Kitabı oku: «Liebe auf den zweiten Blick»
Doris Lott
Liebe auf den
zweiten Blick
Wie mir Karlsruhe zur Heimat wurde
Für Reni
Doris Lott Die Autorin wurde im Jahr 1940 in Karlsruhe geboren. Sie liebt ihre Heimatstadt und lebte zwei Jahre in Chartres und Nancy, wo sie als erste Deutsche für ihre Verdienste um die deutsch-französische Freundschaft mit der Goldmedaille der Stadt ausgezeichnet wurde. Die Schriftstellerin, die mit der „Liebe auf den zweiten Blick“ ihr zehntes Buch vorlegt, studierte Deutsch und Französisch und unterrichtete an der Realschule. Die Stadt Karlsruhe zeichnete sie für ihre Verdienste um die Partnerschaft Nancy–Karlsruhe aus. Doris Lott war Mitarbeiterin des Rundfunks, für den sie viele literarische Funkfeuilletons schrieb, und arbeitete viele Jahre als freie Mitarbeiterin der Badischen Neuesten Nachrichten, dpa und anderer Zeitungen. Zwei Kinder und vier Enkel binden sie zusätzlich an Karlsruhe.
„Ich lasse mir mein Karlsruhe
nicht mehr abkaufen.“
Johann Peter Hebel
Vorwort
„Ich lasse mir Karlsruhe
nicht mehr abkaufen“
„Ich lasse mir Karlsruhe nicht mehr abkaufen.“ Das ist lange her, dass der berühmte Johann Peter Hebel, der mit seinen Kalendergeschichten und alemannischen Gedichten selbst Johann Wolfgang Goethe bezauberte, diesen Ausspruch tat. „Karlsruhe ist nicht so schlimm als man es verschreit. Ich lasse mir Karlsruhe nicht mehr abkaufen“! Als armer Schwarzwälder Bub aus dem Wiesental, in Holzschuhen und mit einem Herzen voller Heimweh, kam er in die „Residenz“ und blieb dort für immer. Ja, war denn Karlsruhe „verschrien“?
Ein wenig schon, denn im 19. Jahrhundert war die Hauptstadt Badens eine verträumte oder soll ich sagen „verschlafene Beamtenstadt.“ Ein Ruf übrigens, den Karlsruhe lange Zeit nicht loswurde, obwohl Heinrich von Kleist von einer Stadt geschwärmt hatte, die „klar und lichtvoll wie eine Regel“ ist. Inzwischen hat sich ja vieles geändert in der Stadt mit den Riesenbaustellen. Vorurteile gibt es immer noch. Karlsruhe ist zwar längst nicht mehr so „klar und lichtvoll“ wie es einst der Dichter beschrieb. Die Stadt ist aber lebendiger denn je, eine der führenden Technologieregionen Deutschlands und gesegnet mit einem reichen Kulturangebot. Ich bin ein Karlsruher Kind, das seine Stadt liebt und vielleicht ein bisschen durch die rosarote Brille sieht. Ja, ich schwärme vom „Glück in Karlsruhe zu leben“ und habe viele Menschen getroffen, denen es nach anfänglicher Zurückhaltung ähnlich ergeht wie damals Hebel, der in meiner Stadt erst nach vielen Jahren glücklich wurde.
Ob ich nicht übertreibe mit meiner Liebe zu Karlsruhe? Ich wollte es wissen und habe 22 Nicht-Karlsruher, „Zugroiste“, befragt, die nach langer Zurückhaltung zu der Feststellung kamen, dass sie nicht mehr von Karlsruhe weggehen wollen. „Immer in Karlsruhe bleiben und hier alt werden“, das ist ihr Traum. Warum?
Die Antwort auf diese Frage findet der Leser in diesem Buch, zu dem mich übrigens der Geschichtenerzähler Manfred Bögle und der verstorbene Rechtsanwalt, der unvergessene Peter Paepcke, inspiriert haben. In dem Buch „Vom Glück in Karlsruhe zu leben“ fand ich Paepckes Geschichte mit dem Titel „Karlsruhe – Liebe auf den zweiten Blick“, die ich unbedingt in dieses Buch aufnehmen wollte, weil sie ein Stück Zeitgeschichte ist, die auch unsere Kinder und Enkel nie vergessen dürfen. Ich danke Reni Schneider, Andreas Maske, Yann Guepet, Constanze Lindemann vom Verlag, Alexandra Laible und meinen Freunden, die immer wieder viel Geduld mit mir haben.
