Kitabı oku: «Das Lied der Eibe», sayfa 2

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Für mich sind alle Gottheiten der Welt wahrhaftige Wesenheiten. Diese Auffassung muss niemand teilen. Ich habe nichts davon, wenn irgendjemand die gleichen oder auch nur (angeblich) ähnliche Götter wie ich anruft oder verehrt oder dieselben Namen und Begriffe benutzt – die aber jederzeit und überall anders assoziiert und mit ganz anderen Werten und Bedeutungen verbunden sein können. Wenn mich jemand zum Beispiel fragte, ob ich „an Jesus Christus glaube“, müsste ich – genau genommen – diese Frage bejahen. Das macht mich noch lang nicht zu einem Christen. Ich bin bei der genannten Gottheit so wenig unter Vertrag wie bei Siemens, der Deutschen Bank oder anderen Institutionen und Instanzen, deren Existenz ich ebenso selbstverständlich anerkenne wie die beliebiger Religionsgemeinschaften – unabhängig davon, was ich von den jeweiligen Kräften, ihren Auswirkungen, ihrem Personal oder dessen Methoden halte. Ich glaube an (die spirituelle Existenz und Wirkkraft von…) Jesus genauso wie an (die von…) Allah, Shiva, Pallas Athene, der Weißen Büffelfrau, Quetzalcoatl oder auch – das ist nicht despektierlich gemeint gegenüber vorgenannten Beispielen! – King Kong und Micky Maus; ebenso glaube ich an den Mount Everest, die Donau, das Geld, den Morgenkaffee oder McDonald‘s und Monsanto. Denn all diese – nennen wir sie mal „Phänomene“ – sind da. Und unabhängig davon, welche von ihnen als „real“ gelten und welche nicht, bewirken sie etwas in Materie und Geist. Natürlich ganz unterschiedliche Ereignisse und Zustände. Die einen betreffen mich persönlich, die anderen weniger. „Unter Vertrag“ – im Bunde – bin ich für meinen Teil mit Gottheiten, die ich mir in gewisser Weise selber geschaffen habe… aus Dankbarkeit dafür, dass sie – die Großen, wie ich sie nenne – die Welt und letztlich auch mich erschufen, mich leiten, anfordern, kurz: mich leben und wirken lassen. Den Widerspruch in dieser Aussage kann ich nur mit einem Grinsen beantworten… und dem Hinweis, dass sich eine magische Weltsicht so wenig an Logik oder die gewohnheitsmäßige Zeitachse zu halten braucht wie jeder anständige Traum auch. Ich nehme für mich in Anspruch, sowohl Realist als auch Träumer sein zu dürfen – ja: zu können.

Mein persönlicher Wertekanon ist ganz gut durch die so genannten Menschenrechte umrissen. „Ganz gut“ meint, dass ich den Geist dieses Wertesystems am liebsten noch angewandt auf weitere Teile der Natur sähe. Keinesfalls jedoch akzeptiere ich irgendeine Einschränkung dieses Kanons, ganz konkret: der Proklamation der allgemeinen Menschenrechte von 1948. Sie sind mein Maßstab für die Bewertung und Beurteilung menschlichen Handelns und Unterlassens im Kleinen wie im Großen, im Alltag wie im gesellschaftlichen Gesamtgefüge – welcher Person, welcher Gruppierung und welchen Staates, welcher ethnischen oder kulturellen Gemeinschaft auch immer. Wenn es eine Front zwischen mir und anderen gibt, verläuft sie an dieser Frage: wie wer mit den Menschenrechten umgeht. Ich bin gegebenenfalls bereit, mich mit all denjenigen Menschen verbündet zu sehen oder tatsächlich zu verbünden, die die Menschenrechte achten, leben, verteidigen. Wer dies nicht tut, kann nicht mein Freund oder meine Verbündete sein – egal, wer sich da Hexe, Heide oder irgendetwas anderes nennen mag, gleiche oder ähnlich benannte Gottheiten verehrt wie ich, vielleicht dieselbe Musik hört wie ich, vergleichbaren kulinarischen, sexuellen oder sonst irgendwelchen Vorlieben frönt oder auf andere Ähnlichkeiten pocht, die vorkommen mögen – na und. Entscheidend für meine Bündnisse ist die genannte Haltung – sie ist die unabdingbare Verhandlungsbasis. Innerhalb dieser findet zivilisierte pluralistische Gesellschaft statt. Nur dort. Wer sich außerhalb positioniert, steht draußen (und hat sich gegebenenfalls selber „ausgegrenzt“). Verhältnisse, in denen die Menschenrechte gelten, kamen nicht vom Himmel gefallen, sondern entstanden aus irdischen Einsichten und unendlichen Mühen heraus. Menschenwürdige Verhältnisse bedürfen – auch da, wo sie bereits bestehen – ständigen persönlichen Einsatzes. Ihr Überleben hängt an einer knappen Faustregel: Keine Toleranz für Feinde der Toleranz!

