Kitabı oku: «Die dünne Frau»
Dorothy Cannell
Die dünne Frau
Deutsch von Heidi Zerning
Ariadne Krimi 1016
Argument Verlag
Seit es Krimis gibt, haben Frauen Krimis geschrieben. Trotzdem ermittelten früher meist harte Kerle und distinguierte Herren, Frauen hingegen waren Opfer oder wurden gerettet. Ende der 1980er Jahre entstand die Ariadne-Krimireihe, als feministische Autorinnen ins Genre drängten, und inzwischen bevölkern zahllose weibliche Hauptfiguren die Krimiwelt in Buch und Film. Themen wie Kinder, Essen, Tagträume und Sehnsüchte sind nicht mehr ausgeklammert. Der Krimi ist keine reine Männerwelt mehr, er hat vielfältigere Facetten bekommen.
Bei Ariadne erscheinen heutzutage vor allem sehr politische Krimis und Noirs von Frauen, die das Genre nutzen, um Widersprüche und Missstände unserer Gesellschaft offenzulegen. Die dünne Frau hatte diesen Anspruch noch nicht: Auch wenn der Titel deutlich auf Hammett anspielt, ist es eher eine romantische Komödie mit Schauerroman-Elementen. Betont verspielt unterläuft Dorothy Cannell die althergebrachten Genre-Konventionen, wobei ihr scheinbar harmloser Humor durchaus subversive Ecken und Schnörkel hat. Das erstmals 1991 erschienene Buch wurde in der wundervollen Übersetzung von Heidi Zerning flugs zum Bestseller. So hat die verschmitzte, zutiefst für Frauen eingenommene Kriminalburleske Hunderttausende von Leserinnen beglückt und tut das noch heute, in der mittlerweile sechzehnten Auflage. Darum halten wir es lieferbar.
Else Laudan
Dorothy Cannell wurde 1943 in Nottingham (England) geboren. 1963 wanderte sie in die USA aus und lebt bis heute in Peoria, Illinois (USA). Sie scheut das Rampenlicht, aber ihre zahlreichen Familienmitglieder und Freunde fallen oft zum Teetrinken und Katzenstreicheln bei ihr ein. Längst ist sie Großmutter, doch ihre Krimis schreibt sie weiterhin in der Besenkammer neben dem Katzenklo.
Inhalt
Cover
Titel
Zum Buch
Zur Autorin
Impressum
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
Epilog
Weitere Bücher
Ariadne Kriminalromane
Herausgegeben von Else Laudan
Neuausgabe 2009
Alle Rechte vorbehalten
Titel der englischen Originalausgabe: The Thin Woman
© 1984 by Dorothy Cannell
© Argument Verlag 1991
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
Umschlaggestaltung: Martin Grundmann,
www.herstellungsbuero-hamburg.de
Satz: Iris Konopik
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016
ISBN 978-3-86754-992-9
Sechzehnte Auflage 2016
1
Nette Menschen in aller Welt wissen, dass Familientreffen Anlässe harmlosen Vergnügens sind und mehr rechtschaffenes Behagen spenden als Wäscheschränke voll lavendelduftender Betttücher oder Speisekammern voll selbstgemachtem Brombeergelee. Darum hoffe ich, die Nachwelt wird mich nicht verurteilen, wenn ich gestehe, die Einladung in Merlins Schloss hatte auf mich die gleiche Wirkung wie eine amtliche Aufforderung, mich zu meiner Hinrichtung einzufinden. Der liebenswürdig formulierte Brief auf dünnem veilchenfarbenem Papier lud mich zu einem Sippentag auf den Stammsitz eines betagten Onkels. Mir wurde mit Schrecken bewusst, dass ich mein schändliches Geheimnis vor der Verwandtschaft, die ich in den letzten Jahren so sorgfältig gemieden hatte, nicht länger verbergen konnte. Die Werbung belegt solche wie mich mit dem beschwichtigenden Attribut »vollschlank«. Aber machen wir uns nichts vor. Ein einfaches Wort mit vier Buchstaben sagt alles.
Gab es irgendeine Verschleierungstaktik? Nicht in Form neuer Garderobe (mein Vertrauen in Kleidungsstücke war dahin), sondern allenfalls in Gestalt eines breitschultrigen Mannes an meiner Seite. Zum Beispiel ein gutaussehender, liebevoller Ehemann sowie eine Schar entzückender, goldblonder Kinder, die stets mit geschlossenem Mund kauen und in Gegenwart Fremder nie unanständige Wörter benutzen. Mit deren Unterstützung konnte ich vielleicht dem Blick meiner deprimierend hübschen Cousine Vanessa standhalten. Ach, alles Tagträume! Ich war natürlich alleinstehend und würde es – es sei denn, Zeus stiege plötzlich vom Olymp herab und machte mir einen Heiratsantrag – aller Wahrscheinlichkeit nach auch bleiben.
