Kitabı oku: «Auf dem Schlappseil»
Eberhard Raetz
Auf dem
Schlappseil
100 Skizzen nach Parkinson
1
So ungefähr könnte es verlaufen sein:
Wir sind beim Sohn zum Abendessen eingeladen. Er hat mit seiner Frau gut gekocht und Mediterranes ist aufgetischt. Sie probieren oft Neues aus. Von einem längeren Studienaufenthalt in Damaskus hatte er Rezepte mitgebracht, zum Beispiel für die verschiedenen lokalen Vorspeisen: „Mezzé“. Dort hatte ich ihn (hier auf der Universität hatte er neben Recht auch Arabischkurse belegt und sprach es fast fließend) in der damals noch intakten schönen Stadt zwei Wochen besucht und war begeistert gewesen. Dass man den Vater Assad an allen Wänden und in Taxis aufgehängt hatte, erschien mir zwar grotesk, ich nahm es damals aber nicht mal übel und kaum zur Kenntnis. Das bunte Leben zählte mehr, wie zum Beispiel das Erlebnis sich dort die Haare schneiden zu lassen – inklusive Teeservice und Unterbrechungen, hervorgerufen durch kritische Szenen in ägyptischen Tele-Soap-Operas – und wenn man dann nach dem Preis fragte, schüttelte der Barbier den Kopf und man gab wohl dreimal mehr als nötig. Wir wohnten bei einem christlichen Offizier der Garde und daneben lag ein Frauenkloster und nicht viel weiter weg die Koranschule. Nach einem unverständlichen Ritual kamen Nachbarn zum Teetrinken in den Innenhof vom Haus und gingen auch wieder.
Die Enkelkinder haben, verständlich, keine allzu große Geduld und man erlaubt ihnen nach dem Essen früh vom Tisch aufzustehen. Sie spielen dann; die Erwachsenen besprechen sich derweil und wir finden keinen Grund uns zu streiten. Man sitzt noch eine Weile auf dem kleinen Balkon mit Sicht auf einen Streifen vom See und über die vierstöckigen Wohnblocks, auch an der Kathedrale vorbei, die man hier stolz als bedeutendes gotisches Denkmal bezeichnet (meiner Ansicht nach hatte man später eher unglücklich daran herumgebaut!). Der Ausschnitt vom See ist groß genug, dass man sich die ganze weite Fläche vorstellen kann.
Wenn dann nach einer Pause eine Person aufsteht, folgen die andern und wir räumen gemeinsam das Geschirr ab. Ich helfe auch mit und es kommt dazu, dass ich einen schweren gusseisernen Topf in der linken Hand halte und in der Küche Tisch und Herdplatten noch mit den gebrauchten Schüsseln belegt sind und ich warten muss, bis die Frauen einen Platz zum Abstellen geräumt haben, und das Gerät wiegt schwer. Und sowieso ist die linke meine schwache Hand, aber das erklärt doch nicht, dass der gusseiserne Kübel plötzlich so heftig zu zittern beginnt, als habe er sich selbstständig gemacht oder ich machte ihn zum Spaß flattern. Ich denke – warum auch – an das flinke Zittern der Unruh in meiner Uhr, die aber trotzdem manchmal stehen bleibt.
Und die Tochter schaut dem erstaunt zu. Dann nimmt sie mir schnell alles ab und fragt verdutzt und etwas beunruhigt: „Was ist eigentlich los mit dir?“
2
In diesem Augenblick gehen mir zwei Gedanken durch den Kopf, die offenbar nichts mit all dem zu tun haben. Aber soll ich sie deshalb aussperren? Oder einen oder den anderen? Oder welchen bevorzugen? Keiner hat sich ja etwas zuschulden kommen lassen!
Also nehm’ ich durchaus unbedacht einen zuvor: Wie ich vorm Eingang der noblen Klinik stehe und – keineswegs aus Angst vor der bevorstehenden heute eher gängigen Operation – mich etwas davon abhielt durch die Tür einzutreten, welche sich beim Näherkommen übrigens schon automatisch geöffnet hatte, was mir aber plötzlich vorkam, als öffnete sie ihr Maul um mich zu verschlucken (der böse Wolf die Großmutter, oder war es das Rotkäppchen, oder beide?).