Ich lasse jede spirituelle Wahrheit gelten und akzeptiere jeden persönlichen Glauben – und daraus resultierende Verhaltensweisen, solange und soweit sie sich im Rahmen der Menschenrechte bewegen. Daraus folgt, dass ich auch Wertsysteme, die mir fremd oder gar unsympathisch sind, ebenso selbstverständlich respektieren kann wie deren FürsprecherInnen. Ich gewähre so viel Toleranz, wie ich bekomme (und wo ich es mir leisten kann, auch gern mal etwas mehr: Das lässt sich nicht pauschalisieren, kommt aber vor). Ich toleriere jedoch nicht die Abschaffung meiner Werte, entsprechende Handlungen oder Absichten. Die Gleichwertigkeit aller Menschenwesen ist die Grundlage, auf der alle erforderlichen und möglichen Verhandlungen beruhen. Ich gehöre zur weltweiten Rasse derer, dessen Blut rot ist. Wir alle gehören ihr an. Es bedarf keinerlei Blutvergießens, das zu beweisen.

Wenn ich hier von bestimmten Göttinnen und Göttern rede und erkläre, was sie mit Runen zu schaffen haben, ist das so ähnlich, wie von selbstkomponierter Musik zu sprechen. Musik folgt Regeln (Ausnahmen bestätigen das). Meine Töne und Klangfolgen muss niemand nachspielen oder gutheißen – ich zeige nur auf, wie sie funktionieren, welchen Regeln sie folgen. Es ist ein Unterschied, ob du sie nachvollziehst und anwendest, um deine eigene Musik (oder Magie) zu entwickeln – oder meine Ergebnisse imitierst und übernimmst. Letzteres kann einen Zwischenschritt darstellen, niemals aber taugliches Endergebnis.

Das kann nicht oft genug betont werden. Die Unsitte, andere für sich denken zu lassen, anderen mehr oder minder kritiklos und selbstvergessen zu „folgen“, ist in der Menschheitsgeschichte allzu verbreitet und gerade in unserer Gesellschaft eingeschliffen wie kaum etwas anderes. Die Subszene esoterisch Sinnsuchender spiegelt dieses gesellschaftstypische Phänomen nochmal in ungewollt karikierender Form scharf wieder, lebt es gewissermaßen übertrieben nach: in ihren offenen wie versteckten Hierarchien, in ihren Werten, Zielen, Methoden und deren Resultaten. Das muss nicht erst über offenkundige Kommerzinteressen sichtbar werden oder vorwiegend in seelische Ausbeutung und innere Verelendung münden, tut es aber meistens und typischerweise. Autoritätshörigkeit wird in allen Möglichkeiten des Spektrums gefördert, Selbständigkeit selten gelehrt. Es gibt jedoch Erfahrungen, die sind nur individuell zu machen. Dazu gehören Essen und Trinken, das Darmentleeren, das Sterben – und das Lernen. Und damit auch das Erleben spiritueller Wahrhaftigkeiten. Bei solchen, als einem kulturellen Phänomen, lässt sich natürlich mogeln. Wir können jederzeit spirituelle Erfahrungen anderer Leute für unsere eigenen halten – dabei wird dann ziemlich egal, ob die Erfahrungen jener anderen, von denen wir sie übernehmen, „echt“ sind oder nur vorgegaukelt: Sie kommen in jedem Fall vitaminarm und substanzlos an. Ihr möglicher Wohlgeschmack ist künstlich und meist oberfaul herbeigetrickst. Im schlechtesten Fall machen sie süchtig. Wie schlechte Nahrung sind sie meistens voller Ballaststoffe, ungesunder Zusätze ungewisser Herkunft – und allzu oft zuckersüß. (Das allein sollte schon misstrauisch machen. Es ist ein sicheres Erkennungsmerkmal, dass die Weisheit dahinter nicht das Glanzpapier – oder auch nur den salbungsvollen Ton – wert ist, auf dem sie uns entgegensäuselt.)

