbunden hat, »wie ein Liebeszauber«, sagte sie zu mir in einem Augenblick der Vertraulichkeit zwischen Erwachsenen.
Anfangs passte Rafael auf, um ihr nicht wehzutun, aber »später war er ein Stier«, betonte sie mit einem Glitzern in den Augen. »Wenn er an Land geht, denkt er nur an das eine«, fügte sie hinzu, und es missfiel ihr keineswegs.
Ich hörte, wie sie auch vor Leuten, die sie kaum kannte, mit Rafaels Begierde prahlte. Ich schwieg dazu, es war mir peinlich, mit einer Schwester, die keine Scham kannte, über meine und Pieros Intimität zu sprechen. Manchmal fragte sie mich halb besorgt, halb mitleidig: »Aber genießt ihr denn euer Leben, du und Piero?«
Rafael stellte sie seinen Freunden sofort als sein Mädchen vor: la guagliona mi’. Er war neunzehn, als er sie kennenlernte. Er war Halbwaise – sein Vater war gestorben, als er noch klein war – und arbeitete auf der Invincibile seines Onkels, mit dem ständigen Traum, sich ein eigenes Boot zu kaufen. Wenn sie spätnachts zurückkehrten, um den Fisch auszuladen, und vor Eile, wieder loszufahren, nicht einmal die Motoren abschalteten, brachte seine Mutter ihm eine Thermosflasche mit Kaffee und einen ofenfrischen Kranzkuchen. Im Mondschein ging sie die Mole entlang, eine Gestalt in Pantoffeln, die die Matrosen von Weitem erkannten, im vorn zugeknöpften, geblümten Morgenrock und im Winter mit einem unförmigen Mantel über den Schultern. Diese Mutter war Isolina.
Rafael und Adriana verloren sich nicht aus den Augen, als mein Vater sie aus der Schule nahm und wieder ins Dorf holte. Sobald sie konnte, sprang sie in den Bus und fuhr zu ihm, an den Tagen, an denen nicht gefischt wurde. Es reichte ihr, das Kleingeld für die Hinfahrt zusammenzukratzen, ihre einzige Sorge war, ihn so schnell wie möglich wiederzusehen. Bei der Rückkehr erwarteten sie Geschrei und Schläge, aber in ihrer Erschöpfung nach der Liebe spürte sie sie kaum. Zum ersten Mal gab sie sich jemandem hin.
Ich zählte nicht mehr für sie. Wenn sie nach Pescara kam, verheimlichte sie es mir, vielleicht erinnerte sie sich auch gar nicht mehr daran, dass es mich noch gab.
»Deine Schwester hat sich in irgendeinen Kerl verknallt, bestimmt ein Zigeuner. Hast du sie zusammen gesehen?«, fragte mich unsere Mutter, wenn ich samstags heimkam. Wie unwahrscheinlich es war, dass sie mir in einer Stadt mit hunderttausend Einwohnern über den Weg liefen, war ihr nicht klar.
Im Herbst pflückte Adriana Trauben und Oliven auf dem Land rundherum oder in der Gegend von Ortona. Im Frühjahr Erdbeeren. Manchmal verließ sie wie gewöhnlich früh um sechs Uhr das Haus, erschien aber nicht auf der Piazza, um in den Kleinbus zu steigen, der die schlaftrunkenen Frauen zur Arbeit brachte.
Auf dem Fest des heiligen Andreas traf ich sie dann tatsächlich. Giuditta beherbergte mich an diesen glühend heißen Abenden Ende Juli. Wir hatten gerade die Abiturprüfung hinter uns gebracht und wollten die Nächte wettmachen, die wir mit dem Übersetzen von Plutarch und Xenophon verbracht hatten.
Sie gingen wie wir in der Menschenmenge, die nach dem Feuerwerk auf dem Wasser vom Strand zurückströmte. In den Ohren hallten die Kanonenschläge nach, der stechende Geruch nach Schwarzpulver lag noch in der Luft. Er hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt, die Hand mit dem gut sichtbaren, schmalen Silberreif am Ringfinger lag locker auf ihrem Busen. Auch sie trug einen solchen Ring, den sie bei jedem Streit abnehmen und weglegen würde, ohne ihn zu verlieren.