Also, ich hielt inne, wahrscheinlich nur Zentimeter vor der Schwelle, von wo aus der Mechanismus eine Tür hinter mir zuschnalzen lässt. Kurz, diese Schranke einmal überschritten, das hätte eine Umkehr noch schwieriger gemacht. Wie auch immer, ich muss dann ein paar (wie lange und in welcher Einheit gemessen?) Sekunden wahrscheinlich, jedenfalls kam es mir sehr lange vor, wie erstarrt angehalten haben, bis ich mich auf dem gesunden Bein vorsichtig umdrehte. Ich ging – sichtlich erleichtert – den gut gerichteten von Thuja-Hecken begrünten und keineswegs unfreundlichen oder gar bösartigen Fußweg wieder gegen die Hauptstraße zurück.
Nur der Vollständigkeit zuliebe erwähne ich hier den zweiten Gedanken: Es drehte sich um japanische Festungskunst, die im Gegensatz zu der durch Vauban geprägten europäischen nicht auf dem Konzept Glacis, Demi-Lunes und Bastionen beruhte, also Vorrichtungen, die dem Feind das Vordringen zum schwächsten Punkt der Anlage, dem Tor, erschweren sollten; sondern im Gegenteil, den Gegner geradezu einlud einzudringen in einen ins Innere führenden krummen Hohlweg wie in einen Trichter oder Flaschenhals, der sich von Meter zu Meter verengte; derart, dass die Angreifer sich schließlich geradezu ineinander verkeilten, so zu einer aggressiven Aktion unfähig geworden und entsprechend leicht zu eliminieren waren von den auf den zupressenden Mauern postierten Verteidigern.
Ich war denn doch erleichtert, das öffentliche, allem Publikum offene Trottoir zu erreichen. Was soll man ausrichten gegen die Gedanken, die ungefragt in den Kopf schießen, ob sie nun gerade hinein passen oder nicht?
3
Ich hatte mich also nicht von der Glastür gefangen nehmen lassen. Die nächste Schwierigkeit bestand darin, die Seestraße zu überqueren; obwohl diese zu dieser Mittagsstunde nicht sehr befahren war. Aber ich hatte bei vorherigen Konsultationen beobachtet, dass einige eilige Chauffeure die schlechte Angewohnheit hatten, aus der Kurve heraus in die leichte Senke hinein zu beschleunigen. Also gab ich Acht beim Überqueren. Ich weiß nicht (und der Doktor hatte auch verstohlene Zweifel geäußert), ob ich alle im Rahmen des aktuellen unsinnigen Straßenverkehrs auftretenden Situationen noch schnell genug erfasse. Eine Reihe von Bildern bedrängen mich manchmal: So war ich vor Monaten nachts vom Flugplatz Paris-Roissy aus mit dem Leihwagen auf der Autobahn gegen Lille in den Norden gefahren; ich war erkältet gewesen; vielleicht hatte ich Fieber, ich hätte nicht fahren sollen. Aber die Versuche mit der neuen Produktions-Linie waren für morgen geplant. Es begann zu nieseln, dann schüttete es. Was dann passierte. Ich sah den vor mir fahrenden Lastwagen doppelt in der Gischt, die von deren Hinterrädern hochgeworfen wurde. Zwei Scania-40-Tonner. (Ich schaue immer auf die Marke, selbst wenn es mir schlecht geht.) Aber dann bremste brutal einer der Laster und bäumte sich dabei hinten auf wie ein Mustang. Es gelang mir auch eine scharfe Bremsung durchzuführen und so konnte ich ein Unglück gerade noch vermeiden und dem zweiten Fahrzeug, das seine Fahrt gleichmäßig fortsetzte, nachfolgen. Ich wachte wieder ganz auf. Diese Zweiteilung der Realität fand ich später interessant und ich hatte daraufhin Johannes H. vorgeschlagen einen Text zu schreiben, in dem beide Autoren (er und ich) die nächsten Kapitel abwechselnd bearbeiten würden. Ich hatte es mir ungefähr so vorgestellt: Jeder sollte, fortlaufend, einmal er und einmal ich, den vorher gesponnenen Faden, dasheißt die Handlung aufnehmen und versuchen auf seine Art und Weise weiterzubringen. Das könnte sich zum Beispiel im Falle eines Kriminalromans dazu eignen, dass einer die Hauptfigur als Mörder, der andere ihn als Detektiv agieren lassen könnte. Oder: Ich erbiete mich anzufangen, mit einer Schilderung des Karlsruher Schlossparks und wie ein Paar durch die trocknen Blätter (das könnte Kaspar Hauser mit Begleiterin gewesen sein) gegen den Turm zu schlendert, während in Johannes’ nächstem Kapitel die Handlung in den Kraichgau verlagert wird, den er von seinen Weinproben und Büchern her so gut kennt und beschrieben hat.
