Kitabı oku: «Medizin ohne Moral»

Yazı tipi:


Dr. med. Erich Freisleben

Medizin ohne Moral

Diagnose und Therapie einer Krise

In ehrendem Gedenken an die vielen Seelen, denen unser Land die Zukunft genommen hat, widme ich das Buch meinen Kindern und Enkelkindern.

ISBN 978-3-99025-423-3

Alle Rechte vorbehalten

© Freya Verlag 2020

printed in EU

Cover: © AdobeStock: Zoltán Pataki (Pillen), まるまる (Stoffhintergrund, Yevhenii (Binärcode) Cover-Rückseite: Georg Kolbe, Tänzerin (1911/12), Nationalgalerie Berlin, Aufnahmen aus dem Archiv des Georg Kolbe Museums. Abgebildet mit freundlicher Genehmigung des Georg Kolbe Museums, Berlin.

Layout: freya_art, Alyssa Kamoun

Lektorat: Dorothea Forster

Der Inhalt dieses Buches wurde mit größter Sorgfalt erstellt, doch wie jede Wissenschaft entwickelt sich auch die Medizin ständig weiter. Für die Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität der Inhalte kann keine Garantie übernommen werden. Eine Haftung des Autors und des Verlags für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist somit ausgeschlossen.

Inhalt

Prolog: Herr Staudinger und der Amtsschimmel
Vorbemerkung
Abschied von Hippokrates
Einleitung
Praxisalltag – der tägliche Turbo
Der Berufsanfang – Vom Wert, sich Zeit zu nehmen
Die Weggabelung – ein neues Medizinzeitalter bricht an
Der Niedergang einer menschengerechten Grundversorgung
Kontrollkultur und Bürokratisierung
Gesundheitsmanagement – Wie man Ärzte auf (Leit-)Linie bringt
Evidenz als Siegel und Kampfbegriff
Die Pharisäer – Ein Hauch von Zeitgeist-Schizophrenie
Das Leid mit den Leitlinien
Fallbeispiel „Nationale Leitlinie Nichtspezifischer Kreuzschmerz“
Das Justifizieren des Helfens
Die Beleidigung der Helfer
Qualitätslügen
Die Säule des Erfahrungswissens
Die tatsächliche Halbwertszeit des medizinischen Wissens
Der Nettogewinn des Fortschritts
Marketing und Fortbildungsverpflichtung
Die schöne Pharmavertreterin
Kommerziell kontaminiert
Patienten haben keine Lobby
Der Teufelskreis der Kostensteigerungen
Der langsame Abschied von menschlicher Nähe
Die Bedrohung der Selbstbestimmung
Die Manipulation des Patientenwillens
Behandlungsvielfalt und der Schutz vor Ausbeutung
Der leise Abschied von Hippokrates
Webfehler des Wissenschaftszeitalters
Der fehlende Begriff für das Besondere des Menschseins
Leerräume der Spiritualität
Fabulierende Wissenschaft
Das wissenschaftliche Weltbild und die Medizin
Dreißig Jahre Medizin auf den Punkt gebracht
Der Wert des Gesprächs
Gespräche im Angesicht existenzieller Bedrohung
Positive und negative Suggestion
Das Puzzle der Krankheitsentstehung
Die seelische Dimension der Organe
Der Tumor des Kampfes
Krebs aus ganzheitlicher Perspektive
Krebs und inneres Wissen
Krebs und bleierne Müdigkeit
Begleitung in den Tod
Unbehagen im Paradies
Abschied von den Mythen der Neuzeit
Erster Mythos: Die Wissenschaft ist neutral und „rein“
Zweiter Mythos: Die Technologie wird uns retten
Dritter Mythos: Wissen erzeugt automatisch Fortschritt
Vierter Mythos: Spezialistentum ist besser als Generalissimus
Fünfter Mythos: Alles ist Biologie
Zusammenschau:
Was können wir besser machen?
Umsteuern – wie würde das gehen?
Meine gesundheitspolitischen Bemühungen
Das Netzwerk Ganzheitsmedizin
Die verstandene Krankheit
Einleitung
Epochenwandel
Meine Krankheitserfahrung – Heilen mit Seele
Das Studium – Leistung, Freiheit und Verführungen
Erfahrungen mit der Psychotherapie
Arzt im Kiez – Begleiten statt belehren
Wo stehe ich persönlich?
Die Deutung von Krankheit
Salutogenese und die Kraft der Lebensenergie
Der Infekt als Mahnung zur Pause
Erfahrungen aus einer vergangenen Zeit
Schuppenflechte
Aurum und Ignatia
Asthma
Migräne und Spannungskopfschmerzen
Migräne und Tinnitus
Häufige Infekte
Ständige Halsentzündungen
Die Natur als Arzt
Beispiel eines gelungenen Methodenmixes
Die „Technik“ der ganzheitlichen Medizin – Schritte und Tipps
Der innere Dialog
Die Arbeitsschritte
Die Gesprächstechnik in der alltäglichen Psychosomatik
Gürtelrose
Kränkung und Ent-Täuschung
Ohnmacht und Schuld
Allergie
Herzkrankheiten
Schicksal
Selbstheilung durch Erinnern und Erkennen
Ein kompletter Behandlungsverlauf am Beispiel – die Krankenschwester
Eine Patientin, die niemand mochte
Das Ende der Ganzheitlichkeit
Medizin im Kranken Zeitalter
Einleitung
Die Dystopie – Der Patient als Rädchen in der geölten Medizinmaschinerie
Digitalisierung im Gesundheitswesen
Außer-sich-Sein
Außer-sich-Sein als Zeitphänomen
Zwecklogik und Expertokratie
Subjektivität und Wissen
Das menschliche Antlitz
Der Mensch als „Blaupause“
Zeitkrankheiten als Botschafter
Antwort auf die Zeitkrankheiten
Streitthemen der modernen Medizin
Wo wir schon einmal waren – Lernen aus der dunklen Vergangenheit
Der Zivilisationsbruch
Darwinismus und Sozialdarwinismus
Medizinischer Biologismus
Distanzierte Analytik
Internationaler Biologismus
Die Mission von Schuld
Die heutigen Stolpersteine
Die fehlende Trauerarbeit im Wissenschaftszeitalter
Wissenschaft und Ethik
Stellung von Wissenschaft im geistigen und realen Leben
Ein Ausflug in unser kulturelles Fundament
Wie wir den Turbo stoppen – praktische Schritte und eine Utopie
Die eigentlichen Bedürfnisse des Menschen
Freiheit
Loslassen
Verbundenheit
Entschleunigung
Wie wir dahin kommen
Moderne Märchen
Gewaltloser Widerstand
Lösungen für eine bessere Zukunft
Eine europäische Mission
Heiltrank für die Moderne
Eine zeitgemäße Vision
Epilog – Der letzte Tanz
Anhang
Danksagung
Nachwort
Mein Gedankenspiel: Wissen und Glauben – eine Quantenverschränkung?
Quellen und Verweise
Prolog: Herr Staudinger und der Amtsschimmel