Auf ihre leidenschaftliche und unstete Weise haben sich die beiden immer geliebt. Sie entzweiten sich nur, um sich wiederzufinden. Später trennte sie etwas anderes, etwas, das Adriana Pech, Neid oder die Gemeinheit gewisser Leute nannte.
Auf dem Fest hörte sie ihren Namen rufen und drehte sich um, ihr orangefarbenes Stufenkleid bildete ein flammendes Rad. Nie war sie so schön gewesen, auch später nicht, nie mehr.
Als sie mich sah, erlosch ihr Gesicht für einen Augenblick.
»Das ist meine Schwester, die studiert«, sagte sie zu Rafael, und er quetschte meine Hand in seiner rissigen Pranke. Seine schwarzen Locken vibrierten einzeln bei der Kraft des Händedrucks.
Er bestand darauf, auch mir und Giuditta ein Eis zu spendieren, und wir gingen Richtung Corso. Die Leute trödelten noch am Meer, nahmen ihre Gläser aus den Badeanstalten mit hinaus, die alle noch geöffnet und hell erleuchtet waren. Istria, Calypso, La Capponcina, an allen kamen wir vorbei, während wir mit viel Abstand zwischen uns über die Strandpromenade bummelten
Giuditta verrenkte sich den Hals, um Rafaels Muskeln zu studieren, als er zufällig neben ihr ging. Abgesehen vom Unterhemd und den Bermudashorts glich er dem David Michelangelos, von dem wir sogar die erhabenen Adern auf den Armen und Händen kannten. Adriana bemerkte den allzu klebrigen Blick, mit einem Hüpfer schob sie sich zwischen ihn und Giuditta und versperrte ihr die Sicht.
Auch wir waren perfekt geteilter Meinung bei dem üblichen Dilemma der Pescareser: Eis von Berardo oder von Camplone? Schließlich gewann die unnachahmliche Schlagsahne, die einer von beiden obendrauf gab.
Als die Stimme sie direkt im Nacken traf, wählte Adriana gerade mit genäschig ausgestrecktem Zeigefinger an der Scheibe der Kühltheke die Sorten aus.
»Dieses Eis spendiere ich dir«, sagte Vittorio.
Auch er war zum Sankt-Andreas-Feuerwerk in die Stadt gekommen und trat aus seiner Gruppe heraus, sobald er die vertraute und begehrte Gestalt sah. Was für ein Glück, muss er gedacht haben, sie zufällig hier zu treffen. Sie waren zusammen aufgewachsen, Klassenkameraden und an sorglosen Nachmittagen Spielgefährten auf dem Platz zwischen den Wohnblocks am Dorfrand gewesen. Morgens in der ersten Unterrichtsstunde hatten sie Klau die Fahne und Völkerball gespielt. Adriana schrieb aus seinen ordentlichen Heften eines fleißigen Schülers die Hausaufgaben ab. Dann hatte sie sich verändert, die Linien ihres Körpers hatten sich gerundet, sie wusch sich öfter die Haare, und im Licht schimmerten in ihrem dunklen Kastanienbraun kupferrote Reflexe. Auch Vittorios Absichten hatten sich verändert, das geheime Einverständnis, das er suchte, war anders, erwachsener das Spiel, das er nur mit Blicken verlangte, die Nasenflügel über dem neuen Lippenbärtchen gebläht. Wer weiß, wie das Leben meiner Schwester verlaufen wäre, wenn sie seine Gefühle erwidert hätte. Vielleicht hätte Vittorio sie an die fernen Orte mitgenommen, wo er Sonnenenergie und Windkraft einfing. Wenigstens einer aus Adrianas Klasse hatte es geschafft zu studieren.
»Gefällt er dir denn gar nicht?«, fragte ich sie eines Tages.
»Er ist wie ein Bruder für mich«, antwortete sie damals.
In jener Nacht in der Eisdiele wandte Adriana sich um, und er sah sonst niemanden mehr. Er bemerkte aber die winzige Schnake, die sich auf ihre Schulter setzte, und verjagte sie mit einer sachten Bewegung, beinahe ein Streicheln.
»Hey, was iss’n das für ’ne Vertraulichkeit?« Rafael stürzte sich sofort auf ihn. Er packte seinen Rivalen vorn am T-Shirt.
