Kitabı oku: «Ansichten eines Hausarztes», sayfa 3
Die drei Sorten der Angst
Unterschiedliche, jedoch jeweils massive Ängste der Menschen prallen im Verlauf der Geschehnisse oft unversöhnlich aufeinander und verhindern das gegenseitige Verständnis. Angst mobilisiert Stresshormone, welche eigentlich die Funktion haben, blitzartiges Handeln in Situationen zu ermöglichen, in denen der Verstand allein zu langsam reagiert. Wird die Angst allerdings zum Dauerzustand, entfalten die Hormone negative Wirkungen auf die Kreislauf- und Immunsysteme. Im Widerstreit zwischen Emotionen und Ratio unterliegt dabei leicht der Verstand. Angstkranke kennen dies: Selbst beruhigende Tatsachen lösen den Zustand nicht wirklich auf. Denn Angst glaubt nur sich selbst.
Unter der Angst vor dem Virus und seiner potenziell todbringenden Wirkung litten am stärksten diejenigen, die entweder selbst befürchten müssen, davon betroffen zu sein, oder Angehörige hatten, die besonders gefährdet waren. Sie empfanden eine Lockerung im „Social Distancing“ als bedrohlich und unsozial und ein diesbezüglich legeres Verhalten oft als persönlichen Angriff. Sorgen bereiteten auch vielen die Berichte über gefährliche Virusmutationen und anhaltende Post-COVID-Beschwerden. Infektionsgefahren lösen nicht selten geradezu archaische Ängste aus, wie ein unsichtbarer Feind, vor dem man sich schwer schützen kann. Das gilt besonders in einer Umwelt, die sich gegen alle Unwägbarkeiten abzusichern gewohnt ist.
Die Folgen des Lockdowns schufen jedoch eine weitere Gruppe. Diese befürchten den sozialen Abstieg oder den Verlust einer identitätsstiftenden Tätigkeit. Sie steht bei ganz unterschiedlichen Gruppen im Vordergrund. Mittelständische Firmen, selbstständige Unternehmer, Soloselbstständige und Kunstschaffende, aber auch Kinder, Schüler, Auszubildende und Studenten. Bei vielen von ihnen macht sich eher eine resigniert-deprimierte Stimmung breit.
Eine dritte Sorte Angst betrifft die möglichen politischen Folgewirkungen des eingeschlagenen Kurses in der Pandemiebewältigung. Die Angst vor der Transformation des gesellschaftlichen Lebens als Folge von Dauer-Lockdowns, welche anhaltend zu allgemein größerer sozialer Distanz führen könnte. Während der Versandhandel und die global agierenden Riesen der Digitaltechnologie und der Pharmaindustrie begünstigt wären, sehen Menschen mit dieser Angst das bunte gesellschaftliche Leben, die persönlichen Freiheiten und die Selbstbestimmung gefährdet. Sie fürchten, die Verschuldung durch Wirtschaftsausfälle und staatliche Kompensationsleistungen würde über lange Zeit die sozialen Spielräume einengen. Auch eine weitere Umverteilung des Vermögens zulasten der Ärmeren über eine Inflation wird für möglich gehalten. Große Sorgen bestehen ebenfalls dahingehend, dass die Kontrolle der Maßnahmen Datenaggregation und Künstliche Intelligenz in falsche Hände spielen kann. Letztlich könnten so die demokratischen Grundfesten ausgehöhlt werden und längerfristig zu Verhältnissen analog der chinesischen Kontrolle des Soziallebens führen. Hinzu kam die Angst vor einem Verlust der Selbstbestimmung über die eigene Gesundheit, wenn eine direkte oder indirekte Impfverpflichtung angesprochen wurde. Wer diese Entwicklungen fürchtet, sorgt sich nicht nur um die eigene Zukunft, sondern oft auch um die seiner Nachkommen. Manche vermuten global wirksame Allianzen hinter diesen Veränderungen.