Süchtig nach solchem Zeug, laufen wir Gefahr, andere von derselben Sache überzeugen zu wollen. Notfalls um jeden Preis. Denn das mulmige Defizit der ausgebliebenen Erfüllung isoliert unsere Seelen. Die unreflektierte Einsamkeit schreit bald nach Bestätigung durch Äußerlichkeiten: am besten durch gleichartige Gemeinschaft. Ab da werden Gewandung und Gepränge und das Bestätigen verbaler Formeln oberwichtig: als Kennzeichen von Gleichartigkeit, von Miteinander. Das bedingungslose Mitmachen und – vor allem auch äußere – Gleichziehen der anderen wird oft zum einzigen Trost in der zu Recht gefühlten – und umso manischer geleugneten – persönlichen Leere.

Genau darum sind die meisten Offenbarungsreligionen (wie auch ihre marodierenden Ableger, die oft sektiererischen Einzelkulte) so vehement um Missionierung bemüht – und darin so erfolgreich: An die Stelle persönlicher Erfüllung tritt die Not, äußere Merkmale anzugleichen und ans idealisierte Vorbild angeglichen zu sehen. Die Gleichschaltung nennbarer Kennzeichen dient als Ersatz für innere und eigene Entwicklung und Erfahrung. Nur wer im eigenen „Glauben“ keinen echten Halt findet, ist darauf angewiesen, dass möglichst alle anderen dasselbe glauben – und fühlt sich von allen bedroht, die davon irgendwie abweichen. Das sind die üblichen Kennzeichen vieler heutiger Religionen und Kulte… Und so sehr sie individuell durchaus für Halt und Orientierung zu sorgen vermögen, gleichen sie in ihrer Struktur und Grundhaltung doch eher einer gefährlichen Geisteskrankheit. Ungeachtet ihrer Gebetsmühleninhalte tendieren sie zu Heuchelei, Ungerechtigkeit, Willkürherrschaft, Verblendung, Gewalt und Krieg. Es ist ihnen inhärent. Statt die Seele zu befreien, knechten sie die Massen. Noch perfider: Sie haben beides verwoben. Wohlgemerkt: Diese Kritik gilt nicht Menschen und ihrem persönlichen Glauben, sondern den gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen ihrer Religionen.

Spiritualität ist entweder eine persönliche Erfahrung oder wertlos. Daraus folgt, dass Missionierung – jegliche! – Gift ist für jedwessen persönliche spirituelle Entwicklung. Missionierung ist das (meist systematische) Übertragen festgelegter Glaubensinhalte von einer Person zur anderen. Das braucht nicht nur so genannte Religionen zu betreffen, ist aber kennzeichnend für sie. Religionen, die missionierend verbreitet werden, verwandeln – wie alle Ideologien – Menschen in Schafe und Bluthunde. Die Verwandlung zum Schaf wie auch zum Bluthund zu vermeiden, ist der erste Schritt zum sozial kompetenten Menschenwesen.

Letzteres wollte ich werden. Wie mir ausgerechnet die Runen des Älteren Futhark dabei helfen sollten – und warum sie dafür taugen – zeige ich in den folgenden Kapiteln.


Bildstein mit Runen, Århus, Dänemark


KAPITEL II

Vorstellung der drei Ættir, Einblick in ihre Zusammenhangsverläufe

VOM WERDEN, ERKENNEN UND HANDELN

Das Ältere Futhark ist aufgeteilt in drei Achterreihen. Die erste beschreibt Prozesse des Erschaffens und Entstehens, die zweite einen exemplarischen Erkenntnis- und Einweihungsweg, die dritte zeigt, worum sich menschliches Handeln dreht und unter welchen Bedingungen es stattfindet.