»Lass ihn los, er ist mein Cousin«, sagte Adriana und trat zwischen die beiden, das Gesicht zu Rafael gewandt, um die Schlägerei abzuwenden, doch im Grunde auch stolz darauf, dass sie der Anlass war. Alle sahen uns an, und ich verstummte vor Staunen, vor grundloser Verlegenheit.
»Komm, wir gehen«, sagte ich dann zu Vittorio und tippte ihm auf die Schulter.
Das Eis, an dem er nicht geleckt hatte, tropfte an der Waffel hinunter bis auf sein Handgelenk. Draußen fand er seine Freunde wieder und ging mit ihnen weiter.
Auch Adriana und Rafael kamen heraus, eng umschlungen, als sei nichts gewesen, und Giuditta, noch ganz aufgeregt über die Szene.
Plötzlich wurde mir klar, dass es zwei Uhr morgens war; mit sechzehn Jahren war meine Schwester fünfzig Kilometer von daheim mit so einem eifersüchtigen Kerl unterwegs.
»Wie kommst du jetzt nach Hause?«, fragte ich sie halblaut.
»Rafael fährt mich«, sagte sie wenig überzeugt.
Giuditta bot ihr an, mit bei ihr zu übernachten, wir würden uns in ihrem Zimmer arrangieren, aber das wollte sie nicht.
»Mit dem Freund deiner Schwester würde ich echt gern mal ’ne Runde drehen«, sagte meine Freundin, bevor ihr die Augen zufielen.
Ich blieb voller Sorge wach.
Das könnte Adrianas erste Nacht im Borgo Sud gewesen sein. Ich weiß, dass sie ab und zu tagsüber zu Rafael nach Hause ging, wo Isolina sie hereinließ, ein wenig hin- und hergerissen zwischen Gastfreundschaft und Misstrauen. Auf ihre kurz angebundene, wahrhaftige Art war sie freundlich zu der guagliona des Sohnes, fürchtete aber auch, Adriana könnte ihn ihr wegnehmen. Er war alles, was sie auf der Welt besaß, abgesehen von der großen Fischerfamilie, die in den Sommermonaten bei offenen Türen schlief. Im Hinterhof des grünen Hauses kamen am Samstagabend die Nachbarn zusammen, um Rafael zu hören, der zur Gitarre sang. Das waren Glücksmomente für Isolina: ihr Sohn, an Land, in Sicherheit, stimmte L’immensità von Don Backy oder unser unvermeidliches Vola vola vola an, und beim Refrain fielen die Leute vom Borgo im Chor mit ein. Jemand briet Spießchen am Rost, ein anderer verteilte sie in der Runde, zusammen mit dem Wein. Am Ende der Woche waren die Männer hungrig auf Fleisch, sie wollten nichts mehr wissen vom Fisch, den sie auf den Booten tagelang hastig hinuntergeschlungen hatten.
Isolina muss bald begriffen haben, dass dieses Mädchen ihr Rafael nicht wegnehmen würde, eher im Gegenteil, es war Adriana, die einen Unterschlupf suchte, ein wenig Zuwendung, Schutz. Sie schmuggelte sich zwischen ihre Herdgerüche, die in der salzigen Luft getrocknete Wäsche, das Warten auf die Fischerboote, die vom Meer zurückkehrten. Mit der Ausrede, auf ihn zu warten, besuchte sie Isolina auch, wenn Rafael nicht da war.
»Jetzt geh mal wieder ins Dorf zu deiner Mama«, sagte die Frau manchmal.
Denn es konnte sein, dass sie alle drei zusammen gegessen hatten und sie anschließend ein paar Stunden zu den Nachbarinnen gegangen war, um die beiden allein zu lassen, doch wenn sie zurückkam, war Adriana immer noch da und fragte sich gar nicht, ob es vielleicht angebracht wäre, heimzugehen. Sie glich einem Waisenkind.
Ich war noch mehr verwaist als sie, konnte aber besser verbergen, was mir gefehlt hatte. Ich schützte eine falsche Normalität vor. Mit fünfundzwanzig ließ ich mich mit Piero ein, ich war nicht zu jung, aber ich kannte mich so wenig. An manchen Wintersonntagen hatten ich und er nicht einmal Lust, uns vom Sofa aufzuraffen und in den Straßen der Stadt spazieren zu gehen. Seite an Seite wärmte uns unsere jeweilige Einsamkeit bis in die Knochen.
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