Johannes schrieb zurück, aber es klang so positiv, dass man gleich Zweifel hegen mochte, ob er von der Idee wirklich begeistert war. Es ist dann auch nichts daraus geworden.
Da hatte ich nachher erwogen, dass ich das auch selbst probieren sollte, insbesondere unter Benutzung der Erinnerungen, deren Realität mich ja so plagen könnte, dass es vertretbar wäre, dem Original eine andere, zum Beispiel vergnügtere Version, anzuhängen. Wobei keine, da sie ja alle durch meinen Kopf in meine Finger gegangen sind, völlig falsch sein könnten.
4
Es fehlen mir sicher die Worte, um eine richtige Geschichte zu erzählen. Ich meine eine, die aus dem allwissenden Mythos hervorkommt (oder hervorquellt?) und auch nicht unter der Fuchtel des Minutenzeigers zu leiden hätte. Eine, die alle etwas anginge. Deshalb muss ich mich mit etwas Simplerem wie den Erinnerungen begnügen, denen ich manchmal nur ein falsches Mäntelchen umhänge, sodass sie meinen könnten, es mit der Wirklichkeit zu tun zu haben.
Ich habe in der Zeitung ein Feature gelesen: Dieselben Fragen wurden an Großvater und Enkelin gestellt. Gute Fragen wie: „Was haben Sie gesehen, als Sie als Kind zum ersten Mal aus dem Fenster geschaut haben?“ Und darauf kamen gute Antworten, erstaunlich genau auch von den 14- bis 15-Jährigen. Fast ein bisschen zu schlau und glatt, altklug. Aber einfach gut: „Die Wiese mit dem Kirschbaum und eine Schaukel, aufgehängt an einem unteren Ast.“
Ich erinnere mich nicht mehr an alles, was ich gesehen habe.
Wir sind anfangs auch oft umgezogen. Deshalb habe ich Mühe, einen einzigen Ort zu benennen. Dagegen bleibt mir das Geschrei der Luftschutzsirenen im Ohr und im Kopf. Aber ich mochte es nicht, hätte es gerne ausgelöscht, doch es kreischte in mich rein. Also keine grüne Wiese und kein Kirschbaum mit Schaukel, dagegen vielleicht eine Stadt in Mähren (die Ungewissheit der Zukunft lag drohend darüber), das Zischen der Flaks und wenn sie einmal, die Scheinwerfer entlanggleitend, trafen, dann spritzte eine Pusteblume in die Nacht aller Verdunkelungen. Vielleicht wäre das das Erste. Nein, da war doch ein Sommerbild ... mit der Mutter; aber da war ich noch zu klein zum Nachdenken, beim Baden, ich steckte, glaub ich, in einem Schwimmreifen. Hütchen auf dem Kopf.
Ich dachte an den Nachbarn (der inzwischen verstorben ist); der stand jeden Morgen auf dem Balkon neben unserem und betrachtete den See. Er stammte von hier und liebte also den See, den Blick darauf und er sagte, dass er das seit Jahrzehnten mache, jeden Tag nach dem Aufstehen und vor dem Kaffeetrinken und er (der See) sei nicht ein einziges Mal der Gleiche gewesen. Er hatte es also einfacher, das erste Bild auszusuchen. Den See.
Obwohl er mir keine Worte hatte sagen können für die Farben und die Strukturen von Wellen, über den Wind und die Bewegung. Die Maserungen. Aber dann fand er ein Gleichnis (er hatte als Steinmetz gearbeitet). Es ist, sagte er, wie wenn man aus einem neuen Block Basalt, Granit und Marmor die erste Platte schneidet. Es kommt immer etwas anderes aus dem Gleichen heraus. Jedes Mal!
Ich hatte noch eine halbe Stunde Zeit bis zur Anmeldung in der Klinik. Also gab ich mir je zehn Minuten hin und zurück Gehen auf dem Uferweg.