Während die ersten beiden Reihen konkrete Verläufe in klar aufeinanderfolgenden Ereignisfeldern markieren, erschließen sich die Runen der dritten Acht eher paarweise. Diese letzte Reihe zeichnet keinen bestimmten Weg mehr vor, nur noch das Wie und Womit – und verweist damit umso mehr auf die Macht unserer Verantwortung.

Die drei Runenreihen werden (altnordisch) Ættir genannt. Ætt heißt „Acht“, „Sippe“ oder „Familie“. Über die Ættir des Älteren Futhark wachen drei Gottheiten: Freyr, der sinnliche Herr der Fruchtbarkeit, Hel, die fahle Herrin des Totenreiches, und Tyr, der streitbare Hüter der Gerichtsbarkeit.

Über Freyrs Ætt, die erste Acht, lernen wir, wie Schöpfungsprozesse funktionieren – ihre Voraussetzung, die gleichbleibenden Grundlagen ihrer vielfältigen Entwicklungen, ihr Werdegang und ihre Vollendung – samt möglicher Gefahren: was dabei alles schiefgehen kann, wie dem gegebenenfalls zu begegnen ist und was das jeweils für Konsequenzen hat. Die Abfolge dieser Reihe lässt sich auf zahllose Entstehungsprozesse übertragen – auf kleine und große Menschenwerke bis hin zum Wunder der Schöpfung selbst.

Hels Ætt, die zweite Acht, ermöglicht uns Erkenntnisse darüber, was das alles soll und wer wir überhaupt sind. Sie bietet einen Weg zu möglicher Charakterreife, der auf unterschiedliche Art erlebt und gegangen werden kann. Es ist kein Zufall, dass sich ein Drittel des ganzen Runensystems den Sinnfragen des „wer bin ich“ und „was soll das“ widmet. Der Helsweg, wie ich ihn nenne, ist kein Ponyhof: Er führt uns schnurstracks in unsere persönlichen Abgründe hinein, in die oft verschütteten Untiefen des eigenen Seelen- und Herzensgrundes, die wir im Alltag so gern scheuen (wofür wir ja auch Gründe haben). Doch am Ende wartet ein Schatz. So dunkel der Abstieg beginnt und so viel er fordert, so strahlend und selbstbewusst baden wir am Schluss im Licht der Sonne. „Erleuchtung auf Germanisch“ ließe sich das nennen – wäre der eine Begriff nicht so abgeschmackt und der andere nicht so missverständlich belastet. Aber ich will nicht vorgreifen.

Tyrs Ætt, die dritte Acht, beschäftigt sich mit unserem Tun und Lassen und bringt uns in persönliche Verantwortung – die wir mit den Erkenntnissen und Erfahrungen aus den vorangegangenen Reihen tragen können. Erst wenn wir wissen, wie etwas erschaffen wird, und zudem erfahren haben, wer wir selber sind und aus welchen Motiven wir handeln, können wir zu erwachsenen Menschen werden, die eigenständige Entscheidungen treffen und für deren Folgen einstehen. Zudem kennen wir die Welt und Umgebung, in der das stattfindet. Im gleichzeitigen Beachten dieser Umstände und Möglichkeiten sowie unserer persönlichen Erfahrungen lernen wir, unser Leben zu meistern und unseren Aufgaben gerecht zu werden.

Die Abfolge der 24 Runen des Älteren Futhark lässt sich als Weg von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel lesen, aber auch zu einem Kreislauf verbinden. Ich bevorzuge inzwischen die zyklische Variante, da sie alle möglichen Wegteile – auch die linearen – enthält.

Bevor wir uns den Runen und deren Vielschichtigkeit im Einzelnen widmen, werfen wir zunächst einen Blick auf das, was sie verbindet und zusammenhält. Um diese Verläufe in ihrem Zusammenhang kenntlich zu machen, beschränkt sich die Vorstellung der Einzelrunen hier auf Ableitungen ihrer Urbedeutung.

Aller Anfang ist das Entstehen. Wo nichts war, soll etwas werden – und dem kann durch Erschaffen nachgeholfen werden.