Ein klein gewachsener, alter Herr schleppte sich mit letzter Kraft an der Hand seiner Begleiterin in den zweiten Stock des Altbaus im Berliner Wedding, der meine Hausarztpraxis beherbergt. Seine Lippen waren blitzeblau und seine Atmung ein einziges Röcheln. Sofort legten wir den uns bislang unbekannten Patienten auf eine Liege im Notfallraum. Trotz seines angeschlagenen Zustandes ließen uns die Personalien von Herrn Staudinger staunen: Mit einem Alter von 96 Jahren hätten wir nicht gerechnet! Sein EKG zeigte ausgeprägte Herzrhythmusstörungen.

„Ins Krankenhaus gehe ich auf gar keinen Fall!“, lauteten die ersten Worte, die er herausbrachte. Ich begriff schnell, dass er sich mit keinem Argument umstimmen lassen würde, denn selbst der Hinweis darauf, wie lebensbedrohlich die Situation war, ließ ihn kalt. Er wusste, was er wollte: „Tun Sie was, Herr Doktor!“ Eine Einweisung gegen seinen Willen wäre nicht statthaft gewesen, da er ohne Zweifel bei klarem Verstand war. Also tat ich, was ich gelernt hatte. Ich versorgte ihn intensivmedizinisch mit einem Tropf und verabreichte die entsprechenden Medikamente. Nachdem sich die schlimmsten Symptome seiner Lungenstauung gebessert und der Herzrhythmus sich stabilisiert hatte, seine Gesichtsfarbe wieder ins Rosige wechselte und seine Atmung ruhiger geworden war, fragte ich nach seinem Befinden.