5
An der Rezeption hatte ich noch ein Formular auszufüllen. Man wollte noch mal (ich hatte ein Ähnliches – oder war es dasselbe? – schon für die Voruntersuchung ausgefüllt) allerlei von mir wissen. Ich fragte, ob es für sie wirklich wichtig sei, wie mein Vater mit Vornamen hieß. Nein, es ist nicht, dass ich etwas zu verbergen hätte. Ich glaube auch nicht, dass es für die amerikanische NSA-Verbrecherbande sich lohnt mir nachzustellen. Aber ich möchte einfach nicht in diesem Moment an meinen Vater erinnert werden und dass mir dann das Bedauern hochkommen könnte, weil ich mich nicht gut verstanden habe mit ihm, oder dass er zu früh gestorben ist und ich immer noch nicht weiß und nie erfahren werde, ob er mir danach hätte weniger fehlen können. Manchmal habe ich Zweifel, ob ich eine genetisch gut gelungene Kombination darstelle. Deshalb bin ich auch an Stammbäumen kaum interessiert und es bringt mich zum Grinsen, wenn Leute bis ins 15. Jahrhundert zurück wissen wollen, wie und wo und unter welchem Namen der Urvater Fritz und Mutter Magdalena (nehme an, brave Leute!) gelebt haben. Als ob das von Bedeutung wäre.
Schon meinen Großvater, des Vaters Vater, habe ich nie gekannt ... offenbar eine ziemlich unangenehme Person. Ein preußischer Spitzhauben-Unteroffizier, vielleicht Zahlmeister. An seinem Tod soll der Vater nicht ganz unschuldig gewesen ein. Er hätte die Leiter halten sollen (erzählte Tante Paula), auf der der Alte stand, um Kirschen abzulesen; und zu allem Unglück hatte er diese noch auf den eisernen Gartentisch gestellt. Was natürlich nicht gut gehen konnte. Außerdem hatte sich Vater auch noch fortgeschlichen, die Leiter rutschte weg und der Mann schlug auf die Kante, stieß die Rippen in die Lunge und verblutete innerlich. Vater wird nicht allzu traurig gewesen sein, wenn er daran dachte, dass er vor versammelter Familie, Mutter und fünf Kindern, mit dem Militärgürtel auf den nackten Arsch gerosst wurde, weil er sonntags nicht zweimal in die Messe gegangen ist. Der Alte habe die Familie noch schnell verflucht, bevor er verstarb. Ein preußischer Katholik. Das schien schlimm genug.
Der andere Opa war ein freundlicher Mann; Schreiner, still und machte nicht viel unnötige Worte. Ich erinnere mich an zwei Begebenheiten, an denen ich nicht mal teilnahm, vom Hörensagen: Dass er mit einer Staffel Badischer Dragoner (?) einen Teil des Militärdienstes im preußischen Potsdam verrichtete, und dass er bei einem bedauernswerten Unfall an einem Bahnübergang einen Teil der Hirnschale verlor, die durch eine silberne Platte ersetzt wurde, die ich gerne gesehen hätte. Aber er hatte immer eine Mütze auf.
Doch! Noch etwas! Gegen elf morgens gab es Vesper in der Schreinerei; dazu holte der Großvater einen Krug Most aus dem Fass im Keller. Man stieg steil ab auf einer Wendeltreppe; von den Wänden tropfte das Wasser über weißgraue Flecken. Später musste das verschimmelte Haus abgerissen werden. Für die Kinder war es strikt verboten allein runterzusteigen. Ich hätte es gern probiert, aber es fehlte mir der Mut.
Ein Letztes! Die Mutter berichtet, dass der Großvater sie wegen ihrer schwarzen Haare „’s Moorle“ genannt habe. Das klingt gut und schön. Einfach schön.
Jetzt habe ich mehr, als ich dachte, aus meinem Gedächtnis rausgeholt.
6
Die Damen an der Rezeption (man hatte die aber inzwischen durch das schönere, anheimelndere Wort „Empfang“ ersetzt) waren, unter welchem Namen auch immer, tadellos gekleidet, ausnahmslos freundlich, offenbar kompetent ..., empfingen ihn also, lächelnd, als hätten sie schon lange auf ihn gewartet. Das verwunderte ihn. Denn immer wenn man höflich und zuvorkommend zu ihm war, das brachte ihn zurück zu einer schmerzenden Niederlage. Die hatte ihn damals ins „Herz“ getroffen (ich mag sonst dies Wort ja nicht, das sich besonders dazu eignet, in vielen schmalzigen Liebesliedern vorzukommen; ganz sicher aber als „corazon“ in allen spanischen).