Freyrs Ætt – und damit das ganze Futhark – beginnt mit der Rune Fehu. Sie stellt das verfügbare Potential dar, aus dem etwas – ja letztlich alles – erwächst. Diese frei bewegliche Energie ballt sich zusammen in Uruz, das heißt, sie verdichtet sich zu Materie. Thurisaz ist die Kraft, die diese Materie schlagartig und weiträumig verteilt: Das Ergebnis dieser jähen Entladung ist chaotische Verbreitung. Ab hier wird sortiert: Ansuz repräsentiert sowohl das sinnvolle Gefüge als auch die Kommunikation darüber („wo etwas hin soll“: Das Schaffen einer Ordnung bedarf der Verständigung der daran Beteiligten – ob das nun Götter sind oder Menschen…). Raidho erst bringt den Faktor Zeit ins Spiel: Bewegung und Tempo spielen eine Rolle, Zyklen entstehen, rhythmische Abläufe greifen ineinander. Jetzt ist kompetentes Gestalten gefragt und die Lust darauf: wie etwas zusammengehört und wie es zu bearbeiten ist, damit es passt und schön wird. Dieses Können (und den Drang dazu) symbolisiert die Rune Kenaz. Sie führt zur Vollendung des Werkes in Gebo. Das Geschaffene, das nicht mehr verbessert werden kann (was seine Harmonie ausmacht: auf welchem Level auch immer), ist nun fertig, wird „übergeben“, kann ab da sein Eigenleben führen. Das schafft Verbundenheit der daran Beteiligten – sowohl mit dem Werk als auch untereinander. Die Rune dafür ist Wunjo. Sie krönt den Prozess mit Wonne und symbolisiert sowohl die Verbundenheit als auch die Freude darüber.

Der Schöpfungsprozess ist nun abgeschlossen.

Ab hier lassen sich die menschentypischen Fragen stellen: Wer bin ich? Und was soll das alles? Wozu gibt es die Welt? Wozu mich? Und überhaupt was? Die Antwort ist nicht lustig, der Weg nicht einfach. Aber dafür wird er ja beschrieben: um ihn aufzuzeigen, ihn gangbar zu machen, trotz aller Unwägbarkeiten – und durch sie hindurch. Das Ergebnis lohnt alle Mühen. Im Erfolgsfall! Die Anleitung dient seiner Ermöglichung.

Denn Hels Ætt – die mittlere Reihe – beginnt mit einem Schrecken. Hagalaz steht für elementare Zerstörungen und (meist ungewollte) Umwälzungen: Was du hast und was du vorhast, wird womöglich alles verhagelt. Nichts bleibt beim Alten. Wie diese Kraft auch gezielt genutzt werden kann, ist ein besonderes Geheimnis (das an späterer Stelle gelüftet wird) – immer aber stellt diese Rune eine Herausforderung dar. Sie steht letztlich auch für das, was wirklich passiert, während wir Pläne machen – die wir dann aufgeben müssen, weil es angesichts der Umstände so nicht geht. Und damit bringt sie uns – zunächst und bis auf Weiteres – in Not.

Nauthiz, in mehrfacher Hinsicht eine „Schicksalsrune“ (auch das bedarf besonderer Erläuterungen – später!), konfrontiert uns damit, was wir wirklich brauchen – im Wortsinn benötigen. Alles Überflüssige wird unter ihr nichtig und gegenstandslos. So von allem (schönen Zierrat, aber auch störenden Ballast: der meistens überwog – wenn beides nicht eh weitgehend identisch war…) befreit, kommt dein Streben zum Stillstand, die Seele zur Ruhe.

Isa, die einfachste Rune von allen, reduziert uns auf unseren persönlichen Wesenskern. Die zunächst einsame Essenz deines Ichs findet sich bald als Mittelpunkt wieder: von allem.

Jera, als 12. Rune des Futhark auch Mitte des Helsweges, verheißt die Erreichbarkeit alles irgendwie Vorstellbaren – und weist sogar darüber hinaus. Ja: die ganze Welt. Sie sei dein. Sie gehört dir zwar nicht alleine – du teilst das All mit allen anderen Geschöpfen, Kreaturen, Wesenheiten – aber dennoch dir ganz. Alles ist erreichbar: für dich! Bedingungslos und einwandfrei. Das ist wichtig. Es gibt keine Einschränkungen. Du musst nicht einmal Entscheidungen treffen – jetzt noch nicht. Das kannst du erst, wenn du wirklich aus dem Ganzen schöpfen kannst, ohne etwas auszusparen (wie du es vorher lerntest) – und zu dieser Erkenntnis, dass dir (ja, dir!) alles, aber auch wirklich alles möglich ist, verhilft Jera. Sie macht dich eins mit dem All, bis ihr die Rollen tauschen könnt, weil ihr – ungeachtet der Dimensionen: du und das Weltganze – aus ein- und derselben Substanz beschaffen seid.