Doris Lott
Die Südstadt, wo ist das?
Alfons Bechtold
„Die Südstadt, wo ist das eigentlich“, hat ihn einmal, als er noch Pfarrer „Unserer Lieben Frau“ in der Südstadt war, einer seiner Amtsbrüder gefragt. Nachdem Alfons Bechtold ihm seine Gemeinde beschrieben hatte, meinte der Kollege: „Jetzt weiß ich wo das ist. Da habe ich einmal in einem Lokal ein Bier getrunken. Der Wirt war Ausländer und die Gäste auch.“ Und Pfarrer Bechtold, der ein Leben lang Reisen in ferne Länder liebte und überall Freunde hatte, die er einmal in seinem gastlichen, für alle offenstehenden Pfarrhaus verwöhnt hatte, erklärt ihm schmunzelnd: „Ja, typisch Südstadt! Ausländer gibt es da überall, die Südstadt war schon immer ein Vorreiter der Integration.“
Die Südstadt ist dem Pfarrer, der jetzt schon seit über zehn Jahren im Ruhestand lebt, Heimat geworden: „Ein Ort, wo mich die Menschen verstehen und viele Aufgaben auf mich warteten. Auch das ist ja so eine Art Kraftquelle, die das Gefühl von Heimat und Geborgenheit schafft. Die eigentliche Heimat, da wo das Elternhaus steht, in Rinschheim, die trage ich immer in meinem Herzen, und ich weiß auch: Dorthin darf ich immer wieder zurückkehren. Das ist der Ort, wo meine Geschwister und ihre Familien leben und wo auf dem Berg meine geliebte Kapelle zu Ehren der „Jungfrau der Armen“ steht.
Der Anfang in der Karlsruher Gemeinde war kein leichter Weg. Aber mit den Jahren wuchs die Vertrautheit und das Gefühl von Heimat und Geborgenheit. Ob er sich denn da nachts alleine auf die Straße getraue, möchte sein Gegenüber wissen. „Ich habe mich nie unsicher gefühlt, im Gegenteil, eher geborgen“, sagt Alfons Bechtold. Selbst im Ruhestand wollte er sich nicht von Karlsruhe trennen, wo er doch als junger Priester nie hinwollte. So lebt er heute mit zwei anderen Priestern und einem afrikanischen und polnischen Ehepaar in Grünwinkel, im ehemaligen Schwesternhaus der Franziskanerinnen. „Aber hier fehlt mir schon ein wenig die Stadt“, gesteht er, „in der Südstadt war ich mittendrin im Leben. Wenn ich aus dem Haus kam, hat mich gleich jemand gegrüßt und mir die Hand geschüttelt.“
Und doch war diese Südstadt in den ersten zehn Jahren eine harte Nuss für den Priester, der aus Weinheim gekommen war, wo er 17 Jahre lang als Pfarrer wirkte und erleben durfte, dass zwei junge Männer aus seiner Gemeinde Herz Jesu den Weg zum Diakonat und zwei seiner jungen Freunde den Weg zum Priestertum fanden.