Das Wetter an diesem Abend entsprach meiner Laune. Es war nasskalt und stürmisch, typisch für Ende Januar in London. Ich kam mit einem Gesicht so rau wie ein Reibeisen von der Arbeit und fand den Brief auf der Fußmatte. Meine Wohnung lag im obersten Stockwerk eines düsteren viktorianischen Hauses. Es wurde von einer geisterhaften Hauswirtin verwaltet, die immer, wenn die Wasserhähne tropften, unauffindbar war, bei Fälligwerden der Miete jedoch plötzlich Gestalt annahm.
Nachdem ich meinen Mantel an den Haken neben der Wohnungstür gehängt und den Regenschirm so drapiert hatte, dass er meine Geranien bewässern konnte, strebte ich der Küche zu und tat, was ich in Zeiten der Heimsuchung immer tue – ich öffnete die Kühlschranktür. Diesmal war ich versucht, hineinzukriechen und die zudringliche Welt einfach auszusperren. Doch das hätte keins meiner Probleme gelöst. Das Ergebnis wäre eine Neuauflage vom Besuch Puh des Bären bei dem Kaninchen gewesen, der nach Verzehr eines üppigen Mahles bekanntlich in der Tür stecken blieb und eine Woche lang ausgehungert werden musste, in welcher Zeit das praktische Kaninchen seine Beine als Handtuchhalter benutzte. Meine Beine sollte niemand als Handtuchhalter benutzen! Also tat ich etwas anderes Tröstendes und sehr Puh-Bärenhaftes. Ich häufte Baguettebrot und sechs Liebesknochen auf einen Teller, klemmte mir Mrs. Biddles Beste Erdbeermarmelade unter einen Arm und schnappte mir die Butterdose. Dann packte ich meine Beute auf den gescheuerten Holztisch neben die Morgenzeitung mit den Kaffeeflecken und das vom Kater umgestoßene Usambaraveilchen, steckte eine Kerze in eine Colaflasche und entzündete sie mit Schwung. Ich verdrückte zwei Liebesknochen und vier Scheiben krosses Brot dick mit köstlicher gelber Butter bestrichen. So gestärkt las ich noch einmal die Einladung in Merlins Schloss – mein Spitzname für den Wohnsitz meines verknöcherten Oheims. Der richtige Name war irgendwas Banales wie Fliederheim oder Villa Immergrün, was zur Verschrobenheit des Hauses überhaupt nicht passte.
Der Brief war natürlich nicht vom hohen Herrn selber zu Papier gebracht worden. Solche Aufmerksamkeit hätte mir ja ein übertriebenes Gefühl von Wichtigkeit geben können. Tante Sybil, die bei dem alten Schatz lebte und jede seiner Schrullen vergötterte, hatte das Schreiben in ihrer wunderlichen viktorianischen Handschrift verfasst, mit hauchfeinen Schleifen und Schnörkeln wie gesenkte Wimpern. Ich hatte Angst, auf das Papier zu atmen, damit die Schrift nicht verschwand. Das gesellige Wochenende sollte am Freitagabend, dem dreizehnten Februar, beginnen und am Sonntag nach dem Vier-Uhr-Tee zu seinem (zweifellos unverzüglichen) Schluss kommen. Eine Ablehnung dieser noblen Einladung wurde offenbar für undenkbar gehalten. Falls ich in Herrenbegleitung käme, war ich gebeten, Tante Sybil zu verständigen, damit ein getrenntes Schlafzimmer vorbereitet werden konnte.
Herrenbegleitung – was für ein reizendes Wort! Da denkt man an Strandpromenaden, an Zylinder und wirbelnde Spazierstöcke und an herrliche junge Männer mit schlimmen Hintergedanken. Die letzte Herrenbegleitung, die mir zuteil wurde, war ein Krankenpfleger, der mich an jenem Abend, als ich mir auf der Jagd nach einem Taxi den Fuß verstaucht hatte, in die Ambulanz rollte. »Iss noch einen Liebesknochen, Ellie!« – »Habe nichts dagegen.« Dicke gelbe Creme troff mir von den Fingern. Ich wischte einen Klecks von der Zeitung, und da stand es in großen fetten schwarzen Lettern, extra für mich:
KULTIVIERTE HERREN- UND DAMENBEGLEITUNG
Höchst seriöses Institut. Nie mehr allein ausgehen!
