Kitabı oku: «Die Pest», sayfa 4

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Für Deckoff-Jones ist Mikovits’ Geschichte insofern wichtig, als Mikovits genauso wie Pandora eine verbotene Büchse geöffnet hatte. „Sie hat Fehler gemacht wie jeder andere in dieser Geschichte. Ich auch, genauso wie alle anderen. Dadurch ist eine unglaubliche Chance vertan worden. Aber es ist vor allem Harveys und Annettes Schuld. Judy hatte nie eine Chance. Sie haben sie nie unterstützt. Sie hatte nicht das, was sie brauchte, um es durchzuziehen. Niemals. Es war ein Witz.“38

* * *

Gegen zwei Uhr morgens, einen Tag nach ihrer Verhaftung, wurde Mikovits zur Todd Road Facility gefahren, die sich in einem Zitronengarten etwa 16 Kilometer außerhalb der Stadt Ventura befindet. Als sie in das Gefängnis eingeliefert wurde, musste sie sich erneut ausziehen, vorbeugen und sich der Suche nach Drogen in ihren Körperöffnungen unterwerfen. Mikovits erhielt mehrere Zettel mit Anweisungen, wie sich ein vorbildlicher Häftling zu verhalten hatte, aber weil sie ihre Lesebrille nicht hatte, konnte sie den Text nicht entziffern. Als sie sich bei einem Wachmann beklagte, sie brauche eine Brille zum Lesen, antwortete er: „Das hier ist kein Erholungsort. Deshalb nennt man es Gefängnis.“ Offenbar brauchte ein Musterhäftling nicht zu „lesen“.

Irgendwann während der Aufnahmeprozedur wurde Mikovits gefragt, ob sie selbstmordgefährdet sei.

„Nein“, antwortete sie.

Trotz ihrer klaren Antwort wurde Mikovits in den Überwachungstrakt für Selbstmordgefährdete verlegt. Menschen, die zum ersten Mal verhaftet wurden, brachte man routinemäßig in diesem Flügel des Gefängnisses unter. Es schien, dass die erstmalige Verhaftung und Inhaftierung für den Durchschnittsbürger eine so überwältigende Erfahrung war, dass man annahm, sie würde die Menschen selbstmordgefährdet machen. Das Licht in der Selbstmord-Wachzelle war die ganze Nacht an, damit die Wachleute die Gefangenen ständig auf Anzeichen eines abnormen Verhaltens hin überwachen konnten.

Mikovits’ Zellengenossin war eine Frau, Marie (ein Pseudonym), die sich wegen einer Methamphetaminabhängigkeit in Behandlung befand. Da Marie mehrere starke Medikamente nahm, um ihre Sucht zu bekämpfen, und daher Gefahr lief, aus dem Bett zu fallen, musste Mikovits die oberste Koje nehmen.

Die Zelle hatte dicke Betonwände. Sie war etwa 1,2 m breit, hatte eine untere und obere Koje aus Stahl, eine Toilette und ein an der Wand befestigtes Waschbecken sowie ganz oben ein kleines Fenster. Anstelle von Gitterstäben gab es am Eingang eine dicke Stahltür mit einem kleinen rechteckigen Fenster. Wenn die Stahltür zugemacht wurde und sie eingeschlossen war, fühlte sich Mikovits wie in einem Grab. Das Öffnen und Schließen der schweren Türen die ganze Nacht über ließ Mikovits jedes Mal erschauern. Sie hätte sich nie vorstellen können, jemals in einem solchen Ort zu landen. Anstatt einer Matratze erhielten sie so etwas wie eine Trainingsmatte und kein Kissen, da sie sich in der Selbstmord-Überwachungszelle befanden. Marie erklärte Mikovits, wie sie ihren Fuß auf eine Seite des kleinen Waschbeckens setzen konnte, um in die obere Koje zu klettern. Als Mikovits in die obere Koje gelangte, wurde sie von der fluoreszierenden, länglichen Lampe begrüßt, die nie ausging.

Mikovits dachte über einen bestimmten Tag im WPI nach. Es war, kurz nachdem sie im Mai 2011 von der Invest in ME-Konferenz in England zurückgekehrt war, als Harvey in ihr Büro gestürmt kam. Er schrie sie an, weil er dachte, sie habe Annettes Bemühungen kritisiert, mit einer anderen ME/CFS-Selbsthilfeorganisation in Kontakt zu treten. Mikovits hatte nichts dergleichen getan, aber Harvey forderte: „Du wirst dich bei Annette entschuldigen!“

„Okay! Okay!“, antwortete Mikovits, in der Hoffnung, die Situation zu entschärfen.