„Ach Herr Doktor, das mit dem Herzen ist ja gar nicht so schlimm“, sagte er, „wenn nur nicht dieser Zeh wäre!“ Ich schaute hin. Sein rechter Zeh war weit nach oben durchgebogen. Vorsichtig griff ich nach ihm, um das vermeintlich ausgerenkte Glied in die richtige Position zu bringen. Kaum, dass ich ihn berührte, bewegte der alte Mann fröhlich sein Zehengelenk und amüsierte sich herzlich über meine Verblüffung: „Ach, ist das schön, wenn der Doktor lacht!“

Wie sich herausstellte, ermöglichte eine erblich bedingte Überbeweglichkeit seiner Glieder ihm, trotz seines Alters die Gelenke in Positionen zu bringen, die sonst nur Kleinkindern vorbehalten bleiben. Eine Fähigkeit, die er für gut inszenierte Scherze einzusetzen wusste.

Nach zwei weiteren Stunden hatte er sich so weit erholt, dass nun ein feiner, gewandt und würdevoll auftretender, alter Herr vor uns stand. Auf seinen Stock wie auf ein Zepter gestützt, verabschiedete er sich mit galanter Geste bei den jungen Helferinnen, nicht ohne ihnen zu versichern, wie wundervoll sie seien. Der Erstkontakt mit unserer Praxis war zu seiner Zufriedenheit verlaufen. Von diesem Tag an genossen wir sein uneingeschränktes Vertrauen.

Abgesehen von solch flüchtigen gesundheitlichen Krisen, meist in Form von Herzrhythmusstörungen, die ihn wie kurze Streiflichter an seine Endlichkeit erinnerten, war Herr Staudinger stets voller Lebenslust. Charmant zu allen Damen, unterhielt er das ganze Wartezimmer mit seinen Erzählungen. Seine um etliche Jahre jüngere Frau, die er erst von einem Jahrzehnt geehelicht hatte, hielt sich im Hintergrund und ließ ihn in seinem Element stumm gewähren, auch wenn sie die Geschichten schon unzählige Male gehört hatte. Er war eben so und nicht anders. So hatte sie ihn geheiratet und in Anbetracht seiner fast hundert Lebensjahre ersparte sie sich gelassen den Stress, hierbei noch Verhaltensänderungen zu erwarten.

Über die Jahre hinweg brauchte Herr Staudinger nur wenig medizinische Hilfe. Viele unserer Begegnungen in meinem Sprechzimmer bestanden in Unterhaltungen, in denen er mir seine Geschichten und Ansichten vermittelte. Der wichtigste therapeutische Effekt für seine Lebensphase war das für ihn tragende Gefühl, den richtigen Doktor im Rücken zu haben ... für alle Fälle. Eines Tages schenkte er mir die Kopie eines kleinen Meisterwerks aus seiner Hand. Als ehemaliger Graphiker hatte er ein wieherndes, sich aufbäumendes Pferd zu Papier gebracht. „Der Amtsschimmel“, erklärte er. „Das Wohnungsamt hat mich mit seinen Nachfragen nicht in Ruhe gelassen. Statt weiterer Erklärungen habe ich ihnen dieses Bild verehrt. Seitdem ist Ruhe.“

Mich an solche meiner Patienten zu erinnern fühlt sich an, als wenn mir längst vergilbte Fotografien aus guten alten Zeiten in die Hände gerieten.

Vorbemerkung

Krankheit erschüttert oft unerwartet unser Lebensgefühl. Warum geschieht das? Warum gerade mir? Ist mein Leben nur kurz beeinträchtigt oder muss ich fortan mit der Krankheit leben? Ist mein Leben sogar bedroht? Was macht krank und was braucht Gesundheit? Und angesichts der letzten Krankheit, dem Tod: Warum das alles? Mit diesen Fragen wendet sich der Blick des Betroffenen von der Außenwelt der sozialen Beziehungen und der beruflichen Tätigkeit ganz auf sich selbst.