Wenn sonst niemand kann, rufen Sie uns an.
»Und du wirst ermordet«, sagte ein feines Stimmchen in meinem Ohr.
»Weswegen?«, sagte ein anderes feines Stimmchen. »Du hast kein Geld. Du bist keine Schönheit.«
Ich verputzte den letzten Liebesknochen, was sehr bedauerlich war. Wie viel würde es kosten, einen Mann übers Wochenende zu mieten? Zweifellos einen Batzen. Aber ich hatte Mutters Geld. Ich kaufte mir selten etwas zum Anziehen oder Sachen für die Wohnung. Als Innenarchitektin zog ich meinen Lustgewinn daraus, anderer Leute Häuser zu möblieren. Wählerisch zu sein war mein Beruf. Diese Fertigkeit konnte ich jetzt darauf verwenden, einen Mann auszusuchen, einen, der jede Saloneinrichtung schmückend ergänzte. Hochgewachsen sollte er sein und elegant, mit fein geschnittenen Zügen und einem Paar dunkler, sardonisch geschwungener Augenbrauen. Ich war solchen Exemplaren schon oft begegnet: zwischen den Seiten höfischer Liebesromane; sie hatten so artige Namen wie Julian St. Trope oder Eduard Van Heckler und galten als perfektes Accessoire junger Damen, die einen guten Eindruck machen wollten.
»Blöde Gans.« Ich zerknüllte die Zeitung und räumte den leeren Teller ab. »Du würdest an jemand namens Fred Potts geraten, der ohne Steuerkarte an der Haustür Bohnerwachs verkauft.« Wie aufs Stichwort klingelte es. Es war mein Mitbewohner Tobias Katertier. Ein ausgesprochen spießiger Kater, der sich weigerte, die Feuerleiter zu benutzen und durchs Fenster zu kommen. Er pflegte auf dem Tischchen im Flur vor meiner Wohnung zu thronen und so lange auf die Klingel zu stupsen, bis bei mir der Groschen fiel und ich aufmachte.
Tobias war nicht allein. Meine Nachbarin von unten, Jill, kam hinter ihm herein, was ihm nicht passte. Tobias mag keinen Besuch. Seine finstere Miene sagte: »Schmeiß die Hexe raus.« Er schnupperte angewidert an seinem Fressnapf und stolzierte davon, um in meinem winzigen Wohnzimmer seine Krallen am Sofa zu schärfen. Die arme Jill sah wirklich ein bisschen hexenhaft aus. Sie hatte ihr kurzes Stoppelhaar einmal zu oft gefärbt (sie benutzt die Alle-zwei-Tage-Sorte), und es war jetzt schmutzig grün, was sich mit ihren Augenbrauen biss.
Ich habe versucht, Jill zu hassen, weil sie winzig ist mit einem großen W (eins achtundvierzig), weniger wiegt als ich bei meiner Geburt, immer ihren nicht vorhandenen Bauch einzieht und ständig davon redet, dass sie unbedingt abnehmen muss. Aber sie ist auch nett mit einem großen N.
Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen, schleuderte ihre Zwergschühchen von den Füßen, stellte eine Flasche Pflaumenwein auf den Tisch, streckte ihre mageren Ärmchen über den Kopf und sagte, sie sei total erschöpft. Was mich nicht wunderte. Sie bringt Frauen, die Angst haben, abends alleine vor die Tür zu gehen, Selbstverteidigung bei und hat einen Judohieb drauf, der Mr. Universum krachend durch drei Stockwerke befördert hätte und wieder zurück.
»Puuh! Was für ein Wetter. Und dieser Wind! Ich bin praktisch nach Hause geflogen. Zeit zum Aufwärmen. Hol zwei Becher, Ellie-Schatz, und wir kriegen beide einen Schuss von dem Pflaumen-Gaumen-Traum.«
»Macht’s dir was aus, alleine zu trinken?« Ich holte ein Glas aus dem Geschirrschrank, auf dem Ein Geschenk aus Blackpool stand. »Ich möchte nämlich nicht, dass meine Liebesknochen gerinnen.«
»Was ist los? Du siehst sowieso schon sauer aus.« Jill füllte ihr Glas und sah mich durchdringend an. Sie bildet sich ein, Amateurpsychiaterin zu sein, und hat sich in den letzten drei Jahren durch meine Neurosen gearbeitet. Bis jetzt hat sie mir Gruppentherapie verordnet, Meditation, Knüpfarbeiten, Yoga und eine Brieffreundschaft mit einem Guru.