Alle drei Sorten von Ängsten können in einer Person auch gemeinsam auftreten. Meist überwiegt jedoch ein Anteil, wobei es schicht- und altersbedingte Unterschiede gibt. Je älter und finanziell gesicherter jemand ist, desto mehr neigt er gewöhnlich zur ersten Angst-Gruppe, die vor allem den Virus selbst fürchtet. Je jünger oder finanziell und sozial ungesicherter jemand ist, desto mehr schrecken ihn die anderen beiden Angstgründe.
Positionskämpfe
Im Dezember 2020 überschlugen sich die Warnungen geradezu. Ein begrenzter Lockdown wurde als letzter Kraftakt der Einschränkung vor den ersehnten Impfungen kommuniziert. Niemand hätte sich zu der Zeit vorstellen können, dass das eingefrorene Leben noch ein halbes Jahr länger dauern werde. Die schnelle Rettung durch die Impfungen erwies sich bald als Illusion. Nun folgten neue Angst-Szenarien mit Blick auf die Mutationen, die nicht nur ansteckender, sondern angeblich noch viel schlimmer seien und nun vermehrt Jüngere träfen. In der Medienberichterstattung schälten sich zwei konträre Positionen heraus. Der Vorwurf der Verleugnung oder Verharmlosung der Virusgefahr stand dem der Dramatisierung und der Panikmache gegenüber. Beide Seiten bezogen sich auf unterschiedliche Experten.
Die Position der Regierungslinie ist schon angeklungen: Die Corona-Pandemie ist hoch gesundheits- und lebensgefährdend. Die Infektionsübertragung muss mit allen Mitteln auf niedrigstem Niveau gehalten werden, bis Impfungen in ausreichendem Maße vorhanden sind. Nur mit ihrer Hilfe könne eine „Herdenimmunität“, also eine weitreichende Immunität in der Bevölkerung erreicht werden. Das Virus habe dann keine Chance mehr, sich zu verbreiten, und daraufhin könne das normale Leben weitergeführt werden. Bis dieses erreicht sei, müssten die hohen Kollateralschäden in der Wirtschaft und im Sozialleben sowie die Einschränkungen der Grundrechte in Kauf genommen werden. Als Berater für die wissenschaftliche Basis dieser Auffassung fungierten im Wesentlichen zwei Personen. An erster Stelle Professor Christian Drosten, Lehrstuhlinhaber und Institutsdirektor an der Charité in Berlin und zugleich Direktor des Fachbereichs Virologie von Labor Berlin, des größten Krankenhauslabors Europas. Der vom NDR produzierte Podcast Coronavirus-Update mit Professor Drosten startete bereits am 26. Februar 2020 und geht beim Verfassen dieses Buches in seine 95. Folge. Mittlerweile wechselt der Gesprächspartner der Redakteurinnen zweiwöchentlich zwischen Christian Drosten und Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt, ab. Der zweite wichtige Protagonist in der Fürsprache der Regierungsposition ist Karl Lauterbach, Gesundheitsökonom, seit 2005 in der SPD und seit 1998 Direktor des von ihm initiierten Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie (IGKE) der medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. Unterstützt wurde die mediale Präsenz der beiden durch den Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, Prof. Lothar Wieler.
Die zweite Position steht der ersten nahezu diametral entgegen. Sie geht davon aus, dass das aktuelle Corona-Virus kaum gefährlicher als das Grippevirus sei. Durch frühere Kontakte mit vorangegangenen Corona-Varianten gäbe es in der Bevölkerung bereits eine Teilimmunität, welche die Krankheitsgefahr verringern würde. Gefährdet wären nur die Alten und Immungeschwächten, die zu schützen seien. Ansonsten brauche man weder Maskenschutz noch Lockdowns und solle dem Infektionsgeschehen freien Lauf lassen. So entstünde in kurzer Zeit eine natürlich erworbene Herdenimmunität, die im zweiten Schritt eine nennenswerte Virusübertragbarkeit verhindere. Diese Position vertreten u. a. Prof. Dr. Sucharit Bhakdi, Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie, der bis zu seinem Ruhestand Professor an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Leiter des dortigen Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene war. Als zweiter Befürworter dieser Ansicht rückte schon früh der deutsche Mediziner und SPD-Politiker Wolfgang Wodarg in die öffentliche Diskussion. Wodarg war viele Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates für Fragen der Sicherheit, Medizin und Gesundheit. Außerdem war er in den Jahren 2009 und 2010 Initiator der Untersuchungen des Europarates zur Rolle der Impfstoff-Hersteller und der WHO während der Pandemie H1N1, der sogenannten Schweinegrippe.