Die wesentlichen Antworten, die ich auf diese Fragen geben kann, haben sich in vierzigjähriger Tätigkeit als Arzt geformt. In dieser Zeit haben sich jedoch die Bedingungen im Gesundheitswesen, in der Gesellschaft und in der Welt als Ganzes einschneidend geändert.

Für unser deutsches Gesundheitssystem besteht dringlichster Handlungsbedarf, wenn es weiter unsere Bedürfnisse erfüllen soll. Schon jetzt ist ein Verlust an Menschlichkeit und Leistungsfähigkeit in der Medizin spürbar – nur ein seichtes Vorspiel im Vergleich zu dem Verlust an Wärme und Hilfe, der uns in naher Zukunft erwartet. Wie ohnmächtig wird sich jemand fühlen, der ein Leben lang für seine Gesundheitsvorsorge eingezahlt hat und schließlich als Bittsteller vor verschlossenen Türen steht? Oder eine Medizin aufgedrängt bekommt, die er so gar nicht haben will? Ohne Zweifel hat die Entwicklung auch glanzvolle Seiten: Neue Erkenntnisse aus den Wissenschaften haben uns etliche Behandlungsfortschritte gebracht, diagnostisch wie therapeutisch. Manch tödliches Ende kann heute abgewendet werden, sogar durch Extremmaßnahmen wie die Organtransplantation. Und wie verlockend sind die möglichen Aussichten auf den technologisch-pharmakologischen Sieg gegen die Geißel Krebs … oder sogar die Vision, den Tod dereinst vollkommen besiegen zu können!

Der Kontrast von Licht und Schatten nimmt nicht nur in der Medizin zu. Täglich spülen uns die Nachrichten ähnlich kontrastierende Botschaften ins Haus. Gibt es dafür Zusammenhänge? Ich meine, ja!

Meine Botschaft: Lasst uns aufwachen!

Wir müssen neue Wege zwischen Glanz und Düsternis einschlagen, bevor unsere Lebensqualität weiter absinkt und der Mangel zur allgegenwärtigen Realität wird.

Die Corona-Krise 2020 hat uns einen Vorgeschmack für die Gefahren unserer modernen Lebenswelt gegeben. Das Virus SARS-CoV-2, welches den Globus mit einer Pandemie der Krankheit COVID-19 überzog, hat die Welt wie ein Blitz bis tief ins Mark des ökonomischen Gefüges getroffen. Eine Todesrate, die bis in den Millionenbereich geht, eine wirtschaftliche Depression in armen wie in reichen Ländern, welche nicht nur vielen Menschen ihren Job kostet, sondern ganze Volkswirtschaften in den Bankrott treibt, und jede Menge Angst und Sorgen sind die Ernte dieses kleinen Virus. Besonders stark hat es den wirtschaftlich entwickelten Teil der Welt getroffen. Den Flugverkehr, die Kreuzfahrten, die Börsen, die Warenketten, das Freizeitvergnügen. „Corona ist das Ebola der Reichen“, betitelte eine Zeitungsüberschrift dieses Phänomen in Anlehnung an die Bemerkung eines Intensivmediziners aus Bergamo in Italien, wo die Pandemie außerordentlich harte Auswirkungen hatte.

Darf man angesichts all der fatalen Folgen auch davon sprechen, was die Pandemie an Gutem bewirkt hat? Ich gehe so weit zu sagen – man darf nicht nur, sondern man muss! Doch was könnte bei so viel Leid noch Gutes übrigbleiben? Einiges will ich hier nennen.

Erstens: Der „Lockdown“ hat das Überhitzen der Welt heruntergefahren. Bislang konnten wir uns trotz zahlloser Klimagipfel und Konferenzen nicht auf wirksame Maßnahmen zur Begrenzung der Erderwärmung einigen. Nun müssen wir anerkennen, dass das Virus uns eine Atempause verschafft hat, indem es den Energieverbrauch der Flugzeuge, Kreuzfahrtschiffe, Fabriken und Autos massiv abwürgte. Würde uns diese Erfahrung zu einem vernünftigen Umgang mit unserem globalen Lebensraum verhelfen, stünde den Verlusten durch die Pandemie ein tausendfacher Gewinn gegenüber.