Harveys dröhnende Stimme war zweifellos von anderen Mitarbeitern mitgehört worden, aber als sie beide Mikovits’ Büro verließen, legte er ein breites Lächeln auf und legte seinen Arm um ihre Schulter. Aber seine Hand umfasste nicht ihre ganze Schulter, sondern ergriff ihren Nacken, wo sie von ihren schulterlangen blonden Haaren verdeckt wurde. Als er an Mitarbeitern der UNR vorbeiging, ganz der Lächelnde und Freundliche, spürte Mikovits, wie er mit seiner Hand ihren Nacken so fest drückte, dass sie dachte, sein fester Griff würde Prellungen hinterlassen. Für Mikovits war die Botschaft unverkennbar: Sie hatte das Gefühl, er teile ihr damit mit, er könne sie jederzeit fertigmachen, und all diese Menschen, die er förderte, würden keine Stimme des Protestes erheben.

Die gleiche Masche mit dem Quetschen ihres Halses setzte Harvey im August 2011 ein, als sie ein Restaurant mit einem Vertreter eines Pharmaunternehmens verließen, den Mikovits den Whittemores vorgestellt hatte. Harvey hoffte, dass das Unternehmen zusammen mit dem WPI eine klinische Studie für eine neue medikamentöse Therapie in die Wege leiten und dafür einen bedeutenden Betrag bereitstellen würde. Mikovits war während des Abends ungewöhnlich still, und am Ende des Essens hatte das Unternehmen beschlossen, nicht zusammenzuarbeiten.

Seit dieser Zeit war Mikovits von einem wiederkehrenden Albtraum geplagt worden. In diesem Traum fuhr sie mit Freunden im Auto, sie hatten viel Spaß miteinander und lachten und redeten, als Harvey Whittemore sich plötzlich auf dem Rücksitz aufrichtete, mit seinem langen Arm ihren Hals ergriff und anfing, sie zu erwürgen. Die Metapher war eindeutig, er konnte ihr alles antun, und sie konnte nicht einmal schreien.

In dieser ersten Nacht im Gefängnis machte sich Mikovits keine Sorgen um ihre eigene Sicherheit. Sie glaubte, dass Harveys Plan gewesen war, sie zurück nach Reno zu bringen, und sie wusste, dass die Notizbücher mit den Beweisen von Max in Sicherheit gebracht worden waren.

Wer wusste denn, was man mit ihr in Nevada vorhatte?

Doch egal, wie lange seine Arme reichten, Mikovits bezweifelte, dass Harveys Einfluss von Reno, Nevada, bis zu ihrer Gefängniszelle in Ventura, Kalifornien, reichen konnte. Es war paradox, aber sie fühlte sich in einer Zelle mit einer sich erholenden Methamphetamin-Süchtigen sicherer, als sie sich seit Monaten gefühlt hatte.

* * *

Mikovits ließ ihre Gedanken zu Dr. John Coffin schweifen, den viele als den großen alten Mann der Virologie betrachteten. Sie dachte an sein Zitat in Science, in dem er sie mit Jeanne d’Arc verglichen hatte.

Auf den höchsten Ebenen von Wissenschaft und Forschung findet man Kämpfe um Macht und Territorien. Wenn ein junger Forscher etwas Neues auf dem Gebiet eines anderen entdeckt, wird oft der selbsternannte Leiter dieses Wissensgebietes einen zweiten Artikel und den ersten Rezensionsartikel darüber schreiben und den jungen Forscher regelrecht hinausdrängen. Coffin hatte in der Tat zu ihrem ursprünglichen Artikel in der Zeitschrift Science einen unterstützenden Leitartikel mit dem Titel „A New Virus for Old Diseases“ geschrieben.39 Und jetzt war er auf der anderen Seite.