„An Karlsruhe bin ich immer nur vorbeigefahren auf dem Weg nach Freiburg, wo einer meiner sechs Brüder, Otto, viele Jahre als Generalvikar tätig war.“ Auch der Weg ins geliebte Rinschheim im Odenwald, wo er als einer von sieben Geschwistern geboren wurde, führte über Karlsruhe, die fremde Stadt, an der er immer ohne anzuhalten vorbeifuhr. Als junger Priester waren Mannheim und Kehl seine Stationen, Orte, an die man ihn geschickt hatte. „Ja, Mannheim-Gartenstadt war meine erste große Liebe. Man sagt, man geht schwer nach Mannheim, aber man geht noch schwerer fort. Da ist was Wahres dran“, meint Pfarrer Bechtold. Bei seiner Priesterweihe im Freiburger Münster hatte er Gehorsam gelobt. Nie hatte er sich um eine Stelle beworben. Dorthin, wo ihn der Bischof schickte, wollte er seinen Dienst an Gott und den Menschen verrichten. Das war die Herausforderung seines Lebens. Als ihm das Ordinariat in Freiburg den Auftrag gab, nach Karlsruhe, in die Südstadt, zu gehen, hätte er gerne anderen den Vortritt gelassen, die sich für Karlsruhe beworben hatten. „Ich gestehe, ich wäre lieber wieder nach Mannheim gegangen, ich mochte den offenen Menschenschlag der Kurpfälzer. Ja Mannheim, das war so ein Ort, wo ich auf Zeit Heimat und Zuhause hatte. Karlsruhe war nicht meine Wahl, das haben andere entschieden, meine Vorgesetzten. Und das war auch gut so.“
50 Jahre alt war Alfons Bechtold, als ihn sein Weg in eine badische Großstadt führte, wo sein silbernes Priesterjubiläum die Investitur war. „Der Name der Gemeinde ,Unserer Lieben Frau‘ hat mir geholfen, ja zu sagen zur Entscheidung des Bischofs. 22 Jahre wurden daraus, bis ich 2005 mit 73 Jahren in den Ruhestand ging.“
Seiner Südstadt ist der Pfarrer treu geblieben, und so sitzt er dort manchmal auch am Sonntag als einfacher Gottesdienstbesucher in den Reihen der Gläubigen. „Auch das muss man lernen, das Zurücknehmen, das Loslassen. Und sich mitfreuen, wenn es gut weitergeht.“
Alfons Bechtold erzählt vom schweren Neubeginn im fremden Karlsruhe. „Es wurden mir ,Engel‘ zur Seite gestellt. Was hätte ich zum Beispiel ohne meinen tatkräftigen Pfarrgemeinderats-Vorsitzenden Kurt Wilhelm getan, dessen absolute Loyalität mir den Rücken stärkte? Heute noch sind wir Freunde. Was hätte ich gemacht ohne Schwester Augustina? Sie hat mich eingeführt in die Sorgen und Nöte der Gemeinde. Nachts ging ich manchmal mit ihr durch die Straßen und sie blieb vor einzelnen Häusern stehen, zeigte mir, wo ihre Sorgenkinder wohnen, worauf ich achten müsse, wie man da helfen könne. Ein echter ,Kreuzweg‘ war das. Die Schwester verschaffte mir Zugang zu den Kranken, baute eine richtige Telefon-Seelsorge auf. Ja, sie hat mich zum ,Südstädtler‘ werden lassen nach dem Wort des Paulus: Ich bin allen alles geworden. Sie hat mir ihre Liebe zur Gemeinde als Geschenk hinterlassen. Einmal hat sie zu mir gesagt: Ist das eigentlich ein richtiger Gedanke, Herr Pfarrer, dass ich ganz fest daran glaube, dass in der Südstadt keine Seele verloren gehen kann? Und als ich die Schwester fragte, warum, antwortete sie mir: „Wir beten doch im Rosenkranzgebet immer für den nächsten, der aus unserer Pfarrgemeinde abberufen wird.
„Und heute ist das immer noch so“, sagt Pfarrer Bechthold.
In Freud und Leid zu den Menschen stehen, das gibt auch ein Gefühl von Heimat. Ich ging zu den Leuten nach Hause, anstatt sie in mein Büro kommen zu lassen. Das wäre viel zu förmlich gewesen. So gewann ich ihr Vertrauen. Über 1.200 Beerdigungen habe ich gehalten, Gespräche mit Menschen geführt, die nicht mehr zur Kirche kamen. Ich war ihr Gast, sah wie sie wohnten und lebten, wie sie feierten und wie sie trauerten.
Die Menschen in der Südstadt sprechen noch heute davon. Immer war das rote Pfarrhaus offen und die Haushälterin Maria Berg war die Seele des Hauses, die alle gastfreundlich aufnahm, bekochte und beherbergte. Auch das trug dazu bei, dass das Pfarrhaus in der Südstadt und sein menschenfreundlicher Seelsorger Kontakte zur halben Welt hatten: nach Kanada, nach Russland, nach Indonesien, Sibirien und Polen.
„Wo bleibt unser polnischer Kaplan“, wollten die Südstädtler wissen, wenn der Gast, ein junger Theologieprofessor aus Siedlce, der über viele Jahre regelmäßig in den Sommerferien die Gemeinde betreute, einmal ausblieb.