Zweitens: Die Krisenerfahrung sagt uns etwas über unser gesellschaftliches Wertesystem. In der Not stellen wir fest, dass die schlecht bezahlten und bürokratisch überfrachteten Helferberufe wichtiger sein können als die höchst angesehenen und bestens alimentierten Positionen der Manager, Star-Anwälte und Produktentwickler in der Technologiebranche. Haben wir an dieser Stelle nicht dringend etwas an unserer gesellschaftlichen Wertschätzung zu korrigieren?

Drittens: Die Angst vor dem Virus macht uns demütiger und lehrt uns unmissverständlich, dass in schwierigen Zeiten Mitmenschlichkeit unser Leben aufrechterhält und nicht die kalte Zwecklogik eines ökonomischen Wettlaufs.

Viertens: Die Krise deckt versteckte Missstände auf. Hätten wir die Gesundheitssysteme in der Breite nicht so vernachlässigt, wäre der erzwungene Stillstand des Weltgetriebes in dieser radikalen Form unnötig gewesen. Denn – eine Herdenimmunität gegen das Virus werden wir so oder so entwickeln müssen. Das Problem bildeten die mangelnden Kapazitäten in der Krankenversorgung, insbesondere der Intensivmedizin, die für knapp zehn Prozent der Erkrankten für einige Tage notwendig ist. Vor allem der über viele Jahre heruntergefahrene Personalbestand an Ärzten, Pflegern und Amtsmedizinern machte die drastischen Maßnahmen notwendig. Eine Intensivkrankenschwester fasste dies auf einer Diskussionsveranstaltung mit Politikern so zusammen: „Jahrelang wurden wir als Kostenfaktor gesehen, nun sind wir plötzlich systemrelevant.“ Ebenso fiel uns nun auf die Füße, dass wir die Produktion von Standardmedikamenten und medizinischen Schutzbedarfsartikeln flächendeckend in Billiglohnländer ausgelagert haben. Die gnadenlose Rationalisierungsphilosophie der Ökonomen wurde zur todbringenden Falle.

Ich behaupte nicht, eine Pandemie sei gut für die Welt. Aber ich meine, es liegt in unserer Hand, ob all das Sterben und Leiden ein sinnloses Unglück darstellt oder ob wir daraus Lehren ziehen und unsere Zukunft besser gestalten. Und ich warne vor der Illusion, wir könnten solche Katastrophen allein durch medizinische Fortschritte und wissenschaftliche Erkenntnisse in den Griff bekommen. Natürlich können beispielsweise Impfungen Epidemien eindämmen – aber nahezu alle Infektionsausbrüche der letzten Jahrzehnte hatten etwas mit unseren Lebensstilen und modernen Produktionsweisen zu tun. Sie häufen sich und es wäre naiv, zu glauben, es kämen keine weiteren mehr hinzu. Das trifft sowohl auf die großen Probleme wie Ebola, Lassa-Fieber, HIV, BSE sowie Influenza mit ihren Spielarten Schweinegrippe und Vogelgrippe zu als auch auf scheinbar kleinere wie Salmonellenausbrüche, Antibiotikaresistenzen und Geschlechtskrankheiten. Allgemein lässt sich sagen: Die Gefahrenpotenziale steigen parallel mit den Fortschritten. Nicht nur in der Medizin, wie wir von Atomkatastrophen, moderner Kriegsführung und der Manipulationsgefahr im digitalen Zeitalter wissen.

Nun können und wollen wir den Fortschritt nicht abstellen. Doch die Krisen lehren uns, dass wir etwas ändern müssen. Moralische Appelle allerdings haben in der realen Welt nur einen kurzen Atem. Bertolt Brecht hat das in der Dreigroschenoper auf den Punkt gebracht: „Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, die sind nicht so.“

Mein Buch handelt zu allererst von den Verhältnissen in der Medizin. Von den Veränderungen der letzten Jahrzehnte und dem Weg in unsere Zukunft. Es beleuchtet die Kraftfelder Wissenschaft und Ökonomie und geht auf die Spannungen zwischen Ethik und Fortschritt ein. Es beschäftigt sich aber auch mit dem janusköpfigen Charakter von Krankheiten, also mit positiven Aspekten, die im Unglück der Krankheit liegen können, so wie es im Zusammenhang mit der Pandemie bereits angeklungen ist. Das zweite Kapitel bietet hierfür reichlich Anschauungsmaterial aus der Praxis.