Ich gab ihr die Einladung und genehmigte mir eine doppelte Dosis Andrews Lebertinktur.
»Na und? Hört sich zwar nicht an wie die aufregendste Fete des Jahres, aber immerhin ein Wochenende am Meer. Langweilig, aber harmlos.«
»Du kennst meine Tante Astrid nicht oder ihre teure Tochter, die betörende Vanessa, von klein auf zum Männermagneten herangezogen – keine Spur von Hirn, aber wer merkt das schon?«
»Miau!« Jill fuhr mit dem Finger auf dem Rand ihres Glases entlang und goss sich noch einen Schluck ein.
Tobias steckte ein Ohr um die Ecke, kam zu dem Schluss, dass er nicht gemeint war und zog sich wieder zurück.
»Bosheit ist eine der wenigen Freuden in meinem Leben. Ich rauche nicht, ich trinke kaum, und ich habe keine losen Affären mit Männern, die lediglich nach meinem Körper lechzen.«
»Wenn du nicht für sechs futtern würdest, gäb’s noch Hoffnung. Hör auf, dir leidzutun. Ich kann nur immer wieder sagen, wenn du mitmachst, mache ich eine Abmagerungskur. Zusammen packen wir’s. Frühmorgens zur U-Bahn joggen und zurück, während der Arbeit Gymnastik und pro Tag drei klitzekleine Mahlzeiten – ohne Schummeln!«
»Vielen Dank, Jill, aber die Nummer mit Tomaten, Essig und altbackenem Kuchen halte ich nicht noch mal durch. Außerdem ist eh schon alles zu spät. Die Galaveranstaltung ist nur noch drei Wochen hin. Und schlag bloß nicht vor, ich soll die Einladung ablehnen. Die wissen doch alle, warum ich nicht wage, mich zu zeigen.«
»Obwohl sie dich seit über zwei Jahren nicht gesehen haben? Damals warst du noch nicht so massig wie heute.«
»Nein, aber rundlich war ich immer. Schon als Teenager hat mir Tante Astrid prophezeit, ich kriegte mal den gleichen Umfang wie die Kuppel der Paulskathedrale. Und dass ich Briefe und Weihnachtskarten nicht mehr beantwortet habe, wird sie in ihrem schlimmsten Verdacht bestärkt haben.«
»Hast du mir nicht erzählt, dein Onkel Merlin lebt völlig zurückgezogen und hat dich seit deiner Kindheit nicht mehr gesehen? Woher plötzlich die Sehnsucht nach der lieben Familie?«
»Weiß der Himmel. Vielleicht ist der alte Knabe dabei, den Löffel abzugeben, obwohl, als Letztes hörte ich, dass er damit gedroht hat, hundert zu werden. Du kennst die Sorte – seit fünfzig Jahren nie beim Arzt und nie erkältet. Aber Onkel Merlin ist nicht mein Problem; er interessiert sich nicht für Frauen. Der kann auf seinen Mottenkugeln hocken, bis er abkratzt. Die anderen machen mir Sorgen, nicht bloß die göttliche Vanessa und ihre Mammi, auch Onkel Maurice, Tante Lulu und mein Vetter Frederick. Ich will nicht, dass sie mich fragen, was tut ein so nettes Mädel wie du in einem solchen Körper!«
»Flotte Sprüche helfen dir auch nicht weiter, Ellie. Du musst in den Griff kriegen, was dich in die Selbstzerstörung treibt. Wahrscheinlich irgendein Schockerlebnis in frühester Kindheit …«
»Gut und schön. Aber Wunder brauchen ihre Zeit, und die hab ich nicht. Dafür hab ich das!« Ich schob die Zeitung über den Tisch, zeigte auf das Inserat für die Kultivierte Herrenbegleitung und wartete auf ihre Reaktion. Wenn Jill lästern würde … aber sie tat es nicht.