„ Wir haben in der Südstadt die Integration vorgelebt. Von Anfang an habe ich eine Brücke zur italienischen Gemeinde geschlagen und muslimische Kinder besuchten unsere Kindergärten. Einer muslimischen Frau, die ins Gremium der Elternvertreter gewählt wurde, habe ich gesagt: Sie tragen jetzt eine doppelte Verantwortung für deutsche und muslimische Kinder. Und sie war stolz darauf. Die Südstadt hat gezeigt, wie ein Miteinander verschiedener Nationen aussehen kann.
Dankbar bin ich, dass ich immer noch heimkommen kann an den Ort, wo ich mit meinen sechs Geschwistern aufgewachsen bin und wo mein Vater viele Jahre lang Bürgermeister war, nach dem Krieg Heimatvertriebene aufnahm und sie in die Dorfgemeinschaft integrierte. Er konnte doch nachfühlen, was sie erlebt hatten. Er war ja selbst im 3. Reich als Gegner der Nazis gefährdet gewesen und stand auf der Liste der Regimegegner, die ins KZ abtransportiert werden sollten.
Wenn auch Mannheim die erste Liebe des jungen Kaplans war, Alfons Bechtold will die Erfahrungen als Pfarrer in der Südstadt nicht missen. Die Südstadt wurde im Verlauf der Jahre zu einer Art zweiten Heimat. Die Schauburg zum Beispiel und die Straßen rund um den Indianerbrunnen, wo man mit Freunden an heißen Sommertagen ein kühles Bier trinken konnte. Ein junger Freund, Lehrer und Dichter, schickte dem Pfarrer manchmal auch ein Gedicht mit Gedanken, die die Sonntagspredigt des Pfarrers bei ihm ausgelöst hatten. Der Pfarrer hat ihn nicht vergessen. Oft verweilt er betend auf dem Karlsruher Hauptfriedhof auf der Bank am Grab seines Freundes Bernhard Lott, mit der Aufschrift: „Das Leben ist Abschied.“
Alfons Bechtold ist ein treuer Mensch, der die Begegnungen in seiner Südstadtpfarrei Unsere Liebe Frau in seinem Herzen bewahrt hat. Ja, die Mannheimer waren seine erste große Liebe, aber auch Karlsruhe wurde ihm zur Heimat. „Wenn man keine Heimat hat, wie will man dann Heimat für andere sein?“
Ich habe das keine
Minute bereut
Annette Bernards
Wenn Annette Bernards den Raum betritt, hat man einen Moment lang das Gefühl, dass er heller wird. Das mag an ihrer offenen Art liegen, vielleicht aber auch an ihrem fröhlichen Lachen, mit dem die promovierte Juristin ihr Gegenüber ansteckt. Die schlanke Frau mit den kurzen blonden Haaren wirkt bei aller Verbindlichkeit zielsicher und selbstbewusst. Wenn sie von ihrer Kindheit und Jugend im Viermädelhaus in ihrer Heimatstadt Wuppertal berichtet, bricht immer wieder ihr rheinischer Humor durch.
„Mein Vater hatte es mit fünf Frauen zu tun, seinen vier Töchtern und unserer Mutter, die uns zur Selbstständigkeit erzogen hat.“
Küche, Kirche, das war für sie wichtig und vor allem auch ihr Ehrenamt und kirchliches Engagement. Sie war eine emanzipierte Frau und Mitglied in der kfd und in ihrer Eigenschaft als deren Vorsitzende die „erste kfd-Frau“ in der Diözese Köln.
„Es ist schon vorgekocht“ oder „Guckt mal in den Kühlschrank“, sagte sie einfach, wenn sie ihren ehrenamtlichen Verpflichtungen nachging.
Annette Bernards schmunzelt: „Ich war von uns vier Mädchen der Kopf und machte für meine nächst jüngere Schwester die Hausaufgaben, während sie für uns kochte.“
Wenn Not am Mann war, half die Mutter auch in der Kanzlei des Vaters, die dieser nach seinem Studium in Freiburg von Annettes Großvater übernommen hatte.