Ich glaube nicht, dass er die folgende Geschichte richtig erzählen kann, zu oft werden ihm der Trübsinn und eine müde Enttäuschung in die Quere kommen.
Es war an Silvester. Es war trüb und nasskalt draußen, aber die Menschen schienen entschlossen, das neue Jahr zu feiern. Er war 17 oder 18 und hatte Mühe Freunde zu finden, Mädchen erst recht nicht. Dann war er kurz, eher zufällig oder weil er nachgelaufen war, in eine Gruppe junger Leute geraten, aber noch weit entfernt davon dazuzugehören. Trotzdem hatte er sich an einem Abend in einem Bistro ganz gut mit einem unterhalten und es kam auch dazu, dass sie von einem Silvester-Fest sprach, das bei ihrer Freundin abgehalten werden sollte. Das war aber noch allgemein gehalten. Mit unausgesprochenen Vorbehalten! Er war aber so übermütig gewesen anzunehmen, dass er auch dazu eingeladen wäre. Man hatte es ihm aber nicht versprochen und dann war auch nicht mehr davon die Rede. Schließlich gehörte er ja auch nicht richtig dazu. Danach fragen wollte er nicht aus falschem Stolz. Den Eltern hatte er aber schon von der Sache vorlaut erzählt. Obwohl er ein Stiller war. Also bereitete er sich für den Ausgang vor und lief dann stundenlang allein durch die endlose Nacht durch verlassene Straßen, nachdem er in einer Kneipe auch nur stundenlang Bier und eine unbekannte Kälte gefunden hatte. Dass dann bei den meisten an Mitternacht ein Jubel ausbrach, konnte ihm auch nicht weiterhelfen. Er vermied nur mit Mühe am Haus vorbeizuschleichen, wo drinnen es die andern wahrscheinlich lustig hatten.
Sie spielten Handball am Anfang der Studentenjahre. Er war eigentlich zu klein und leicht dazu, aber er war fix auf den Beinen und zäh im Verteidigen; biss sich am Gegner fest. Das konnte diesen überraschen und so war er eigentlich in der Mannschaft wohlgelitten. Man hatte ihm die Verbissenheit nicht zugetraut. Außerhalb des Sports fand er keine Beziehungen. Er sprach nicht viel, kam nicht zurecht. Die passenden Worte fanden sich meist nicht ein, zum richtigen Moment, genau für die Situation. Er konnte auch nicht mit einem Rückwärtssalto prahlen. Oder einem Auto.
Nach dem Match duschen in der Universitäts-Sporthalle. Sie hatten dafür eine besondere Technik entwickelt. Man stellte eine Dusche auf „heiß“ und die nächste auf „kalt“ und dann lief man hintereinander unter der Reihe Brauseköpfe im Kreis durch und nach einer Weile wusste man nicht mehr, wo es heiß oder kalt war.
Udo war normalerweise der Erste vorneweg, weil er dazu fürchterliche Wikinger- oder Indianerlieder erfand, dem die andern verzückt beim Totemtanz nachfolgten. Am Ende schrieen alle: „Odin, Odin“.
Die Haut war schließlich weich und rot geworden und der schlaffe Penis war so kaum zu gebrauchen. Dann diskutierten die anderen beim Anziehen, ob man den Freundinnen trotzdem abends noch etwas zumuten könne? Und man lachte. Er lachte hohl mit.
7
Eine Hüftoperation war vorgesehen. Das heißt, er hatte Schmerzen im rechten Bein; die Röntgen- und andere Analysen schienen das zu bestätigen. Bei jedem Schritt, insbesondere bei Belastung. Es war eigentlich noch auszuhalten. Aber man erklärte ihm, dass es immer ärger werden würde mit dem Alter; der Arzt sagte, dass er ihn nicht zur Operation überreden wolle. Er komme ja so oder so und sowieso irgendwann später wieder dafür vorbei.
Dann hatte sich ein Patient zurückgezogen; so wurde ein Termin schon in 14 Tagen frei; andernfalls müsse man bis Anfang Herbst warten.