»Ellie, das ist doch super! Probierst du’s? Du bist immer so steifleinen.«
»Nur, wenn ich weiß, dass die Agentur seriös ist. Viele von den Dingern sind doch bloß Tarnung.«
»Für unanständige Absichten? Hast du Angst, du musst für die Rolle der Königin der Nacht vorsingen? Ellie, den Job kriegst du nie.«
»Vielen Dank.«
»Nicht nur weil du, sagen wir mal, voluminös bist. Es ist deine deprimierende Ausstrahlung lupenreiner Ehrbarkeit.« Jill goss sich noch ein Glas ein und schwenkte es vor meinem Gesicht. Das ist einer der Gründe, warum ich sie mag, sie macht keinen Bogen um das Thema meines Gewichts. »Auf Ellie! Möchte mal wissen, wie so ein Laden funktioniert. Mietest du den Mann stundenweise, tageweise? In deinem Fall würde ich mal fragen, ob sie eine Wochenendpauschale im Sonderangebot haben.«
»Sei nicht albern.« Ich hatte wieder Hunger, entschied mich aber stattdessen für den Rest Wein. »Ich rufe morgen an. Ganz unverbindlich, nur ein paar diskrete Erkundigungen. Wenn die Person am anderen Ende sich vernünftig anhört, bitte ich um einen Termin. Ich kann mich immer noch in letzter Minute entscheiden, nicht hinzugehen.«
»Du wirst hingehen. Dabei fällt mir ein, meine Cousine Matilda ist mal zu so was gegangen oder zu was Ähnlichem. Sie musste die Zeit bis zum nächsten Ehemann überbrücken, und sie kann buchstäblich nicht aufrecht stehen, wenn sie keinen männlichen Arm zum Anklammern hat. Sie fand, wenn sich der Bräutigam Anzug und Zylinder mieten kann, ist nichts dagegen zu sagen, wenn sie sich einen Mann mietet. Ich glaube, er wurde für den Vater der Braut gehalten oder für den Oberkellner, eins von beidem.«
»Trinken wir auf ansehnliche Männer, egal woher«, rief ich und erhob das Glas. »Egal, was es kostet.«
Am nächsten Tag fühlte ich mich nicht mehr ganz so locker und überlegen. Ich verschob den Anruf bei der Kultivierten Herrenbegleitung bis in den späten Nachmittag. Dann ging ich in den hinteren Teil des Ausstellungsraumes, in dem ich arbeitete, goss mir aus der Kaffeemaschine, die gefährlich auf einer Kiste balancierte, eine Tasse ein, spitzte drei Bleistifte, bis sie tödlich waren, setzte mich an meinen Schreibtisch, stand auf, besorgte mir eine Schachtel Büroklammern, nahm den Hörer ab, legte ihn wieder hin und wählte schließlich die Nummer. Besetzt. Fünf Minuten später kam ich durch und wurde von einer anonymen Stimme am anderen Ende der Leitung informiert, dass eine Terminvereinbarung nicht nötig sei. Geschäftsstunden von acht Uhr dreißig bis siebzehn Uhr dreißig, und drei Empfehlungsschreiben müsse ich vorweisen, maschinegeschrieben, in dreifacher Ausfertigung. Klick.
Nicht sehr freundlich, aber ausgesprochen geschäftsmäßig. Langsam ging es mir besser. Ich sagte meinen letzten Termin mit einer Frau ab, die ihr Vorkriegs-Siedlungshäuschen in ein französisches Château verwandelt haben wollte, fuhr mit der U-Bahn bis Strand, überprüfte zum vierten Mal die Adresse in meinem Portemonnaie und machte mich auf den Zehn-Minuten-Fußweg zur Goldfinch Street.
Meine Füße dehnten ihn auf zwanzig Minuten. Ferner trugen sie mich zu Woolworth, wo ich einen Lippenstift erstand, den ich nicht brauchte, in einer Farbe, die ich nie trug, sowie eine Tüte Kartoffelchips, die ich als Rückhalt in meine Handtasche stopfte.
Unglücklicherweise hatte ich überhaupt keine Schwierigkeiten, das Gebäude zu finden, das die Kultivierte Herrenbegleitung beherbergte. Es war nicht zu verfehlen. Der Architekt hatte kein postmodernes Mätzchen ausgelassen. Die Fahrt im Fahrstuhl – einer gläsernen Röhre, die ohne sichtbare Abstützung um ihre eigene Achse rotierte – durch einen Dschungel von Treibhauspflanzen war ein Erlebnis für sich. Jetzt noch ein gutgelaunter Tenor, der selbstvergessen losträllerte – ein einziger Schmetterton und alles würde in tausend Splitter zerspringen. Ich wandte die Augen nicht von einem korpulenten Herrn mit olivfarbenem Teint und schwarzem Operettenbart, am liebsten hätte ich ihm das Atmen verboten. In letzter Sekunde kam die kugelförmige Kabine zum Stillstand, hing einen Moment in der Luft und öffnete dann mit geräuschlosem Gähnen ihre Pforten. Ich erwog kurz, auf der Stelle die Rückreise anzutreten. Aber ich verachte Feiglinge, auch wenn ich meist selbst einer bin.