Wer, so fragte sich Mikovits, würde einen Forscherkollegen mit Jeanne d’Arc vergleichen, einer heiligen Kriegerin aus dem 14. Jahrhundert, die zu Unrecht der Ketzerei bezichtigt wurde, und dann prophezeien „Die Wissenschaftler werden sie auf dem Scheiterhaufen verbrennen“? Das war eine groteske Behauptung. Warum sollte ein Wissenschaftler auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden für die Veröffentlichung von Daten, die sich als falsch erweisen könnten? In den 1970er-Jahren wurden viele Artikel veröffentlicht, in denen fälschlicherweise behauptet wurde, dass humane krankheitserregende Retroviren entdeckt wurden. Keiner dieser Menschen wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt, einige von ihnen wurden sogar in die National Academy gewählt. Hatte Coffin die wissenschaftliche Gemeinde mit den Akteuren der Inquisition verglichen? Was könnte sie über einen solchen Vergleich denken? Wenn sich ihre Forschung als falsch herausstellen würde, dann lasse man doch jemand anderes die gleichen Experimente durchführen und sie widerlegen. So läuft das in der Wissenschaft. Man kann bei einer Sache recht haben und bei der nächsten unrecht. Sie wäre in der Lage, das zu akzeptieren. Coffin hatte sich geirrt, was das Vorkommen von humanen Retroviren betraf. War er deshalb im Gefängnis gelandet? In Ungnade gefallen? Nein. Hinter dieser Geschichte steckte so viel mehr.

Aber so sehr sie auch glaubte, dass Coffin in vielen Fällen unangemessen gehandelt hatte, hatte sie doch den Eindruck, dass sehr viele ihrer Probleme von ihren ehemaligen Verbündeten, den Whittemores, herrührten. Sie glaubte, dass die Rezession den Immobilienbeständen der Whittemores schwer geschadet habe, fragte sich aber auch, ob andere mit weit mehr Macht sie zwingen könnten, gegen ihre natürlichen Neigungen zu handeln.

Aber warum sollte jemand nicht daran interessiert sein, den Millionen von Patienten mit ME/CFS und Kindern mit Autismus zu helfen?

* * *

Trotz allem, was geschehen war – als Mikovits in ihrer Koje lag, versuchte sie, für die Whittemores zu beten. Mikovits hatte sie wirklich gemocht. Viele ihrer Freunde glaubten, dass ihr Untergang auf ihre unangebrachte Loyalität gegenüber den Whittemores zurückzuführen war, vielleicht auf eine emotionale Naivität, eine Unfähigkeit zu erkennen, wann Leute sie manipulierten. Aber es bestand kein Zweifel daran, dass seit dem Ausbruch von ME/CFS am Lake Tahoe 1984 bis 1985 keine andere Person oder Gruppe mehr getan hatte, um die Aufmerksamkeit auf diese schreckliche Krankheit zu lenken, als das WPI.

Der Dichter Henry Wadsworth Longfellow schrieb einmal: „Wenn wir die geheime Geschichte unserer Feinde lesen könnten, würden wir im Leben eines jeden Menschen genug Trauer und Leid finden, um jede Feindseligkeit zu entschärfen.“ In dieser Art und Weise dachte Mikovits an die Whittemores, als sie in ihrer Gefängniszelle saß.

Mikovits glaubte, Annette sei mit dem WPI vollkommen überfordert, aber sie war eine Mutter, die um das Leben ihres Kindes kämpfte. Sie hatte das Gefühl, dass sich so viele Dinge gegen die Whittemores verschworen hatten, vor allem aber die Wirtschaft, und dass sie nicht ganz verstanden hatten, wie sehr die Regierung vermeiden wollte, einen ehrlichen Blick auf ME/CFS oder Autismus und die Rolle zu werfen, die Impfstoffe spielen könnten. Mikovits versuchte, diese Gedanken hinter sich zu lassen und sich auf etwas Höheres zu konzentrieren. Sie versuchte sich die Worte bestimmter biblischer Verse ins Gedächtnis zu rufen, die sie im Laufe der Jahre in der Kirche gehört hatte, konnte sich aber an keine erinnern. Es ließ ihr keine Ruhe, weil sie wirklich beten wollte und das dringende Bedürfnis danach hatte.

Nur die Worte des Vaterunsers kamen ihr in den Sinn. Sie begann es immer und immer wieder zu rezitieren, fast wie ein Mantra, und es gab ihr ein Gefühl von großem Frieden, während sie der Ungewissheit dieser Nacht gegenüberstand.

Vater unser, im Himmel.

Geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe,

wie im Himmel, so auf Erden.

Unser täglich Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen.

„Handle, und Gott wird handeln“, hatte Jeanne d’Arc einmal gesagt. Trotz all der Zeiten, in denen sie zuvor gehandelt hatte und ihr Handeln zu nichts geführt hatte, dachte Mikovits, sie würde es noch einmal versuchen.