Man erklärte ihm einiges; zeigte das Modell: Anstelle des weggesägten Knochens rammte man einen riesigen metallenen Zinken in den Rest von Röhre und Mark, nachdem man Nerven und Muskeln freigelegt hatte, die dann wieder in ihre alte Position verspannt werden. Man habe, sagte der Arzt, enorme Verbesserungen bei den Materialien gemacht; früher seien Kugel und Pfanne zwar aus resistenter Stahllegierung ausgeführt worden; das habe aber auf die Dauer etwas Abrieb nicht verhindert. Die Legierung habe auch Kobalt enthalten, das sich in Spuren im Fleisch eingesetzt und letzten Endes zu gefährlichen Entzündungen geführt habe. Das hätte er ihnen als Physiker gleich sagen können.
Im großen Haus der Schreinerei holte man Most aus dem verschimmelten Keller zum Vesper. In der Waschküche (auf dem Weg hoch zu Werkstatt und Garten) schlachtete man im Winter ein Schwein, das man manchmal beim Bauern gegen einen Tisch oder Schrank eingetauscht hatte. Er erinnerte sich am besten an die „Metzelsupp“, die umso besser wurde, je mehr Würste beim Kochen aufplatzten und Blut auslief und man die Knochen auskochte und das Mark ausrann. Das gab Geschmack.
Elisabeth erzählte, dass man bei ihr zuhause für Weihnachten ein Karnickel mit der Armeepistole erschoss. Aber die Kinder hätten nicht zuschauen dürfen. Die Mutter habe nicht davon essen wollen. Daher gab es am 24sten Pastetchen mit Hühnerfleisch und Dosenerbsen.
8
Das Haus vom Großvater (dem Schreiner) war ein verwunschenes Durcheinander: Man hatte sich wohl beim Bauen und Anbauen kaum ausgedacht, was dabei herauskommen würde, und dann sah man am Ende, dass die Klötze in der „Wunderschachtel“ eigenartig zusammengesetzt waren. So nannte es der Onkel Viktor.
Auf der Höhe der Hauptstraße lag links das Möbellager. Er hatte das nie richtig verstanden; für ihn war da irgendwie etwas nicht Ordnung. Man hoffte in der Familie, die Sachen wegzubekommen (verkaufen), aber der Boden wurde immer dichter verstellt. Darüber war eine vermietete Wohnung; er erinnerte sich an zwei Schwestern in den Dreißigern, nicht verheiratet, die gar nicht hierher passten. Vielleicht nur da waren wegen dem Krieg oder durch etwas dadurch Erklärbares. Es kam ihm vor, als kämen sie aus einer lange vergangenen Zeit. Sie hatten einen kleinen Flügel im Wohnzimmer stehen und darauf stand eine steinerne Büste von Schubert (vielleicht war sie aber aus Gips). Sie hatten lange faltige Röcke an. Die raschelten manchmal geheimnisvoll und erregten noch ganz undeutlich seine Fantasie.
Auf der anderen Seite gegen die Straße versperrte ein hohes, aus Metallstäben geflochtenes Tor den Eingang, das man aber in der Mitte in zwei Flügel aufziehen konnte. Dahinter lag der mit grauem Kiesel ausgelegte Hof (wo er später mühsam Radfahren lernte). Darüber kam man zum Haupthaus, das man wegen unausrottbarem Schimmelbefall später abriss und aus dessen Keller man den Most (halb Äpfel, halb Birne, ungefähr) im Krug (schon zweimal) geholt hatte. An der Tür war keine Klingel, aber ein furchtbarer bronzener Löwenkopf, den man gegen die eingelassene Metallplatte schlagen musste. Das hallte das Treppenhaus hoch. Ich hab keine Lust weiter in Einzelheiten zu gehen. Vorerst nur so viel: Einmal eingetreten, er hatte Müh, die schwere Tür aufzustoßen, da fühlte er sich gleich allein gelassen. Eine steile Holztreppe mit Handlauf. Nach oben ... Links unten gleich der Großeltern Altenwohnung mit einem riesigen Kachelofen, der beim Abriss auch daran glauben musste. Das machte ihn traurig, denn das war ihm der Mittelpunkt der Welt. Ein riesiges Bild mit tanzenden Mädchen noch über dem Ehebett. Etwas Hans-Thoma-Ähnliches.