Ich bog um eine Ecke und fand mich unmittelbar vor einer Glastür, die in auffälligen Lettern von der Kultivierten Herrenbegleitung kündete. Darunter war eine ekelerregende Abbildung von zwei ineinander verschlungenen Herzen.
Ich kramte in meiner Handtasche, fischte eine Sonnenbrille heraus und klappte den Kragen meines Kamelhaarmantels hoch. Vor wem wollte ich mich verstecken? Vor mir selbst? Mein Innenleben implodierte. Ich machte ein bisschen Lamaze-Atemtechnik, die ich im Fernsehen aufgeschnappt hatte, und öffnete die Tür.
Wie so oft, wenn man mit dem Schlimmsten rechnet, lauerte auch hier nichts Unheimliches. Es war die übliche Art Empfangsraum, wo astronomische Honorare kassiert werden: skelettfarbene Wände, Bambusrollos und sparsamster Einsatz ausgesuchter Utensilien. Optischer Mittelpunkt des Raumes war eine silikongepolsterte, geschickt als Empfangsdame getarnte Blondine. Sie saß hinter einem sichelförmigen orangefarbenen Kunststoffschreibtisch, feilte ihre bereits rasierklingenscharfen Nägel, kaute affektiert Kaugummi und blies niedliche kleine Blasen, die genau zu ihrem bonbonrosa Lippenstift passten. Sie sah nicht auf, als ich auf den Wogen einer Engelbert-Schnulze eintrat.
Ich räusperte mich und schluckte vernehmlich. »Entschuldigen Sie.«
»Ja?« Goldlöckchen sog den kleinen Ballon ein und schaute noch gelangweilter drein als vorher. »Wenn Sie wegen der Stellung gekommen sind«, die Nagelfeile schmirgelte weiter, »die ist schon weg. Bedaure, aber wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«
»Welche Stellung?«
Sie hielt mich für begriffsstutzig. »Na, Putzhilfe, männlich oder weiblich, Berufserfahrung nicht erforderlich, keine Nebenleistungen, Alter Mitte vierzig …«, sie unterbrach sich, »oder wollten Sie die nicht?«
Konnte ich innerhalb weniger Stunden derartig gealtert sein? Das versprach ja heiter zu werden mit dieser chemieblonden, zuckerlasierten Pute. Ihrem Röntgenblick nach hätte ich eine Raupe sein können, die gerade von einem Silbertablett mit hübsch dekorierten Gurkenschnittchen kroch. Nerven hin, Nerven her, ich würde mich nicht behandeln lassen wie Katzenfutter.
Ich nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die Tasche. »Ich bin als Kundin hier, nicht als Ganztagsangestellte. Vielleicht erinnern Sie sich«, ich blickte mich in dem leeren Wartezimmer um, »ich habe heute Nachmittag angerufen und Sie sagten, ich könne ohne Termin vorbeikommen. Hoffentlich habe ich meine Zeit nicht verschwendet. Ich habe nämlich auch Kunden, die deswegen zurückstehen mussten.« Das schluck mal, dachte ich, während ich spürte, wie ihre verschlagenen Äuglein mich langsam von oben bis unten musterten, meinen fallschirmförmigen Mantel, mein solides Schuhwerk. Warum tat ich mir das an?
»Die Anforderungen der Geschäftsleitung sind, fürchte ich, recht hoch –«
»Wie hoch? Hätte ich gewusst, dass Sie 92 – 61 – 89 verlangen, hätte ich kein Mittagbrot gegessen.«
»Schauen Sie, Fräulein, ich hab die Regeln nicht gemacht. Das Leben ist nicht immer fair.« Der Tiefsinn des Tages.