Wodarg und Bhakdi stießen wegen ihrer Äußerungen zur COVID-19-Pandemie in Deutschland auf heftige Kritik, vor allem in den Mainstream-Medien. Auf die Position der beiden bezogen sich in der Folge die frühen Kritiker der Regierungslinie.
Die Hintergründe der streitenden Akteure
Ein wichtiger Hintergrund des Positionsstreits lässt sich gut an den Personen Lauterbach und Wodarg erläutern. Beide Politiker waren oder sind in wichtigen Gremien für Gesundheitsthemen der SPD tätig oder tätig gewesen. Beide werden eher dem linken Spektrum zugerechnet.
Lauterbach hatte Gesundheitsökonomie an der Harvard School of Public Health studiert und wurde Privatdozent an der Universitätsklinik Köln. Dort gründete er das bereits erwähnte Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie, dessen Direktor er wurde. Er verfügt jedoch weder über eine klassische Ausbildung als Epidemiologe, noch hatte er bisher infektionsepidemiologische Erfahrungen sammeln können. Seine Publikationen betreffen im Wesentlichen gesundheitsökonomische Fragen. 2005 wurde er Mitglied des Bundestages und war bis Herbst 2019 stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion.
Wolfgang Wodarg studierte Medizin und Sozialpädagogik und besitzt die Facharztqualifikationen für Innere Krankheiten – Pneumologie, für Hygiene – Umweltmedizin und für Öffentliches Gesundheitswesen – Sozialmedizin. Er arbeitete als Amtsarzt und in der Umweltmedizin. 1991 erhielt er ein Stipendium für Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, USA. Politisch positionierte er sich in der eigenen Partei gegen das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) der Gesundheitsministerin seiner Partei SPD, Ulla Schmidt.
Beim letzten Punkt deuten sich entscheidende Unterschiede in den Grundhaltungen von Lauterbach und Wodarg an. Wodarg hat eine äußerst kritische Haltung den Pharma-Giganten gegenüber. Die von ihm initiierten Untersuchungen des Europarates zur Rolle der Impfstoff-Hersteller und der WHO während der Schweinegrippe-Pandemie 2009 und 2010 konnten belegen, wie durch Absatzgarantien von Impfstoffen und unwirksamen Grippemedikamenten ungerechtfertigt hohe Gewinne der Industrie eingefahren wurden. Seit 2011 war er Mitglied des Vorstandes von Transparency International Deutschland und zog sich 2020 im Dissens über die Corona-Pandemie aus dieser Funktion zurück. Zur Unabhängigkeit der Impfkommission STIKO beim Bundesgesundheitsministerium kritisierte Wodarg in einem Interview beispielsweise Folgendes:
„Ich glaube, das ist nicht unabhängig genug, und wir haben sowieso relativ wenig unabhängige Forschung einerseits, weil das industriefinanzierte Forschung ist. In der gesamten Pharmabranche wird ja überwiegend absatzorientiert geforscht und nicht bedarfsgerecht geforscht, sonst gäbe es zum Beispiel viel mehr Mittel gegen die wichtige Tuberkulose, da ist ja seit 30 Jahren nichts Neues geschaffen worden, da kann man kein Geld verdienen. Aber Viagra ist erfunden worden, der Haarausfall wird als schwierige Krankheit jetzt pharmakologisch näher betrachtet, da kann man nämlich viel verdienen, und ähnliche Dinge werden erfunden. Es werden Krankheiten erfunden, und die Schweinegrippe ist auch so eine Konstruktion, die zu mehr Umsatz führen soll.“ [8]