Die Großmutter war der Mittelpunkt mit ihrer weichen strahlenden Güte und eben dem winterlichen gelben Kachelofen, auf dem Äpfel schmorten. Viel zu spät fiel es ihm ein, dass er sich ihre badisch-hinterländischen Redensarten hätte merken, gar aufschreiben sollen; wie (doch für die Richtigkeit übernehm ich keine Verantwortung): „die hots Geriss wies Bibbes Gans“ oder „die hawe widda de Matze gegampft“.
Doch noch vor dem vorläufigen Abschließen: Und dann war unter der Treppe das Klo, das von Zeit zu Zeit mit dem Güllewagen leergepumpt wurde. Ein kleines Zimmer noch mit Fenster mit Sicht zum Heuschuppen und unter die Außentreppe („d’Holztrepp“). Das war einmal an eine ältere Frau vermietet worden, aber nur kurz, bis sie starb, dann ließ man das Zimmer einem Gesellen, der zu weit weg wohnte „hinerem Berg“, um jeden Abend heimzukommen.
9
Ich bin ein fauler Leser. Ich begründe und verteidige es damit, dass es nicht viel lesenswertes Neues gebe. Ich verfechte es auch damit, dass meine (sag ich mal so hin!) ausgezeichneten Bücher offenbar auch nicht viel gelesen werden. Jetzt muss ich aber diese, wie ich glaubte, gesicherte Position zumindest vorübergehend verlassen: wegen Alice Munro, der kanadischen Kurzgeschichten-Schreiberin. Sie setzt gute und schlechte Menschen in die Welt, bösartige und solche, die sich freuen oder heulen möchten, aber alle sind so, als könnten sie es nicht fassen Ausgewählte zu sein, die viel verstanden haben und Träger einer mythischen Geschichte sind. Solche, die Noah wahrscheinlich auf der Arche mitgenommen und mit denen Electra sicher gerne über Hass und Liebe geschwätzt hätte, und Faulkner wird sich wohl ärgern, dass der Whiskey sie ihm zu früh weggenommen hat.
Ich bin sonst Zeitungsleser, beziehe mein Halbwissen zum Beispiel daraus. So das Interview mit Elsie Eiler, der einzigen Einwohnerin von Monowi/Nebraska, früher einmal ein typisches Provinzstädtchen, aber die Jungen sind längst weggezogen und die Alten weggestorben. Sie betreibt dort seit vierzig Jahren und immer noch eine Bar, hat sich auch von sich selbst zur Bürgermeisterin wählen lassen, zum Kämmerer dazu und, fürs Kulturelle, zum Vorstand der Stadtbücherei. Die Bücher sind eine Stiftung ihres verstorbenen Mannes. Die Leute kommen von weither zu ihr „aufs Land“, das hat aber einen viel tieferen Sinn als am Wochenende mit der Familie ins Schwimmbad nach Elkcity oder Greybend zu fahren, was letztlich nicht viel mehr heißt, als sich mit Wasser vollzuspritzen. In Monowi/Nebraska aber ein Bier an Elsies Bar zu trinken, das ist dagegen das Ende einer Wallfahrt auf pfeilgeraden sandigen Schotterstraßen bis an die im Atem der Ewigkeit auf- und zuschlagende Saloontür. Und das Bier habe deshalb einen leichten Geschmack nach Weihwasser und Booze.
Was passierte noch Wichtiges? Eine Dame berichtet, dass sie jahrelang in einem Apartment House neben der Wohnung des meistgesuchten Massenmörders der Vereinigten Staaten (James J. Bulger) gewohnt hat. In Santa Monica, California, ganz ohne Schwierigkeiten. Er sei nur deshalb aufgeflogen, weil er seine entlaufene Katze gesucht habe und auf seinem (nach der Katze) Fahndungsblatt sich selbst aus Versehen mit im Hintergrund abgelichtet hatte. Worauf eine Dame (isländische Schönheit?) ihn wiedererkannte. Ob die Geschichte etwas für Jim Thompson oder Raymond Chandler gewesen wäre? Apartmenthäuser sind ja der ideale Raum für perfide Verbrechen wie zum Beispiel in Thompsons „The Grifters“.