KAPITEL 1
Die HHV-6 Konferenz und die Kultur der Wissenschaft

In der Wissenschaft gibt es – vielleicht – mehr Eigeninteresse, ein bisschen mehr Paranoia, ein bisschen mehr Narzissmus, oder warum gehen wir sonst in die Wissenschaft? Sie glauben, Sie sind gescheit genug, um Probleme der Natur zu lösen. Viele Wissenschaftler neigen dazu, etwas für sich zu behalten. Wenn die andere Person keine Gelder erhält, werden Sie vielleicht welche bekommen. All so etwas ist im Spiel, aber das sind die schlimmsten Merkmale der Wissenschaft oder Wissenschaftler.

—Dr. Robert Gallo.1

Barcelona, Spanien – 1. Mai 2006

Judy Mikovits suchte einen Platz, an dem sie kaum noch in Hörweite des Einführungsreferats von Dr. Robert Gallo2 auf der 5. Internationalen Konferenz über HHV-6 und -7 (humane Herpesviren 6 und 7) war. Gallo sprach im prächtigen großen Konferenzsaal des Hilton Diagonal Mar Hotels in Barcelona, Spanien. Sie hoffte, sich in der diffusen Beleuchtung des Raumes und in den dezenten europäischen Akzenten verbergen zu können. Mikovits wusste aus früheren Begegnungen, dass sie sich von dem berühmten Wissenschaftler fernhalten wollte.

Gallo war dort, um über das humane Herpesvirus Nummer 6 zu sprechen, das 1986 in seinem Labor von Dr. Dharam Ablashi entdeckt worden war.3 Ablashi war auch der Vorsitzende des Programmausschusses dieser Konferenz, die sich dem HHV-6-Virus und seinem möglichen Zusammenhang mit ME/CFS und anderen Krankheiten widmete.

Viele Amerikaner betrachten Gallo immer noch als den Wissenschaftler, der das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) entdeckt hatte, der Ursache für das erworbene Immundefizienz-Syndrom (AIDS). Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass sich seit dem Bekanntwerden der AIDS-Epidemie Anfang der 80er-Jahre 70 Millionen Menschen mit dem HIV-Virus infiziert haben und etwa 30 Millionen an den Komplikationen von AIDS gestorben sind.4 Damit ist es die größte Pandemie der Neuzeit und sichert denjenigen, die an vorderster Front der HIV-Forschung stehen, einen Platz unter den Louis Pasteurs und Jonas Salks der Geschichte. Daher resultiert der erbitterte Kampf unter den Teilnehmern um die Anerkennung. Gallos Biografie am Institute of Human Virology der University of Maryland, die er gegründet hat und die er bis heute leitet, behauptet, er sei „bestens bekannt für seine Mitentdeckung des HIV“.5 Als das Nobelpreiskomitee 2008 den Nobelpreis für die Entdeckung des HIV an die französischen Wissenschaftler Luc Montagnier und Francoise Barré-Sinoussi verlieh, fehlte Gallos Name auffallend.

Zweifellos hat Gallo im Verlauf seiner wissenschaftlichen Karriere eine steigende Zahl von Auszeichnungen und Anerkennung erhalten, darunter die beneidenswerte Anzahl von 29 Ehrendoktortiteln, 1982 und 1986 den renommiertesten amerikanischen Wissenschaftspreis, den Lasker-Preis, der oft als amerikanischer Nobelpreis für medizinische Forschung bezeichnet wird. Gallo ist Autor von mehr als 1.200 wissenschaftlichen Publikationen und verfasste das Buch Virus Hunting – AIDS, Cancer & the Human Retrovirus: A Story of Scientific Discovery [Die Jagd nach dem Virus: Aids, Krebs und das menschliche Retrovirus – Die Geschichte einer Entdeckung]. Nach seiner eigenen Darstellung beschloss Gallo, sein Leben der Wissenschaft widmen, nachdem seine jüngere Schwester im Alter von sechs Jahren an Leukämie gestorben war.6 Seine Geschichte ist eine in Wissenschaft und Medizin archetypische Geschichte: Diejenigen, die persönlich von einer Krankheit betroffen sind, wollen sie oft besiegen oder heilen. Seine Berufswahl schien sein naturgegebenes Metier zu sein. Judy Mikovits traf eine ähnliche Entscheidung, in die Wissenschaft einzutreten, nachdem sie zusehen musste, wie ihr geliebter Großvater an Krebs starb. Später erlitt ihr Stiefvater das gleiche Schicksal.