»Wenn ich so aussehen würde, wie ich Ihrer Meinung nach sollte, wäre ich nicht hier. Also, können Sie mir helfen oder ist jemand zu sprechen, der es kann?«
Ihr Seufzer ließ die Büroklammern scheppern. »Ich treffe hier nicht die Entscheidungen … Na schön, Mrs. Swabucher will die ausgefüllt haben, bevor Sie reingehen.« Ein Bündel Aufnahmeformulare, deren obere rechte Ecken die unvermeidlichen Herzchen zierten, wurde mir in die Hand gedrückt. »Gehen Sie in das Kabuff neben dem Fenster.«
Goldlöckchen machte sich nicht die Mühe, aufzustehen; sie winkte lediglich mit einem Kaugummipäckchen. »Da finden Sie, was Sie brauchen, Kugelschreiber, Bleistifte und einen Taschenrechner.« Ich hörte, wie eine Tür am anderen Ende des Raumes auf- und wieder zuging, dazwischen schnappte ich die Worte auf: »Puuh, wir haben Miss World im Wartezimmer.«
Bis dahin hatte ich Bewerbungsformulare stets gerne ausgefüllt. Sie bescheinigen einem schwarz auf weiß, dass man eine Person ist, die Leistungen, Pläne und Ziele aufzuweisen hat – fein säuberlich tabelliert. Kreuzen Sie Kästchen A, B oder C an und unterschreiben Sie. Kein Platz für Seelenbekenntnisse.
Ich habe keine Vorstrafen, nicht in Bigamie gelebt und keiner obskuren exotischen Sekte angehört. Aber dieser Fragebogen war offensichtlich das Geisteskind eines Freudianers, der wollte, dass ich mir mein eigenes Grab schaufelte und mich dann auch noch hineinlegte.
Ob ich bei Benutzung des Badezimmers immer die Tür schloss.
Ob ich anderer Leute Zigaretten rauchte.
Welche Art von Nachtgewand ich bevorzugte.
Irgendwo zwischen diesen kunstgerecht punktierten Linien waren Bomben versteckt, die bei der geringsten Unvorsichtigkeit hochgehen konnten. Ich hatte bereits die Enden von zwei Bleistiften zerkaut und musste befürchten, wenn nicht von diesem Schwachsinn, dann von Bleivergiftung dahingerafft zu werden. Also übersprang ich zwei Zeilen und kam zu einer Frage in größerer Schrift, die mehrmals unterstrichen war. Offensichtlich das Kernstück. »Was war mir im Leben am wichtigsten?«
A. Eine sexuell befriedigende Beziehung.
B. Geld.
C. Die Achtung meiner Mitmenschen.
Ich war versucht zu antworten: »Bratfisch und Pommes mit viel Majo und Erbsen, eine große Cola und ein Schokoladeneisbecher mit extra Sahne, zwei Kirschen, keine Nüsse.«
Eine Alarmglocke schrillte, dass mein rechtes Trommelfell platzte. Goldlöckchen war wieder da, fachmännisch hielt sie eine poppige Stoppuhr in ihren kirschroten Krallen.
»Am besten gehen Sie gleich zu Mrs. Swabucher rein. Sie verreist übermorgen zu einer Konferenz.« Dem blöden Grinsen nach war ich für Goldlöckchen der Witz des Tages. Haltet euch den Bauch und wälzt euch am Boden vor Lachen, hier kommt Miss Wollene Unterwäsche auf der Suche nach Mr. Tadellos.
Das innerste Heiligtum glich einer gigantischen Puderquaste, kuschelig und rosa und dezent duftend. Alles war rosa – der Teppich, die Tapete, die Vorhänge, der Lampenschirm in Form eines Sonnenschirmchens; sogar der große Schreibtisch in der Mitte des Zimmers war perlmuttrosa und natürlich herzförmig. Hinter dem Schreibtisch saß eine kuschelige ältere Dame, die selber ein bisschen wie eine Puderquaste aussah. In dem rosigen Licht hatte ihr Haar einen rosa Schimmer.
»Miss, äh, Ellie Simons.« Goldlöckchen knallte meine Testformulare auf den Schreibtisch und stöckelte auf ihren Zwanzig-Zentimeter-Pfennigabsätzen hinaus.
»Kommen Sie, kommen Sie, meine Liebe. Ach je, Sie sehen ja zu Tode erschrocken aus, Sie Arme.« Mrs. Swabucher kam hinter ihrem Schreibtisch hervorgewatschelt. Zu meiner Überraschung entdeckte ich an ihren Füßen bequeme Pantoffeln mit dicken rosa Seidenpompons, die die Wirkung ihres rosa Wollcomplets zunichtemachten.