Ab da geht‘s wieder aufwärts: Die Eibenrune Eiwaz repräsentiert deinen langsamen, aber beharrlichen Aufstieg aus dem Dunkel (deiner eigenen Tiefen: wo du all das erlebtest) ans Licht.

Zurück in das deiner Alltagswirklichkeit wiegt und wirft dich Perthro, der Kessel der Wiedergeburt. Diese bezieht sich auf dein Leben: dieses eine. Der Helsweg ist eine Verwandlung: deine. Die deines Charakters.

Und nach diesen Erfahrungen fühlst du dich in der Tat wie neugeboren: hellwach, wie runderneuert, zu allem bereit. Diesen Zustand repräsentiert Algiz. Ganz im Hier und Jetzt. Fähig zu vollkommener Gegenwärtigkeit: erfüllt vom Zauber des Moments. Jetzt fehlt nur noch ein Schritt. Der letzte. Er führt dich direkt in die Sonne.

Sowilo: Dein innerstes Wesen kommt ans Licht. Es wird dir bewusst. Und es ist rein. Du bist es jetzt: geworden. Auf deiner Fahrt durch die Abgründe. Aus deren Tiefen ermessen sich die Höhen deiner Bewusstwerdung. Du erkennst deinen wahren Willen. Die Wurzeln deiner innersten – auch und gerade dir selbst bis dahin verborgen gebliebenen – Wesenswünsche, deines Strebens und Sehnens. Du siehst die Zusammenhänge: Deine eigene Sonne bringt sie an den Tag. Ab hier gelingen deine Taten.

Du bist jetzt voll und ganz. Ein Geschöpf, das seiner selbst bewusst ist.

Ab da bist du überhaupt erst fähig zu handeln: Entscheidungen zu treffen im Bewusstsein deines Wollens und seiner Impulse und die Konsequenzen sowohl einzuschätzen als auch zu tragen. Ab hier kannst du sie übernehmen: Verantwortung.

Sie ist der rote Faden, der sich durch die dritte und letzte Achterreihe zieht. Diese gibt keinen Ereignisverlauf mehr vor: Der hängt jetzt allein von dir und deinen Entscheidungen ab. Von deinem Tun und Lassen. Weshalb ich diese letzte Runen-Acht gern „die für Erwachsene“ nenne. Die erste lehrte uns, etwas zu erschaffen, entstehen zu lassen, zu gestalten und wie solche Prozesse überhaupt funktionieren. Die zweite verhalf uns zur Erkenntnis unserer selbst, zur Sinnstiftung des eigenen Daseins. Denn wer soll diesen Sinn formulieren, wenn nicht du selbst? Genau deshalb fand das alles statt, nur dazu hast du den Helsweg durchwandert, durchlitten, erlebt und zu deiner eigenen Macht gefunden. Die dritte Runenreihe zeigt, wo und wie diese stattfindet und zu welchen Bedingungen. Darüber hinaus stellt sie ein Arsenal dar: für dein Tun. Sie setzt die Erfahrungen der ersten und zweiten Reihe voraus: Die bilden dein Vermögen, dein Wissen, deinen Hintergrund.

Tyrs Ætt besteht aus Runenpaaren. Zumindest die ersten beiden bestechen durch eine Gegensätzlichkeit, die zunächst unvereinbar scheint. Doch genau darin liegt die Lösung: in deren Verbindung, ja Gleichzeitigkeit – zu jeweiligen Anteilen. Erst zusammen entfalten sie ihre Wirkung harmonisch. Sie ist jedoch kein Festwert, sondern veränderlich. Du bekommst ein Arsenal beweglicher Parameter. Ihre Ausrichtung und ihr Maß bestimmst immer du. Es gibt keine Vorschriften. Nur Konsequenzen. Die Runen helfen, deren Gesetzmäßigkeiten zu erkennen.