„Die Juristerei liegt mir im Blut, aber auch das Engagement für die katholische Kirche hat in meiner Familie eine lange Tradition. Mein Vater war Jurist und im Kirchenvorstand der Gemeinde, was hier in Karlsruhe dem Stiftungsrat entspricht, der sich um die Finanzen, das Personal und die Gebäude der Gemeinde kümmert. Er war auch im Kirchensteuerrat der Erzdiözese Freiburg.“
Ob es nur ein Zufall ist, dass seine Tochter Annette viele Jahre später genau diese Funktion in der Karlsruher Kirchengemeinde St. Stephan und im Kirchensteuerparlament der Erzdiözese Freiburg erfüllte?
„Ich habe immer genau gewusst, was ich will“, sagt die Frau, die heute in Kehl eine Professur an der Hochschule für Verwaltung hat.
„Mit neun Jahren wollte ich zu den Pfadfindern und mit fünfzehn war ich Gruppenleiterin der ,Wichtel‘, organisierte Ausflüge und Gottesdienste und übernachtete mit den Mädchen in Jugendherbergen“, erzählt Annette Bernards.
Verantwortung übernehmen für andere, das gefiel dem jungen Mädchen und sie wundert sich heute noch darüber, dass sie Glaubenskrisen wie andere junge Menschen in der Pubertät nicht erleben musste.
„Ich habe mich immer gefragt, wann kommt das denn endlich, die Zweifel und die Distanz gegenüber der Kirche?“
Sie lacht fröhlich: „Aber sie kamen nicht!“
Als sie dann, wie einst ihr Vater zum Jurastudium nach Freiburg ging, nahm die Gemeinde Dreifaltigkeitskirche die Studentin mit offenen Armen auf.
„Kann ich hier mitmachen?“, habe ich gefragt und die Antwort lautete: „Klar, du kannst hier gleich nächste Woche anfangen!“ „Ich gab den kleinen Finger und gleich war die ganze Hand weg.“
Später dann, in Karlsruhe, wo Annette Bernards nach ihrem 2. Staatsexamen und der Promotion eine Stelle als Richterin am Landgericht bekam und sich wieder in einer Gemeinde engagieren wollte, blieben die Türen verschlossen. „Es hat echt lange gedauert, von 1982 bis 1988, bis ich mich in Karlsruhe heimisch fühlen konnte und akzeptiert wurde.“
Freiburg, das war Heimat, wo sie schon als Kind die Ferien bei der Tante verbracht und im Strandbad schwimmen gelernt hatte. Freiburg, das war der „Ferienort“, die große Liebe, wo sie als junge Juristin wie die meisten ihrer jungen Kollegen nach dem Examen so gerne geblieben wäre.
Karlsruhe, das war die Fremde. Hier mietete sich die junge Richterin in der Lessingstraße nur ein möbliertes Zimmer mit dunklen Möbeln bei zwei alten Damen. Eine Schlafstätte. „Das war furchtbar und deshalb hieß es bei mir am Freitagnachmittag immer: Rasch auf den Zug und nichts wie raus aus Karlsruhe, rasch zurück ins geliebte Freiburg.“
„Aber die Stelle, die ich angetreten hatte, gefiel mir, weil ich endlich umsetzen konnte, was ich gelernt hatte. Als Richterin und später dann als Staatsanwältin hörte ich Lebensgeschichten, die man als ,behütetes Mädchen‘ nicht kannte. Geschichten aus dem Milieu im Jargon der Prostituierten, Drogendealer und Gewalttäter. Ja, von Freiburg konnte ich mich nur schwer lösen trotz der neuen kleinen Wohnung in der Bismarckstraße. Irgendwann erfuhr ich, dass ich zur Gemeinde St. Stephan gehöre, besuchte ein Pfarrfest, setzte mich auf eine der langen Bänke, versuchte vergeblich mit den Karlsruhern ins Gespräch zu kommen, räumte dann das Geschirr ab, um mich nützlich zu machen, trug es in die Küche und sagte: ,Ich kann auch Geschirrspülen und jemanden mal eine Stunde ablösen.‘ Die Frauen am Spülbecken erstarrten zur Salzsäule. Ich dachte nur: Schiefgelaufen, schade. Ich nahm das nicht allzu tragisch.