Ich lade Sie ein, einerseits mit mir im Schnellschritt durch die gesundheitspolitischen Wandlungen zu schreiten und mir andererseits in Ruhe über die Schulter zu schauen, wenn sich in der Intimität des Sprechzimmers etwas vom Wesen der Krankheiten zeigt. Sie werden erahnen, was Sie in Zukunft zum Thema Gesundheit auch ganz persönlich erwarten wird, und in Ihrer Kompetenz gestärkt, eine Medizin zu finden, die Sie haben wollen.

Essentiell sind jedoch die tieferen Ursachen. Der letzte Teil des Buchs beschäftigt sich damit, was es uns so schwermacht, die Lehren aus unseren persönlichen, aber auch unseren gesellschaftlichen Katastrophen zu ziehen. Dazu müssen wir auch ein Stück in unserer Kulturentwicklung zurückschauen, denn ohne ein Bewusstsein für die Geschichte können wir die heutigen Entwicklungen nicht begreifen. Der berühmte Dirigent Yehudi Menuhin nannte diesbezüglich den Menschen, der in seinem Zeitverständnis nur die unmittelbare Gegenwart kennt, als „den Enteigneten“ [1]. Denn ein Zeitverhältnis, in dem wir zuhause sein können, verbindet immer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem Ganzen.

Die Zusammenhänge von Krankheiten und Katastrophen in ihrer Tiefe zu verstehen belohnt uns mit einem neuen Gefühl der Befreiung und stärkt unsere Kompetenz, selbst Meister unseres Schicksals zu werden.

Der erste Teil des Buchs, Abschied von Hippokrates, beschreibt die heutige Arbeitsrealität in der Medizin, wirft einen Blick zurück auf die letzten vierzig Jahre und thematisiert eine Weggabelung, an der die Medizin begann, sich in konträre Grundprinzipien aufzuspalten. Am vorläufigen Ende dieser Entwicklungskaskade haben sich trotz Lichtvollem zunehmend düstere Wolken aufgetürmt.

Der zweite Teil, Die verstandene Krankheit, beginnt mit einem kurzen biografischen Ausflug zu den wichtigsten Etappen auf meinem persönlichen Weg zum Arztberuf, die meinen Blick auf das Thema Krankheit erweitert haben. Damit mache ich auch ein Stück meiner Person für Sie transparent. Im Folgenden erhält der manchmal diffus erscheinende Begriff der „Ganzheitlichkeit“ konkrete und fühlbare Gestalt. Anhand ausgewählter Krankengeschichten und Behandlungsverläufe bekommen Sie ein Gespür dafür, wie Krankheit entsteht und was sie uns mitteilen will. Dieser Abschnitt des Buches gibt Ihnen Werkzeuge für den Umgang mit Ihren persönlichen Gesundheitsfragen in die Hand.

Der dritte Teil, Medizin im kranken Zeitalter, wendet sich den gesellschaftlichen Hintergründen zu, die zur Entstehung von Krankheiten führen. Nicht nur den individuellen Störungen, sondern auch denen im Leben von Völkern, Staaten und Glaubensgemeinschaften. Denn die Vorgänge im Kleinen haben viel mit den großen Zusammenhängen gemein, da sich trotz aller Individualität und Vielschichtigkeit das Menschliche im Kern sehr ähnlich ist. Deshalb widme ich mich in diesem Teil den Gedanken und Konzepten, die unsere Gesellschaft seit Anbruch des wissenschaftlich-technologischen Zeitalters geprägt haben. Ohne ihre Reflexion bleiben viele Probleme unserer Zeit unverstanden, in der Medizin, im Zeitgeist und in der Politik.