Tiwaz ist die zielgerichtete, entschlossene Tat und das Tragen ihrer Folgen – und der Mut zu beidem. Berkana steht für die Fähigkeit, dies pfleglich, umsichtig (auch und gerade in Bezug auf deine Umgebung) und sogar fürsorglich, mitfühlend und rücksichtsvoll zu veranstalten. So blank betrachtet liegen beide Extreme klar vor Augen: ihre Möglichkeiten wie Mängel. Tiwaz allein führt, trotz und bei aller Verantwortungsbereitschaft, zu fanatischer, rücksichtsloser Durchführung und Durchsetzung (konsequent zu Ende gedacht) wovon auch immer. Berkana schafft Behaglichkeit, Wärme und Freundlichkeit, wird aber darüber hinaus kaum etwas bewegen. Meist braucht der Mensch eine Mischung von beidem: Umsichtiges, entschiedenes, aber rücksichtsvolles Handeln ließe sich das nennen. Mitunter mag die eine oder die andere Richtung überwiegen – müssen? Deine Entscheidung! Vergiss nie, auch im Extremfall nicht, das „Gegengewicht“, den möglichen Ausgleich. So bleibst du in Balance und deine Umgebung wird es dir danken. Der Erfolg auch.

Ehwaz symbolisiert die wilde Herde deiner animalischen Triebe. Sie sind schreckhaft und, wenn sie erst einmal lostoben, kaum mehr aufzuhalten. Mannaz steht für das soziale Miteinander, deinen Platz in der Gemeinschaft, und die Regeln, die sie sich gibt, denen sie folgt und die sie bedarfsweise verändert. Die Synthese aus beidem füllt Bücher bergeweise, aber kaum wer hält sie für möglich: Wir kennen das so gut wie gar nicht in der Praxis. Das hat mit Geschichte zu tun, mit Religionseinflüssen und -auswirkungen, mit sozialen Entwicklungen. Dennoch hängen beide Phänomene zusammen, sind und bleiben aufeinander angewiesen. Das weitgehende bis versucht vollständige Unterdrücken von Trieben ist möglich, hat aber einen hohen Preis. Zügelloses Sichgehenlassen auch. Ersteres schafft unfrohe Gesellschaften voller Zwang, Letzteres gar keine: Es verhindert jegliche. Zusammenleben und miteinander auskommen ist aber nötig. Über das jeweilige Maß – wem was gestattet ist und was nicht und wann, warum und wie – können vielleicht wirklich nur Kompromisse erzielt werden. Eine ideale Gesellschaft gibt es wahrscheinlich nicht. Aber bessere und schlechtere gibt‘s. Nichts davon ist statisch. Gesellschaften verändern sich – immer und laufend. Daran mitzuwirken, ist das Bestreben aller Beteiligten und Betroffenen. Wer das nicht tut, hat es vielleicht aufgegeben oder nie eine Chance gesehen, die eigenen Interessen einzubringen. Nichtsdestotrotz existieren sie und ihre Unterdrückung hat Folgen. Die Zivilisiertheit einer Gesellschaft lässt sich daran messen, wie wenig Gewalt zu ihrem Erhalt und ihrer Weiterentwicklung aufgewendet wird (je weniger Gewalt ausgeübt werden muss, umso zivilisierter ist das Gemeinwesen) und welchen Einfluss auf diese Gewalt die von ihr Betroffenen nehmen können (je größer und breiter gestreut dieser Einfluss ist, desto demokratischer, hierarchieflacher und gerechter geht es in der betreffenden Gesellschaft zu).

Laguz bedeutet sowohl „Lauch“ als auch „fließendes Wasser“: Pflanzliche Nahrung und Süßwasser sind zweifellos Lebensgrundlagen, ohne die gar nichts geht. Inguz, das Ei, verweist darauf, dass zumindest das Gemüse sich fortpflanzen muss, kann und darf, damit es auch morgen noch etwas zu essen gibt. Die Rune symbolisiert das Lebensprinzip der Fortpflanzung und die Wunder der Genetik. Von beiden Runen lässt sich eine Menge ableiten, was an dieser Stelle noch kein Anstoß für Debatten zu sein braucht.