Karl Lauterbach hingegen betrachtet die extremen Kostensteigerungen durch den innovativen Pharmabereich, die jährlich vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) und unabhängigen Experten wie dem Vorsitzenden der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Prof. W.-D. Ludwig, scharf kritisiert werden, als unproblematisch. Dazu äußerte er sich in einem Interview so:
„Das Bruttoinlandsprodukt wird mit den Kosten nicht Schritt halten. Deswegen werden wir anteilig immer mehr für Gesundheit ausgeben. Die Finanzierung des Gesundheitssystems wird uns von allen Sozialsystemen am meisten fordern. Dagegen verblassen die Herausforderungen in der Renten- und Arbeitslosenversicherung. […] Wir werden immer für jeden alles möglich machen. Und das können wir – wenn wir die höheren Lasten auf breitere Schultern umverteilen. Unser Ziel muss sein, unabhängig vom Einkommen alles medizinisch Notwendige aus Solidarmitteln zu bezahlen. Wir werden im Gesundheitssystem nicht rationieren – selbst da nicht, wo es andere Länder schon tun.“ [9]
Lauterbach vertritt die Auffassung, die Vermeidung von gesundheitlich schädlichem Lebensstil und die Verbreiterung der Einnahmebasis durch eine Bürgerversicherung könnten alle Kostensteigerungen auffangen und das System davor schützen, finanziell überfordert zu werden.
Auf den Punkt gebracht: Wodarg will das Gebaren der Pharmagiganten begrenzen, weil es das Gesundheitssystem zu überfordern und auszubeuten droht. Damit teilt er die Bedenken, welche u. a. vom Vorsitzenden der Deutschen Arzneimittelkommission, Prof. W.-D. Ludwig, geäußert und durch die alljährlichen Berichte des Wissenschaftlichen Instituts der AOK über den Arzneimittelmarkt bestätigt werden. Aus Lauterbachs Sicht können und müssen alle Kostensteigerungen einer Innovationsdynamik abgefangen werden. Er vertraut ganz auf den Fortschritt durch die innovativen Pharmakonzerne und sieht dabei keine Finanzierungsprobleme. Aus dieser Perspektive wird sein uneingeschränktes Eintreten für die neuen gentechnologischen Impfstofftechnologien noch verständlicher.
Zwischen den Polen: ungehörte Wissenschaftler
Zwischen den beiden genannten Polen gab es durchaus Gruppen von glaubwürdigen und gut fundiert argumentierenden Wissenschaftlern und Experten, die einen Weg abseits der Spaltung suchten. Exemplarisch dafür standen während des gesamten Verlaufs der Pandemie zwei Expertengruppen, die vergeblich ihre Unterstützung der Politik angeboten hatten. Die erste ist die um Prof. Dr. med. Matthias Schrappe. Der Internist war Ärztlicher Direktor des Marburger Universitätsklinikums, seit 2005 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und bis 2011 dessen stellvertretender Vorsitzender. Er hatte sich laut Wikipedia besonders mit den Themen Qualitätsmanagement, Evidence-based Medicine, Patientensicherheit und Risikomanagement beschäftigt. Seit den Sommermonaten 2020 kommentierte die Expertengruppe in Positionspapieren die Pandemie aufgrund ihrer Untersuchungen und unterbreitete konstruktive Vorschläge. Zu ihr gehörten Persönlichkeiten der wissenschaftlichen Crème de la Crème der deutschen Gesundheitspolitik:
Hedwig François-Kettner, Pflege-Managerin und Beraterin, ehemalige Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit in Berlin.
Dr. med. Matthias Gruhl, Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen und für Allgemeinmedizin, Staatsrat a. D. in Bremen.
Prof. Dr. jur. Dieter Hart, Institut für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht an der Universität Bremen.