Der Streit darüber, wer das HIV-Retrovirus tatsächlich entdeckte, ob es Gallo oder ein französisches Team unter der Leitung von Luc Montagnier war, wurde so hitzig, dass er 1987 ein Eingreifen von US-Präsident Ronald Reagan und dem französischen Präsidenten Jacques Chirac erforderte.7 Der Waffenstillstand wurde geschlossen, als Gallo zugab, dass er wahrscheinlich das französische HIV-Isolat benutzte, um den Test zu entwickeln, und dies sowohl Gallo als auch Montagnier ermöglichte, als „Mitentdecker“ des Retrovirus das Verdienst zu beanspruchen. Es war wahrscheinlich das erste Mal in der Geschichte, dass die Anerkennung für eine wissenschaftliche Entdeckung von zwei Staatsoberhäuptern beschlossen wurde.

Der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Journalist John Crewdson von der Chicago Tribune war an der Spitze der frühzeitigen Kritiker Gallos. Über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg untersuchte Crewdson in mehreren Artikeln viele Behauptungen Gallos über seine Rolle bei der Entdeckung des HIV-Retrovirus. Crewdsons investigative Berichterstattung gipfelte 1988 in einer Sonderbeilage zur Tribune in Buchstärke mit 55.000 Wörtern unter dem Titel „The Great AIDS Quest“.8 In einem späteren Artikel von 1992 fasste Douglas Kneelands, allgemein bekannter Herausgeber der Chicago Tribune, Crewdsons Schlussfolgerungen und die ungelöste Kontroverse zusammen:9 Nachdem er hervorhob, dass Gallos Labor das AIDS-Virus entgegen der langjährigen Behauptungen nicht entdeckt hatte, stellte er fest, dass sie aber von dem daraus resultierenden Test profitiert hatten.

Dadurch haben die Vereinigten Staaten im Laufe der Jahre 20 Millionen US-Dollar an Patentgebühren aus einem AIDS-Test kassiert, indem sie ein Virus einsetzten, von dem Gallo jetzt zugibt, dass es das französische Virus war. [Hervorhebung des Autors]

Kneeland beendete seinen ausführlichen Leitartikel, indem er Überlegungen darüber anstellte, was diese Untersuchung der im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Wissenschaft über die Fallstricke von Geld, Ehrgeiz und Streitigkeiten enthüllte.

Dieser Fall war nicht deshalb von bleibender Bedeutung, weil er typisch gewesen wäre. Das war er nicht. Aber als schlimmst mögliches Beispiel lehrt er uns etwas über den tückischen Treibsand, den Gier und Ehrgeiz selbst professionellen Wahrheitserzählern in der wissenschaftlichen Forschungsgemeinschaft in den Weg legen. Und er zeigt uns nur zu gut, was geschieht, wenn Politiker, Bürokraten, Anwälte und Marketingfachleute der Wissenschaft zu nahe kommen.

Mikovits entdeckte, dass vieles von dieser Kritik ebenso auf ihre Forschung zum XMRV-Retrovirus und zu ME/CFS zutraf. Sie erlebte ihre eigene Version von „verräterischem Treibsand“, der sie in Verfälschungen und juristische Auseinandersetzungen verwickeln würde. Aber sie war Robert Gallo in keiner Weise ähnlich.

Sie hatte den illustren Wissenschaftler zu Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere aus nächster Nähe erlebt und wollte es ihm nicht nachtun.

* * *

Drei Jahre Untersuchung durch das Federal Office of Research Integrity [eine Bundesbehörde zur Überwachung der Integrität speziell der medizinischen Forschung] gipfelten in einem am 30. Dezember 1992 veröffentlichten Bericht10, in dem festgestellt wurde, dass Gallo „wissenschaftliches Fehlverhalten“ verübt habe. Gallo bestritt die Ergebnisse energisch und lautstark. Am 11. Juli 1994 erklärte das Department of Health and Human Services jedoch:

„… ein Virus, das vom Institut Pasteur zur Verfügung gestellt worden war, wurde von Wissenschaftlern von den National Institutes of Health verwendet, die 1984 das amerikanische HIV-Testkit erfanden“, und versprach den Franzosen 6 Millionen Dollar als Entschädigung.11