Die Reihenfolge der letzten beiden Runen ist strittig: Auf den wenigen historischen Funden, die ein vollständiges Älteres Futhark zeigen, steht manchmal Othala, manchmal Dagaz am Ende. Im zeitgenössischen Gebrauch hat sich Othala als Endrune durchgesetzt. Ich bevorzuge inzwischen Dagaz – richtig darf beides genannt werden.

Othala ist sowohl Verwurzelung im Sinne einer „Heimfindung“ als auch Bewusstsein dafür, welcher Weg dich an diesen Ort gebracht hat und welche Ereignisse dich dabei prägten. Dagaz symbolisiert den ewigen Wandel: die größte universale Konstante überhaupt. Auch das trauteste Heim, der vollendetste Weg, die tiefste und hartnäckigste Wurzel fällt irgendwann wieder der Vergänglichkeit anheim, um abermals etwas Neues entstehen zu lassen! So schließt sich der Kreis und erlangt erst darüber seine Dauerhaftigkeit (wie so vieles Natürliche ist auch dies in Wirklichkeit eine Spirale…). Wege mögen enden, aber was auch immer vergeht, schafft nur Platz für Weiteres. Das ist Ewigkeit: dieses gewaltige Kreiseln in stetiger Weiterbewegung. Nicht eine Strecke von A nach B und das Verharren an einem Endpunkt. So gern wir das oft hätten. Die Welt ist größer als unser Wille. Auch er – und gerade er – wird aber erst durch ihre Größe und Wunder ermöglicht. Glück – über die persönliche Zufriedenheit hinaus (vielleicht ist das die Weisheit, die ich meine) – ist, wie ich‘s bis jetzt übersehe oder erahne, eine Mischung aus Macht, der Entfaltung meiner persönlichen Möglichkeiten und der Einsicht um ihre Grenzen. Das ist kein „Mittelweg“, im Gegenteil. Denn mit „Grenzen“ meine ich nicht die menschengemachten, sondern die kosmischen. Ihnen beuge ich mich, diskussionslos und demütig. Was leicht fällt: So viel weiter sind sie als jene, die Menschen mir steckten, stecken wollten, zu oft stecken konnten. Aber Letzteres zu ändern, ist meine Macht. Eine, die von Geburt an in mir lag. Ich musste sie nur finden. Und erkennen. Und einüben. Und auszuüben anfangen. Versuch und Irrtum. „Nur“ heißt nicht, dass es einfach gewesen oder mir leicht gefallen wäre… Ich hatte Hilfe – oft unerwartete – und, allen Rückschlägen zum Trotz, immer wieder erstaunliches Glück. Das alles zu entdecken – und dem nicht nur ausgeliefert zu sein, sondern es mit beeinflussen zu lernen –, halfen mir Runen; damit weiterzukommen, auch. Viel weiter, als ich je gedacht hatte… Deshalb erzähle ich das alles. Vielleicht hilft es ja auch dir.

So beschreiben mir die Runen des Älteren Futhark die ganze Welt. Sie zeichnen eine Art Landkarte – genauer: viele Arten von Landkarten, je nach Bedarf – und nehmen mich gleich mit. Sie geben nichts vor, was ich zu tun oder zu lassen hätte. Sie nehmen mir keine Entscheidung ab, aber sie ermöglichen mir, besser zu erkennen, warum ich welche treffe und welche ich wagen sollte, wenn ich mich denn schon (oder endlich) traute. Oder so ähnlich. Womit ich sagen will, dass es keine Patentlösungen braucht. Wo immer mir solche angeboten werden, misstraue ich ihnen zutiefst und, wie alle Erfahrung lehrt, zu Recht. Was du nicht selbst machst und verantwortest, macht meist unfrei. Ich mache eine Menge Sachen nicht selber, weil ich sie nicht kann oder mag und bin mir der Folgen bewusst. Niemand kann oder muss alles können. Aber Prioritäten setzen: Das lohnt. Was du willst, machst, nehmen und geben kannst. Es gibt keinen „Alles-wird-besser-Knopf“, so wenig wie endgültige Gewissheit über irgendwas. Aber Haltegriffe – die gibt‘s. Wo sie mir fehlen, sehe ich zu, dass ich mir welche schaffe. Daran entlanghangeln – das ist das Abenteuer. Ich kenne schlechtere.


Runenstein auf Gotland, Schweden

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