Franz Knieps, Jurist und Vorstand des Krankenkassenverbands, Mitarbeiter im Gesundheitsministerium unter Ulla Schmidt und früherer Berater von Angela Merkel.
Prof. Dr. rer. pol. Philip Manow, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik an der Universität Bremen.
Prof. Dr. phil. Holger Pfaff, Zentrum für Versorgungsforschung an der Universität Köln und ehemaliger Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds.
Prof. Dr. med. Klaus Püschel, Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Prof. Dr. rer. nat. Gerd Glaeske, SOCIUM Public Health an der Universität Bremen und ehemaliges Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit.
In ihrem 7. Positionspapier Ende Dezember 2020 kritisieren die Autoren dieser Gruppe die bisherige Pandemiepolitik. Da das Skript von Wissenschaftlern und Experten verschiedener medizinischer und gesellschaftlicher Bereiche verfasst wurde, nehmen die zitierten Passagen einen umfangreichen Raum ein, den zu kürzen mir schwerfiel:
„SARS-CoV-2/COVID-Epidemie hat sich, zumindest in Deutschland, zu einer handfesten Krise ausgewachsen, die Konsequenzen gravierender politischer Fehlentscheidungen werden offenbar. Obwohl von Anfang an klar erkennbar war, dass es sich um eine ‚Epidemie der Alten‘ handelt und man alle Zeit gehabt hätte, sich mit gut zugeschnittenen Präventionsprogrammen auf Herbst und Winter vorzubereiten (und die Intensivkapazitäten zu sichern), ist nichts geschehen – außer einer sich perpetuierenden Aneinanderreihung von Lockdowns.
Es kommt hinzu, dass die bislang von der politischen Führung präferierte allgemeine Präventionsstrategie nicht zu einem Erfolg geführt hat: Die Lockdown-Politik ist gerade für die vulnerablen Gruppen wirkungslos.
Die Defizite in der spezifischen Prävention machten sich bislang vor allem im Bereich der Pflegeheime bemerkbar. Am 5. Januar 2021 waren allein in den Pflegeheimen kumulativ 10.149 COVID-19-assoziierte Todesfälle aufgetreten, entsprechend 28 % aller COVID-19-Todesfälle in Deutschland (n = 36.537 Todesfälle).
[…]
Es besteht die paradoxe Situation, dass eine mit hohen gesellschaftlichen Kosten verbundene Lockdown-Politik durchgesetzt wird, ohne andere Optionen in Betracht zu ziehen und über einen dringend notwendigen Strategiewechsel überhaupt nur nachzudenken, obwohl die am stärksten Betroffenen, die höheren Altersgruppen und Pflegeheimbewohner/Innen, durch einen Lockdown nicht geschützt werden.“ [10]
Die entscheidenden Aussagen dieser Experten und Wissenschaftler lauten:
Die Verantwortlichkeit für die Sterblichkeitsrate der über 70-Jährigen von 31.402 COVID-19-bedingten Toten Ende 2020 bei einer Gesamtsterblichkeit von 35.452 Personen war nicht allein in der Biologie eines Erregers begründet, sondern vor allem in der Verantwortung der politisch Handelnden.
Demnach sind in ganz Deutschland nur ca. 2.000 Menschen in den Altersgruppen 0 bis 70 Jahre an COVID-19 gestorben. Die Sterblichkeit für die unter 40-Jährigen lag nach den Berechnungen zwischen 0,002 und 0,09 Prozent. Einschränkend heißt es im Positionspapier:
„Bevor wieder Einzelfallberichte vorgetragen werden, die das Gegenteil beweisen sollen: natürlich gibt es auch Todesfälle und schwere Krankheitsverläufe unter den Jüngeren, aber in der Abwägung in einer epidemischen Situation, in der guter Rat extrem teuer ist, muss es Grundlage des Handelns sein, dort anzusetzen, wo das Problem – mit Abstand! – am größten ist.“ [11]
Aus dieser Analyse heraus betrachtet die Autorengruppe die Impfung in erster Linie als Präventionsmaßnahme für die gefährdete Altersgruppe. Ihnen geht es gerade um den Erfolg der Impfung:
„Auch eine wirksame Impfung muss im Alltag einer Impfkampagne bestehen und umgesetzt werden. Gerade die erste Phase der Impfkampagne, nämlich die anspruchsvolle Organisation der Impfung von Hochaltrigen, wird prägend für den weiteren Verlauf der Kampagne sein. Deshalb sind Sorgfalt, gute Information und genügend Zeit anfangs wichtiger als hohe oder gar falsche zeitliche Erwartung.