Kurz nach diesem Bekenntnis verließ Gallo die NIH und nahm eine Stelle an der University of Maryland an. Der Reporter der Chicago Tribune, John Crewdson, verwandelte später die Gallo verurteilenden Informationen in ein 670-seitiges Buch mit dem Titel Science Fictions: A Scientific Mystery, a Massive Cover-up, and the Dark Legacy of Robert Gallo, das im März 2002 veröffentlicht werden würde.12

Es war jedoch nicht so, dass Gallo nichts zum Bereich der retroviralen Forschung beigetragen oder nie riskante Positionen eingenommen hätte. Er hatte die Wissenschaft weiter vorangetrieben und gezeigt, dass das HIV-Virus AIDS verursachte. Das gelang ihm mit einer Technik, die Frank Ruscetti in Gallos Labor für die Züchtung von T-Zellen entwickelt hatte – einer Zelle der Immunantwort, von der man herausfand, dass sie von dem Virus infiziert wurde. Gallo gehörte auch zu den wenigen, die entgegen der allgemeinen Überzeugung annahmen, dass ein Retrovirus Krebs beim Menschen hervorrufen konnte, und das zu einer Zeit, in der es fast lächerlich gewesen war, so etwas zu glauben. Krebs war noch gefürchteter als AIDS, und er schien bereit, sich einer furchterregenden Herausforderung zu stellen.

Auch die Wissenschaftler, die in den Disput der Präsidenten über HIV verwickelt waren, hatten offenbar Frieden miteinander geschlossen. Als Montagnier 2008 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, schrieb er eine wohlwollende Erklärung, dass Gallo den Preis gleichermaßen verdient habe.13 Die beiden arbeiteten später bei mehreren Artikeln über die Wissenschaftsgeschichte der AIDS-Epidemie zusammen.

Maria Masucci, Mitglied des Nobelkomitees, hatte eine andere Sichtweise, als sie der New York Times kurz nach der Verleihung der Auszeichnung sagte: „Es gab keinen Zweifel daran, wer die grundlegenden Entdeckungen gemacht hat.“14

* * *

Der vorübergehende Waffenstillstand zwischen den beiden Giganten der Retrovirologie ging bald genug in die Brüche. Paradoxerweise entzweiten sie sich nicht über HIV/AIDS, sondern über Autismus. Trotz der Zusammenarbeit bei der größten Pandemie der modernen Geschichte drehte sich der Wind zwischen Gallo und Montagnier dramatisch, als es um diese andere Außenseiter-Epidemie ging.

Am 4. Juni 2012 schrieb Gallo einen Brief an das Chantal Biya International Reference Center, ein AIDS-Forschungszentrum im zentralafrikanischen Staat Kamerun, in dem er forderte, Montagnier aus seiner Teilzeitstelle als wissenschaftlicher Direktor zu entlassen. Diesen Bemühungen Gallos schlossen sich einige andere an, die – ebenso wie Montagnier – Nobelpreisträger waren.

Ein Artikel in Nature vom 19. Juni 2012 berichtete über Gallos Bemühungen und Montagniers Antwort15:

Montagnier verurteilt, was er als „ad hominem Angriffe“ und „glatte Lügen“ bezeichnet, und sagt, dass es eine „schändliche Kampagne“ gegen ihn und seine Gruppe gebe. Er sagt, die Geschichte sei voller Pioniere, deren Ideen von einer konservativen Forschungsgemeinschaft zunächst frostig aufgenommen wurden. „Ich glaube, das ist es, was auch mir passiert, und es ist sehr traurig, dass Nobelpreisträger einen anderen Preisträger angreifen“, sagt er.

Der Nature-Artikel ging weiter auf den „letzten Strohhalm“ ein, der die Bemühungen rechtfertigte, Montagnier zu entlassen – seinen Auftritt bei Autism One, einer Konferenz von Eltern autistischer Kinder und Forschern auf diesem Gebiet. Montagniers Theorie war, dass abnorme Bakterien zumindest einige der Symptome des Autismus verursachten und dass eine langfristige Behandlung mit Antibiotika hilfreich sein könnte. Aber sein größtes Verbrechen schien darin zu bestehen, den Eltern autistischer Kinder zuzuhören, die beschrieben, was mit ihren Kindern passiert war.