Irgendwann schaffte ich es, mich mit der Stadt zu befreunden, hier anzudocken, nicht zuletzt dank eines neuen Dekans. Er hieß Emanuel Frey und fragte im Gottesdienst: ,Wer will heute die Lesung vortragen?‘ Von Freiburg her war ich das gewohnt, im Altarraum zu stehen, und so ging ich nach vorn zum Ambo und las. Plötzlich stürzte eine Frau erregt nach vorne und schrie, dass hier Laien nichts zu suchen hätten und dass ich sofort aufhören solle!
Annette Bernards schmunzelt.
„Ja, wie das ausging? Ich hatte ja das Mikrofon und las ruhig weiter, ich war ja lauter! Das war alles ein bisschen grotesk, aber es war der Einstieg in die ehrenamtliche Tätigkeit“.
1990 wurde die junge Staatsanwältin zur Pfarrgemeinderats-Vorsitzenden gewählt und dazu kam die Tätigkeit als Stiftungsrat.
„Das war der Wendepunkt in meinem Leben.“
Nicht nur äußerlich, auch innerlich begann sich die Juristin, die inzwischen seit 25 Jahren in der Verantwortung steht, in Karlsruhe einzurichten.
„Ich kaufte mir Möbel und eine Wohnung in der Parkstraße. Noch zweimal kamen lukrative berufliche Angebote aus Freiburg.“
Annette Bernards lehnte ab und wunderte sich selbst darüber. Sie hatte sich entschieden, sie wollte endgültig in Karlsruhe bleiben. Und da die didaktisch pädagogische Arbeit mit jungen Menschen ihr schon immer Freude gemacht hatte, bewarb sie sich um eine Professorenstelle an der Hochschule für Verwaltung in Kehl.
Karlsruhe rückte ihrem Herzen immer näher und auch der Hardtwald, den sie so liebt, weil sie ihn fünfzehn Jahre lang als Marathonläuferin in alle Himmelsrichtungen durchquert hat.
Ihr Amt in der Gemeinde erfordert immer wieder Entscheidungen, so auch die Umgestaltung des Innenraumes der Stephanskirche, die die Gemüter der Gläubigen und der Karlsruher Öffentlichkeit erhitzte. Die Wellen schlugen hoch, es kam zu heftigen Debatten, die die Gemeinde in zwei Lager spaltete.
„Mir war klar, dass man unterschiedlicher Meinung sein kann, aber ich weiß, die Umgestaltung war richtig. Ich habe das keine Minute bereut!“
„Du musst Roberto sein!“
Ein Italiener in Karlsruhe
Roberto Borella
„Die Menschen brauchen ein Lächeln“, sagt Roberto, der Italiener. Nur wenige kennen seinen Nachnamen. „Borella, wer ist das?“ Seit 1961 ist Roberto Borella vom ehemaligen Café-Restaurant „Adria“ eine Institution, die in Karlsruhe jeder kennt, der die italienische Küche schätzt, vor allem aber auch Robertos freundliche und verbindliche Art.
Kein Wunder also, dass Jahre später als Roberto von der Ritterstraße ins „O’Henrys“ nach Beiertheim umziehen musste, ihm seine Stammkunden treu blieben. Auch die Sänger und die Schauspieler und die „Karlsruher Prominenz“. Bürgermeister, Stadträte, Abgeordnete, ja sogar der spätere Bundespräsident Roman Herzog oder die obersten Verfassungsschützer wie Jutta Limbach und ihre Nachfolger, Generalbundesanwalt Kai Nehm. Manchmal kamen da Dinge zur Sprache, die Roberto diskret überhörte und niemandem ausplauderte.
Karlsruhes ehemaliger Oberbürgermeister, zum Beispiel, Gerhard Seiler feiert im Adria seit Jahrzehnten seine Familienfeste. „Er kam schon in der Zeit, als es noch das Café Schwarz gab, Karlsruhes feinste Konditorei in der Karlstraße, das Haus, aus dem seine Ehefrau Trudi stammt. Ich erinnere mich noch an so vieles aus meinen ersten Jahren in Karlsruhe. Am Karlstor gab es noch die Zeigerampel und das alte Vinzentius-Krankenhaus und das „Adria“ der Familie Minieri in der Ritterstraße. Dort fing ich als Kellner an. Es war so eine Art Weinstube und Café, wo Frau Minieri ihren selbstgebackenen Apfelstrudel servierte.