[…]
Eine bevölkerungsprotektive Wirkung (Gemeinschaftsschutz) ist bis heute nicht gesichert und sollte von daher nicht als Motivation für die Impfung öffentlich betont werden. Es geht insofern um die Schutzwirkung des Einzelnen, (noch) nicht um den der Gesellschaft.“ [12]
Die Infektionsinzidenz hat nach den genannten Analysen nur wenig mit der Todesrate zu tun. Die Experten rechnen überschlägig:
„Eine überschlägige Skizzierung erbringt den klaren Befund, dass die Impfung der Hochrisikogruppen kurz-mittelfristig zu einer Reduzierung der Mortalität und Morbidität, aber nicht der Melderaten führen wird: bei Annahme einer hohen Wirksamkeit der Impfung auf die Rate der Infektionen (die Zulassungsstudien beziehen sich nur auf die symptomatischen Verläufe bei bereits Infizierten) werden in der ersten Märzwoche nur rund 20.000 von insgesamt 150.000 gemeldeten Infektionen (13 %), aber in den Alterskohorten über 80 Jahre 3.200 von 4.700 Sterbefällen (68 %) verhindert. Dies stellt ein weiteres Argument dafür dar, die Melderate und die daraus abgeleiteten Grenzwerte in den Begründungsszenarien der politischen Führung zu relativieren. […]
In Zeiten komplexer Gefahren, starker Verunsicherungen und hoher Dynamik – wie sie durch die Corona-Pandemie gegeben ist – sind Menschen versucht, nach einfachen und schnellen Lösungen zu greifen. Sie vermeiden komplizierte und langwierige Diskussionen über die richtigen Ziele und Wege. Statt auf den Wettstreit der Argumente und Problemlösungen zu setzen, werden zurzeit, oft unbewusst, archaische Mechanismen aktiviert. Es kommt zur Gruppenbildung und zum Gruppendenken. Dadurch besteht die Gefahr, dass relativ geschlossene Gemeinschaften entstehen, die sich voneinander abgrenzen und sich polar gegenüberstehen. Diese Tendenz zur Polarisierung erschwert den dringend notwendigen Diskurs über gute Lösungen des Corona-Problems, ist fehleranfällig und schadet der Idee der offenen Gesellschaft.
[…]
Wir haben es in Deutschland und in anderen Ländern mit einer problematischen Störung des gesellschaftlichen Diskurses zu tun.
[…]
In der gesellschaftlichen Debatte über die Corona-Politik wird die Tendenz sichtbar, der einen Seite exklusiv Vernunft und wissenschaftliche Fundierung zuzusprechen, der anderen Seite hingegen Unvernunft und den Hang zur Verschwörungstheorie. Die dabei ins Spiel kommende Vorstellung von Wissenschaft als geschlossene Faktenordnung mit direkt ableitbaren Handlungsanweisungen ruht auf einem szientistischen (und solutionistischen) Missverständnis dessen, was Wissenschaft darstellt – es ist nämlich das konstitutive Prinzip des systematischen Zweifels, das Wissenschaft als plurales Wissensregime ausmacht.
[…]
In praxi hat diese Einengung und Störung des Diskurses zu einer Einengung der Problemlösungen und zur Eindimensionalität des Vorgehens geführt, ein schwerwiegender Mangel, gerade im Hinblick auf die Problemlösungskompetenz, die wir heute zur Bewältigung der Corona-Krise und speziell zur erfolgreichen Durchführung einer Impfkampagne dringend brauchen.