Er sagt, er habe nie behauptet, dass Impfungen Autismus verursachen könnten. „Viele Eltern haben einen zeitlichen Zusammenhang zwischen einer Impfung und dem Auftreten von Symptomen des Autismus beobachtet, was keine Kausalität bedeutet“, sagt er. „Vermutlich könnte eine Impfung, insbesondere gegen mehrere Antigene, bei einigen Kindern ein Auslöser einer bereits bestehenden pathologischen Situation sein.“16

Eltern von Kindern mit Autismus waren verständlicherweise frustriert, dass die wissenschaftliche Gemeinde ihre Beobachtung ignorierte, dass sich die Symptome ihrer Kinder verschlimmerten oder dass kurz nach der Impfung des Kindes gesundheitliche Probleme auftraten.

Wie Montagnier mochte Mikovits solche willkürlichen sozialen Spaltungen nicht: Sie mochte es nicht, gesagt zu bekommen, wen sie meiden sollte. Sie hatte den Eindruck, dass Eltern meist ehrlich und genau berichteten, was mit ihren eigenen Kindern geschah. Wenn sie mit den Eltern autistischer Kinder sprechen wollte, dann tat sie das. Als jemand, der die Seiten wechselte, war sie in der Welt derer, die im Rampenlicht stehen wollten, nicht immer beliebt.

Sie erlebte einen der stärksten Nervenkitzel ihres Berufslebens, als sie unmittelbar nach Montagnier eine Rede hielt und der Nobelpreisträger die Diskussion auf ihre Präsentation und deren Konsequenzen richtete. In einem privaten Gespräch im Anschluss an die Präsentation kommentierte Montagnier die XMRV-Kontroverse, verglich sie mit seinem eigenen Kampf mit Gallo über HIV und sagte ihr: „Lassen Sie sich von den Kritikern nicht entmutigen.“

Dr. Frank Ruscetti, Mikovits’ Mentor und langjähriger Mitarbeiter, war geneigt, Gallo weniger wohlwollend zu betrachten, als Montagnier das an dem Morgen, an dem er den Nobelpreis erhielt, getan hatte. Ruscetti hatte Robert Gallo aus nächster Nähe erlebt, als er von 1975 bis 1982 in seinem Labor arbeitete. Dr. Kendall Smith, ein Professor für Medizin und Immunologie an der Cornell University, erinnerte sich an das Treffen mit Ruscetti in diesen frühen Jahren in Gallos Labor, als er an Interleukin-2 (IL-2) arbeitete, einem Proteinmolekül, das das Immunsystem des Körpers reguliert, und sagte: „Ich beschreibe ihn immer als eine Mischung zwischen Leonardo Da Vinci und Rocky Marciano, weil er wahrlich ein reiner Intellektueller ist, wahrscheinlich der belesenste Wissenschaftler, den ich kenne, und weil er sich nie in verbaler Zurückhaltung übt.“17

Noch bevor er sich ihr in späteren Kämpfen anschloss, sagte Mikovits, dass Ruscetti einer der brillantesten, vielseitigsten Männer war, die sie je getroffen hatte. Sie empfand ihn als ehrlich und unbestechlich. Diese Qualitäten und Mikovits’ Wertschätzung für diese Eigenschaften würden die Grundlage für eine mehr als dreißigjährige Zusammenarbeit und Freundschaft bilden. Mikovits erklärte, dass niemand auf der Erde sie so gut kannte wie Frank Ruscetti, da er die Fähigkeit hatte, jemandem tief in die Seele zu schauen, eine Fähigkeit, die man in einem aufrichtig gelebten Leben erwirbt.18

Smiths liebevolle Erinnerungen an Frank Ruscetti stehen in krassem Gegensatz zu dem, was er dem Reporter Seth Roberts vom Spy-Magazin 1990 über Robert Gallos Reaktion auf seine Arbeit erzählte:

Als Kendall Smith 1988 in der renommierten Fachzeitschrift Science einen Artikel veröffentlichte, in dem die Entdeckung von IL-2 im Einzelnen beschrieben wurde, war Gallo wütend und rief Smith von einer AIDS-Konferenz in Stockholm aus an. „Kendall, ich habe es nicht gelesen, aber die Leute sagen mir, dass du dich nicht nett über mich geäußert hast.“ (Es ist eine eigentümliche Angewohnheit von Gallo zu behaupten, er habe nicht gelesen oder gesehen oder gehört, was er lautstark kritisiert.)19

Der Artikel im Spy-Magazin enthielt auch einen Bericht über die Entdeckung des HTLV-1, des ersten bekannten menschlichen Retrovirus’. Dieser Bericht warf ein Schlaglicht auf Gallos Reaktion und Frank Ruscettis Antwort auf Gallos Versuch, diese Entdeckung sich selbst als Verdienst anzurechnen.