Die Künstler vom nahe gelegenen Theater saßen damals oft noch bis nachts um zwei Uhr bei einem Gläschen Wein. Die Wirtsleute hatten danach keine Lust mehr zum Kochen und aßen lieber ein Hähnchen im „Rauchfang“ hinter der Hauptpost. „Um drei Uhr nachts sanken wir meistens total erschöpft ins Bett“, erinnert sich Roberto.
„Ich hatte ein Zimmer bei einem älteren Ehepaar in der Vorholzstraße, das mich wie ihren Sohn behandelte und morgens mit einer Tasse Kaffee am Bett und dem Ruf: „Roberto aufstehen!“, weckte.
Woran es wohl liegt, dass die Menschen diesen Roberto mögen? An seinem italienischen Charme oder seinem Gespür für Menschen? Unaufdringlich ist er, elegant wie der Oberkellner von Brenners Parkhotel und weltläufig wie man sich einen Chef de Cuisine oder Maître d’Hôtel vorstellt.
Der Direktor des berühmten Dorchester in London, der Roberto 1966 am Anfang seiner Karriere einstellte, obwohl der junge Mann nur ein paar Sätze Englisch konnte, hatte das mit seiner untrüglichen Menschenkenntnis wohl gleich erkannt: „Sie sprechen kein Englisch, junger Mann?“
„Nur ein paar Worte“, sagte Roberto, der vor seiner Abreise nach England ein paar Privatstunden im Café Ploetz am Albtalbahnhof bei Kaffee und Kuchen genommen hatte.
„Dann werden wir wohl miteinander französisch sprechen müssen“, meinte der Hoteldirektor, Mister Power vom berühmten Dorchester Hotel in Park Laine, und fügte hinzu: „Sie haben noch kein Zimmer? Ausnahmsweise, weil Sie mir so sympathisch sind, können Sie in unserem Hotel in einer Mansarde wohnen, bis sie etwas gefunden haben.“
Auch Robertos Deutschkenntnisse, die er sich in einer Eisdiele, in einem Hotel im Schwarzwald und danach bei der Familie Minieri in Karlsruhe angeeignet hatte, waren damals noch nicht perfekt.
Roberto absolvierte sein Praktikum, ging morgens von 8 bis 10 Uhr fleißig zur Sprachschule. Dann trat der kleine Comis seinen Dienst an und war so tüchtig, dass er schon bald im berühmten Dorchester zum Maître de Service befördert wurde.
Karlsruhe? „Nein, nach Karlsruhe wollte ich eigentlich 1969 nicht mehr zurück, denn ich hatte mich inzwischen als Stewart auf einem Luxusdampfer beworben und bekam eine Zusage.“ Dann plötzlich ein Anruf aus Karlsruhe und eine Karte von den Minieris, dass ich dringend im „Adria“ gebraucht werde und bitte zurückkommen möge.
Eigentlich wollte ich nur für ein paar Monate aushelfen“, schmunzelt Roberto, aber als ich im „Café-Restaurant Adria“ läutete, öffnete mir eine hübsche Spanierin die Tür. „Du musst Roberto sein“, sagte sie und reichte mir die Hand.
Es war Liebe auf den ersten Blick. Und so kam es, dass Roberto, der eigentlich lieber aufs Meer wollte als zurück nach Karlsruhe, das Leben als Stewart auf einem Luxusdampfer gegen eine Stelle als Kellner im Café Adria eintauschte und danach nie wieder aus dieser Stadt wegwollte. Als es Probleme gab mit der Arbeitserlaubnis für die junge Spanierin, wusste er die Lösung: „Ich werde Antonia heiraten“, sagte er zu dem Beamten auf dem Polizeipräsidium, der seiner Freundin die Arbeitserlaubnis verweigert hatte.
Seit 1980 sind Roberto und sein Bruder Maurizio eine Karlsruher Institution und aus der Gastronomie-Szene nicht mehr wegzudenken. Roberto, der Maître de Service und sein Bruder Maurizio, der Chefkoch.
Roberto Borella ist das geblieben, wofür ihn seine Gäste mögen. Ein Mann, der auch nach Jahrzehnten das liebenswürdige Lächeln und die menschenfreundliche Zuwendung zu seinen Gästen nicht verloren hat. Sein Alter sieht man ihm auch heute noch nicht an. Trotz seiner grauen Haare erinnert er seine alten Karlsruher Stammgäste auch heute noch an den netten italienischen Jungen aus dem kleinen Dorf bei Friaul, der einfach nur mit seinen Gästen ein wenig älter geworden ist.