[…]
Die ‚Thesenpapiere-Autorengruppe‘ arbeitet ehrenamtlich seit nunmehr 10 Monaten. Zu den Gründungsüberzeugungen gehört die interdisziplinäre und multiprofessionelle Aufstellung, die Ansicht, dass Epidemien nicht allein aus medizinischer bzw. naturwissenschaftlicher Perspektive zu verstehen und zu kontrollieren sind, und dass die notwendigen Interventionen nur im Sonderfall aus Ein-Punkt-Maßnahmen bestehen, im Regelfall jedoch mehrere optimal aufeinander abgestimmte Interventionen umfassen müssen.
[…]
Es existieren zahlreiche Indizien dafür, dass das eigentliche Ziel des politischen Handelns nicht abschließend geklärt ist oder man sogar im Grunde immer noch von einer Eradikation (Auslöschung) der Epidemie ausgeht, einer Ansicht, der man fachlich-wissenschaftlich nicht folgen kann.“ [13]
Auch in einer zweiten Gruppe mit der Bezeichnung Coronastrategie befinden sich renommierte und ausgewiesene Experten verschiedener Bereiche. Diese sind:
Prof. Dr. Klaus Stöhr, Coordinator.
Prof. Dr. Reinhard Berner, Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendmedizin.
Prof. Dr. Arne Simon, Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie.
Prof. Dr. Gerd Antes, Medizinstatistiker.
Prof. Dr. Rene Gottschalk, Gesundheitsamt Frankfurt.
Prof. Dr. Ursel Heudorf, MRE-Netzwerk, Rhein-Main.
Prof. Dr. Jonas Schmidt-Chanasit, Universität Hamburg.
Der bereits aus der ersten Gruppe bekannte Prof. Dr. Matthias Schrappe gehört dieser Initiative ebenfalls an.
Der Koordinator von Coronastrategie, Professor Klaus Stöhr, ist ein deutscher Virologe und Epidemiologe. Er war Leiter des Globalen Influenzaprogramms und während des ersten SARS-Ausbruchs Forschungskoordinator der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gewesen. Damit gehört Prof. Stöhr zu den Experten, die weltweit über die größte Erfahrung mit Pandemiegeschehen überhaupt und speziell auch mit SARS-Infektionen besitzt. In einem Positionspapier geben die Wissenschaftler und Experten ständig aktualisierte Arbeitsergebnisse zur COVID-19-Bekämpfungsstrategie und zur Entscheidungsfindung bekannt. Ihre aktuelle Position zum Zeitpunkt Ende März 2021 lautet:
„Eine ausschließliche Ausrichtung auf die gesundheitlichen Schäden durch SARS-CoV-2 wäre für alle sicherlich die Präferenz. Es ist aber die Verantwortung der Politik, eine tragfähige und durchhaltbare Bekämpfungsstrategie im besseren Kompromiss zwischen den gesundheitlichen Auswirkungen einer Erkrankung, den Kollateralschäden für andere Gesundheitsbereiche, für die Gesellschaft und den Einzelnen durch die verordneten Maßnahmen, die wirtschaftlichen Effekte und notwendigen freiheitlichen Einschränkungen zu finden.
Angesichts der Aufwendungen für die Pandemiebekämpfung im Vergleich zu anderen Gesundheitsproblemen müssen die Fragen nach der Verhältnismäßigkeit der Bekämpfungsmaßnahmen beantwortet und gesamtgesellschaftlichen einschließlich gesundheitsökonomischer Bewertungen unterzogen werden. Die Bundesregierung muss einen Prozess der breiten Einbeziehung fachlicher Kompetenzen in die Entscheidungsvorbereitung zum Risikomanagement etablieren. Politische Entscheidungen auf der Grundlage der Risikobewertung von einzelnen Vertretern weniger Fachgebiete sind unzureichend und haben zur Polarisierung in der Pandemiebekämpfung beigetragen.