1978 kam Bernie Poiesz für ein Postdoc-Stipendium ins Gallo-Labor und wurde Ruscettis Anleitung unterstellt. Jahrelang hatte Gallos Labor nach Retroviren gesucht, die myeloische Zellen infizierten, da Retroviren bekanntermaßen Krebs bei Tieren verursachten. Die Forscher fragten sich, ob sie dasselbe beim Menschen untersuchen könnten.20 Mit Ruscettis Hilfe fand Poiesz innerhalb weniger Monate ein Retrovirus, und die beiden planten, einen Artikel über die Entdeckung zu veröffentlichen. Dann rief Gallo Ruscetti in sein Büro und schlug vor, Poiesz als Erstautor herauszunehmen. Ruscetti lehnte das ab. Gallo sagte ihm, es sei unwahrscheinlich, dass er mit einer solchen Einstellung im Leben weit kommen würde.

Poiesz vergleicht die Entdeckung von HTLV-1 mit dem Gewinn einer NBA-Meisterschaft durch die Celtics. Poiesz war wie Larry Bird; Ruscetti war wie der Trainer; und Gallo war wie der Geschäftsführer. Und dennoch erhielt Gallo, der jahrelang keinerlei Arbeiten im Labor gemacht hatte, in dem darauffolgenden Jahrzehnt fast die ganze Anerkennung.

Obwohl Mikovits nie direkt unter Gallo arbeiten würde, bekam sie sich bei ihrem allerersten Job in der Forschung mit Gallo und Funktionären der NIH in die Haare, und genauso wie Ruscetti gab sie nicht nach.

* * *

„Es ist sehr schwierig, in der Wissenschaft gute Arbeit zu leisten“, sagte Frank Ruscetti im Jahr 2013, als er über seine Forschungskarriere von mehr als vierzig Jahren und seine Erfahrung als hochrangiger Forscher und Leiter der Leukocyte Biology Section im Labor für experimentelle Immunologie am National Cancer Institute nachdachte.21 „Und es gibt zwei Möglichkeiten, voranzukommen. Sie können im Labor kämpfen, wie ein Tier schuften und einige Publikationen erreichen. Das Problem mit diesem Vorgehen ist, dass es ein Metier ist, das auf die Integrität des Einzelnen angewiesen ist, der anonym ist. Anonym im Hinblick auf die Finanzierung, anonym bei der Überprüfung von Manuskripten, und diese Anonymität verlässt sich auf die Integrität des Einzelnen.“22

Nach Ruscettis Meinung ist Gallos Art des rücksichtslosen Gerangels in der Forschung weit verbreitet, da viele Wissenschaftler von wissenschaftlicher Berühmtheit berauscht werden und ihre Integrität schnell über Bord werfen. Wie in jedem Bereich kann es in der Wissenschaft umfangreiche soziale Netzwerkarbeit und Günstlingswirtschaft geben. „Dann gibt es eine Gruppe von Wissenschaftlern, die glauben, dass es nicht wichtig ist, Erster zu sein, sondern Zweiter und Dritter zu sein und den ersten Rezensionsartikel zu schreiben“, sagte Ruscetti. Diese Wissenschaftler werden dann „politische Verbindungen nutzen, um die Welt davon zu überzeugen, dass sie großartig sind. Und leider ist unser Gebiet voll von Leuten wie diesen. Und sie sind tendenziell die Berühmteren.“23

Ruscetti erinnerte sich an einen Vorfall in den frühen 1980er-Jahren, als er zwei führende Wissenschaftler besuchte, um einige HIV-Proben für die Forschung zu bekommen. Die Wissenschaftler waren gerne bereit, die Proben weiterzugeben, aber einer von ihnen redete unablässig davon, wie sehr er hoffte, dass er mit dieser Forschung einmal in The Tonight Show mit Johnny Carson landen würde. Aus Ruscettis Sicht schien es eine Gier zu geben, im Rampenlicht zu stehen, eine fixe Idee, eine Berühmtheit zu sein, wo die Wissenschaft doch in Wirklichkeit ein gemeinschaftlicher Prozess sein sollte. Nach Ruscettis Ansicht bedrohte dieser Hunger nach persönlichem Ruhm und Anerkennung die Reinheit der Wissenschaft.24

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26 mayıs 2021
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