Sie fing meinen Blick auf und zwinkerte mir heftig zu. »Ich weiß, ich sehe damit aus wie eine alte Miezekatze, aber meine Füße machen mir so zu schaffen und meine Tochter Phyllis hat sie mir zu Weihnachten geschenkt. Sie ist das hochgewachsene Mädchen hier auf dem Foto neben dem Jungen mit dem Hamster – meinem Enkel Albert. Geben Sie mir Ihren Mantel, meine Liebe, und ziehen Sie sich den Stuhl heran, damit wir gemütlich plauschen können. Wie wär’s mit einem Kaffee?«
Das sollte nun der führende Kopf hinter allem sein? Zu meinem Erstaunen merkte ich, dass meine Hände nicht mehr zitterten. Ich war in der Lage, die zierliche Kaffeetasse mit dem zarten Rosenknospenmuster ruhig zu halten. Das Zimmer war wunderbar warm, trotz des Regens, der draußen niederprasselte. Es hätte ein behaglicher Abend bei einer älteren Freundin oder Verwandten sein können, nur dass meine Verwandten alle so behaglich waren wie Giftschlangen.
»Hat das Mädchen Sie schikaniert?« Mrs. Swabucher nahm wieder hinter den Fotos Platz und nippte an ihrem Kaffee. »Ich wusste vom ersten Moment an, sie ist die Falsche. Aber was soll man machen? Heutzutage ist es absolut unmöglich, gute Kräfte zu finden: schlampig, unverschämt und schrecklich ungebildet. Aber Sie, Miss Simons, Sie sind eine Dame, das sehe ich sofort.«
»Und der Test?«
»Ach, zerbrechen Sie sich bloß nicht den Kopf über diesen Unsinn. Das war eine Idee von meinem Sohn Reginald. Er ist Wirtschaftsprüfer, und Sie wissen ja, wie die sind –›Mutter, du musst rationell arbeiten, auf dem neuesten Stand sein, dich an die Bestimmungen halten.‹ Ich halte mich an meinen Instinkt und ich irre mich nie. Dadurch bin ich ja überhaupt erst in diese Branche geraten. Ich verstehe mich auf Menschen. Mein lieber verstorbener Mann sagte immer, ich wäre die geborene Ehestifterin, und als er von mir ging … was hatte ich schon anderes zu tun?«
Sie setzte vorübergehend aus wie eine zu schwach aufgezogene alte Uhr, und ich murmelte, es ginge mir eigentlich nicht um etwas so Dauerhaftes wie einen Ehemann.
Mrs. Swabucher strahlte mich an. »Man kann nie wissen! Nehmen Sie ein Konfekt, alle mit Cremefüllung. Meine Spezialmarke.«
Ich beäugte sie gierig, lehnte aber dankend ab.
»Sie machen sich Sorgen wegen Ihrer Figur, stimmt’s? Sollten Sie nicht. In Ihrem Alter ist das wahrscheinlich nur Babyspeck.«
»Ich bin siebenundzwanzig.«
»Oje, oje! Sie sterben gleich an Altersschwäche!« Mrs. Swabucher kicherte kehlig. »Kommen Sie, seien Sie kein Frosch! Amüsieren Sie sich! Ach, Sie haben Angst – Sie denken, das ist wieder ein Test wie der Mumpitz da draußen. Lassen Sie mich etwas klarstellen, Miss Simons. Ich bin nicht doppelzüngig, dazu bin ich einfach nicht schlau genug. Jetzt essen Sie, und dann kommen wir zum Geschäft. Erzählen Sie mir alles über sich.«
Es war gar nicht schwer. Ich aß ein Konfekt, ich aß noch eins. Mrs. Swabucher gab mir die ganze Schachtel und sagte, ich sollte sie auf dem Schoß behalten. Sie goss mir immer wieder Kaffee ein. Ich erzählte ihr von der Einladung in Merlins Schloss, beschrieb Vanessa und wie grässlich minderwertig ich mir in ihrer Gegenwart vorkam, wie ich mein Gewicht hasste, aber unfähig war, es unter Kontrolle zu halten, und wie ich glaubte, selbst eine vorgetäuschte Beziehung würde mir genügend Selbstvertrauen geben, um das große Wochenende zu überstehen.
Am Ende meines Vortrages hatte Mrs. Swabucher Tränen in den Augen und putzte sich mit einem rosa Seidentaschentuch geräuschvoll die Nase. »Wie schade, dass mein Jüngster, der arme William, nie Gelegenheit hatte, Sie kennenzulernen.«
Mir gingen Bilder von einem frühen und tragischen Tod durch den Kopf. Doch Mrs. Swabucher erklärte, letzten Juni habe ihr Sprössling eine unmögliche, emanzipierte Person geheiratet, die für getrennte Ferien sei und gegen Kinder.