Wenn Roberto zurückdenkt an die Stationen seines Lebens, vom berühmten „Baur au Lac“ in Zürich über das „Dorchester“ in London und vom Kellner im „Adria“ bis hin zum Besitzer eines eigenen Feinschmecker-Lokals, dann stellt er fest, dass das Leben es gut mit ihm gemeint hat. Als die Brauerei Moninger wegen angeblich zu geringem Bierumsatz seinen Pachtvertrag in der Ritterstraße nicht verlängerte, fand er im O‘Henry ein Restaurant, das zu ihm passte. „Eine gute Fügung war das“, sagt der gläubige Katholik, der an den traditionellen Werten von Familie, Treue und Ehrlichkeit festhält. „Ich lass mich nicht bestechen“, sagt er lachend. „Ich bin zu korrekt. Ob da wohl noch meine Kindheit und Jugend in Italien im Priesterseminar der Marianer eine Rolle spielt?“
An verführerischen Angeboten mit neuen Projekten fehlte es nicht, aber er lehnte ab. Dunkle, unehrenhafte Geschäfte scheut er wie der Teufel das Weihwasser.
„Ich habe Karlsruhe zu meiner Heimat gemacht, nach Italien möchte ich nicht zurück und würde meine Beiertheimer Eigentumswohnung auch niemals gegen das Haus in Italien eintauschen. Manchmal fahre ich nach Hause, um meine Mutter zu besuchen und im Weinberg zu helfen, aber in Karlsruhe habe ich Wurzeln geschlagen.“
Roberto hat nicht zuletzt dank seiner spanischen Ehefrau Antonia und seinen beiden Töchtern Annabella und Susanna, die in Karlsruhe geboren sind und auf der Europäischen Schule ihr Abitur gemacht haben, nie seine Bodenhaftung verloren. So sicher steht er auf seinen beiden Beinen, dass er sein Versprechen, dass er der Madonna gegeben hat, um jeden Preis einlösen wollte. Würde seine Frau von ihrer schweren Krankheit genesen, dann würde er sich auf den Pilgerweg nach Santiago de Compostella begeben.
„Ja, und das habe ich dann auch gemacht. Ganz ohne Wasserblasen und blutige Zehen“, sagt er lachend und erzählt, wie er sich auf seinen achtwöchigen Fußmarsch über die Pyrenäen vorbereitet hat.
„Monatelang habe ich mit zehn Kilo Büchern im Rucksack in der Günter-Klotz-Anlage trainiert. Früh um 8 Uhr bin ich losmarschiert in Richtung Rheinhafenbad, und um 10 Uhr war ich dann bei der Arbeit.“
Eigentlich hatte Roberto die Pilgerreise mit einem Freund der Familie, Peter Baumbusch, dem Rektor der Drais-Realschule geplant. Der überraschende Herztod seines Freundes machte diesen Plan zu nichte. „Ich machte mich trotzdem auf den Weg und fand Pilger, denen ich vorschlug, am Abend in der Herberge für sie zu kochen. Jedem teilte ich dann seine Aufgabe zu. Der Koreaner zum Beispiel musste das Gemüse einkaufen und schnippeln, der Südamerikaner war für Fleisch und Nudeln zuständig, der Franzose für die Getränke.“
Jeden Abend traf sich dann die Gruppe von acht bis zehn Pilgern beim gemeinsamen Kochen, besprach die Ereignisse des Tages und dann saßen alle gemeinsam bei Tisch und verzehrten das köstliche Mahl für zwei Euro pro Person. Anschließend ging die Gruppe geschlossen zum gemeinsamen Gebet in die örtliche Kirche.
Frägt man Roberto nach der Zukunft seiner Wahlheimat Karlsruhe, überlegt er nicht lange. „Eine Stadt muss sich verändern. Wir haben schon viel zu lange gewartet. Meine Vorfahren, die „Brigande“, wie die Karlsruher sie nannten, waren italienische Handwerker. Jetzt machen wir alle gemeinsam weiter. Lieber spät als niemals!“