Wir erleben gerade den gewaltigen Prozess einer wirtschaftlichen und kommunikativen Verknüpfung der Welt. Auf der anderen Seite erreichen uns tagtäglich beunruhigende Nachrichten, die alle Menschen betreffen. Die Klimaveränderung, das Artensterben und das Schwinden menschlicher Umgangsformen ängstigen uns genauso wie die Berichte von Krieg, Vertreibung und Zerfall von Gemeinschaftsstrukturen aus vielen Regionen. Die Welt braucht Heilung. Deshalb habe ich mit dem Blick des Arztes darauf geschaut und vor die Therapievorschläge die Diagnose gesetzt.

Wir sind gewohnt, Probleme zu analysieren und Theorien aufzustellen, so auch in diesem Buch, doch es ist nicht primär im Studierzimmer entstanden, sondern im Wesentlichen aus der Praxis heraus. Es nahm den Weg von der Anschauung der Realität über das Verstehen zur Theorie. Diesem Weg haftet heute leicht der Beigeschmack des Subjektiven an, doch ich gehe ihn ganz bewusst. Denn erst, wenn man von unten schaut, nimmt man mit den Kenntnissen auch die Empfindungen mit auf. Dadurch gewinnt die Theorie etwas von den Schwingungen des realen Lebens und ermöglicht jedem, den Inhalt nicht nur intellektuell zu prüfen, sondern auch mit Hilfe seines eigenen Gespürs für das Wahre.

Sie als Leser sind ungeheuer wichtig. Sicher brauchen wir für vieles Spezialisten, aber wir sehen zugleich, dass all das Expertentum allein unsere Lage nicht verbessert. Das Geschehen im Kleinen wie im Großen ist heute nicht mehr unbeeinflussbar von oben bestimmt. Das Denken der Vielen spielt eine entscheidende Rolle. Deshalb ist nicht nur reines Wissen, sondern vor allem verstehendes Durchschauen für die Breite der Gesellschaft so wichtig. Jeder Einzelne gestaltet diese mit.

Ich gehöre zu einer Generation, die sich nun aus dem Arbeitsleben verabschiedet. Eine Generation, die noch an ihren Eltern die Folgen der nationalsozialistischen Schreckenszeit unmittelbar gespürt hat, aber auch die entscheidenden Aufbrüche zu Neuem erleben durfte, die 68er-Revolte und eine von Experimentierlust begleitete Liberalisierung der Gesellschaft. Das Wunder des wirtschaftlichen Aufschwungs im Westen und das der Wiedervereinigung des getrennten Deutschlands gehören ebenso in diese Epoche, aber auch weniger glänzende Erscheinungen wie die spürbaren Rückzüge in die Selbstzufriedenheit einer prosperierenden Nation und die zunehmende Enge durch Sachzwänge und scheinbare Alternativlosigkeit. Vor allem aber: eine zunehmende Angst.

Erst seit wenigen Jahrzehnten bestimmt uns die Walze der Digitalisierung, die so viele technologische Wunder hervorbringt und gleichzeitig die bestehenden Strukturen mit schwindelerregender Geschwindigkeit einreißt. Mein Beitrag zur Diagnose eines offensichtlich kränker werdenden Zeitalters endet mit Vorschlägen zur Therapie, die bis in die Tiefe des Geistes unserer Zeit reichen.

Ich habe mich bemüht, für jeden verständlich zu schreiben, möchte Ihnen aber eine eventuelle Textauswahl erleichtern. Daher können Sie jedes Einzelthema leicht an einer entsprechenden Überschrift identifizieren. Zusätzlich habe ich für schnelle Leser die zentralen Aussagen durch ein verstärktes Schriftbild hervorgehoben. Entscheiden Sie selbst, ob diese pointierten Sätze zum Verständnis reichen oder ob Sie lieber den ganzen Abschnitt lesen wollen.

Vorab bitte ich um Nachsicht dafür, dass ich überwiegend in der männlichen Begrifflichkeit schreibe. Fortwährend beide Geschlechter anzusprechen, würde den Text zwar aus der Genderperspektive korrekt, für mein Gefühl aber zu hölzern klingen lassen. Ich schätze die Zunahme von Ärztinnen gerade in der Hausarztmedizin sehr, weil ich mir auch von ihr erhoffe, dass die Balance zwischen Technik und Empathie wieder besser ins Lot kommt. So mag es in absehbarer Zeit vielleicht stimmiger klingen, vorrangig von Hausärztinnen zu sprechen.

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