Besprechungen nur mit einzelnen Wissenschaftlern aus Spezialdisziplinen genügen nicht, ergebnisoffen Präventions- und Kontrolloptionen zu erarbeiten und ihre Vor- und Nachteile abzuwägen. Es existiert zu wenig oder kein Platz für den wissenschaftlichen Diskurs im Vorfeld der Entscheidungsfindung. Wesentliche Bereiche der Gesellschaft sind nicht vertreten. Es herrscht der Eindruck, dass Positionen, die nicht zum fest geprägten Standpunkt der Entscheidungsträger passen, nicht berücksichtigt werden, auch wenn sie die Entscheidungsfindung schärfen und die Suche nach der besten Lösung befördern können. Ein offener Diskurs mit allen wesentlichen Fachbereichen ist aber entscheidend zur Überwindung der Krise.
Ein unabhängiges Expertengremium fehlt, das Risikoeinschätzungen für die Bundesregierung oder -institute vornimmt, z. B. der SARS-CoV-2-Varianten, Kitas/Schulen. Deren Aufgabe muss es sein, Empfehlungen nach einem strukturierten Prozess der Risikoabschätzung für die Politik zu geben.
Konkret für die Entwicklung der Stufenpläne bedeutet das jetzt, dringend den Beitrag von bestimmten Lebensbereichen für Infektionen von Risikopersonen und in stationären Einrichtungen zu evaluieren. Priorität haben hier: Kitas, Grundschulen und der Einzelhandel. Einzelmeinungen, derzeit von einzelnen Experten vorgetragen, erfüllen nicht annähernd die Anforderungen an eine strukturierte Risikoregulierung und genügen nicht, um die breite Wissenskompetenz, die Meinungsvielfalt und die Komplexität der Risikoregulierung zu COVID-19 abzubilden.
Langfristig wird eine nationale Kommission benötigt, die ähnlich wie die ständige Impfkommission oder die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention die Bundesregierung in einem strukturierten Prozess und im vollen Bewusstsein ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung in den Fragen der Risikobewertung und -regulierung berät.“ [14]
Klaus Stöhr plädierte stets für etwas mehr Öffnung der Beschränkungen und für das Zulassen von höheren Infektionsinzidenzen, ohne einer Sorglosigkeit das Wort zu reden. Er verwies dabei auf das Vorgehen in vielen Nachbarländern.
Ein weiterer Wissenschaftler, der sich intensiv mit der Corona-Pandemie auseinandersetzte und vor allem durch die Heinsberg-Studie bekannt wurde, ist der Bonner Virologe Hendrik Streeck. Auch er gehört zu denen, die moderate Lockerungen für verantwortbar halten. Laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist Streeck zum Feindbild vieler Lockdown-Befürworter geworden. In einem Interview klagt er über Politiker, die sich hinter der Wissenschaft verstecken, und das Fehlen von Diskussionen in den relevanten Gremien. [15]
Es gab also neben den ausgewählten Wissenschaftlern, welche die Bundesregierung zur Bestätigung ihrer strikten Lockdown-Politik ins Feld führte, zahlreiche Stimmen exzellenter Experten, die schon früh den Schutz der Alten und Gefährdeten forderten, mehr Abwägung von Folgeschäden anmahnten und für die Toleranz einer moderaten Steigerung der Infektionsinzidenz eintraten. Doch auch diese Wissenschaftler wurden konsequent aus der politischen Beratung ausgeschlossen und im öffentlichen Diskurs häufig angegriffen oder gleich ganz von ihm ausgeschlossen.
Die eigentliche Trennlinie verlief also nicht zwischen „wissenschaftlicher Ratio“ und „Querdenker-Unvernunft“, sondern vielmehr zwischen ausgewählter „regierungstreuer“ Wissenschaft und breitem wissenschaftlichem Diskurs.
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