Schließlich. Von einem französischen Film über ein junges Mädchen aus „gutem Hause“, das ehrbar beschließt, Prostituierte zu werden. Ich denke da auch an „Irene“ an der Maxim Bar in Zürich oder die „Belle de Jour“ Catherine Deneuves. Das ginge sogar schlecht weiter bis zu Hubert Selby’s „Tralala“ in „Last Exit to Brooklyn“ oder die unbenannten „College Girls“ aus einem Pornovideo, die zum Schulschluss beim Abschlussball mit den Kolleginnen kindlich fröhlich alle Spielarten des Koitus vorführen. Ganz ohne Scham und Bedauern.
10
Der Enkel fragte mich, warum ich denn das linke Augenlid weiter runterhängen lasse als das andere? Auch überraschte ich mich damit, dass mir aus dem linken Mundwinkel manchmal Spucke tropft, insbesondere beim Essen, und linker Hand zitterte ich ja schon mit dem schweren Topf. Und der Chirurg, der mir den Oberschenkelknochen sägte, machte ungebeten die Feststellung, dass ihm mein ganzes Auftreten nicht gefalle (das sei alles so unsicher, irgendwie wie „ein alter Mann“), und er werde mich gleich beim Neurologen, einem Spezialisten, Professor, anmelden. Er organisiere das. Und Elisabeth stimmte ein: Alles sei bei mir einfach nicht mehr so wie früher.
Vielleicht war mir doch etwas hängen geblieben vom „Unfall“ bei der Zugfahrt vor Jahren nach Mailand. Dabei hätten damals doch alle Bedingungen positiv zusammenkommen müssen, diese Fahrt von Anfang bis Ende fröhlich ablaufen zu lassen. Ich war, auf eigenen Wunsch, frühzeitig aus dem Arbeitsvertrag ausgeschieden; das hatte mehrere Gründe. Erstens: Durch Zusammenlegung von Interessen und Aufbau von neuen Gruppen war meine Arbeit ziemlich nutzlos geworden. Also, sagte ich mir, lieber gehen, bevor alle anderen den Unnutz auch merken! Dann zweitens hatte ich gehofft, bei einer schnelleren als der offiziellen Pensionierung fünf Jahre für mich und zum effizienten Schreiben rauszuholen. Obwohl sich das dann eher als Fehleinschätzung erweisen sollte. Trotzdem bin ich damals vogelfrei im Zug vom See aus gestartet, bei „schönstem“ Wetter (und hier enthielt das Wort einen geradezu aufdringlichexquisiten Geschmack bei all der Überdosis Aquamarin im Wasser, Schneepuder auf dem Berg und rosaroten Magnolien und weißer Kirschblüte zusammen). Also hätte hier und heute ein schwarzer Strich, Pistolenschuss oder selbst ein dunkler Gedanke keinen Sinn gehabt und wäre völlig falsch am Platz gewesen. Ich war von ehemaligen Geschäftsfreunden zu einem verspäteten Abschiedsbesuch nach Arezzo eingeladen worden. In der Stazione Centrale Milano würde mich der Fahrer abholen. Ich saß allein in einem Abteil, als mir kurz vor der Einfahrt in den Simplon-Tunnel ein Knall ins Hirn fuhr, explodierte; ich wurde ohnmächtig, fand mich auf den Sitzen liegend. Antischmerz-Tabletten. Das linderte etwas. Man fand später ein Blutgerinnsel im Kopf, etwas war geplatzt, aber es war nicht groß genug, dass sich eine Operation gelohnt hätte.
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Sagte jener viel gereiste Genießer, dass richtige Zugreisen lange dauern sollten und sich auf höchstem Komfort fortbewegen. Also Orient Express, The Royal Scotsman, Glacier Express, Pride of Africa, The Indian Maharaja ... Geschwindigkeit spiele keine Rolle, hohe sei eher abträglich bis unerträglich. Heute sei es leider eher das Gegenteil: hastig und ungemütlich ...
Seine erste Bekanntschaft mit einem Zug war nun keiner gängigen Kategorie einzuordnen; es war in einem Kohle- oder Brikettzug. War es noch im Krieg oder war der gerade schon vorüber? Sicher ist, dass trotz Krieg nach einem ihm ganz unverständlichen Fahrplan Züge fuhren. Überhaupt schienen Züge ganz unabhängig und unbelastet von der allgemeinen Lage zu verkehren. Güterzüge zumindest und diese waren Gott sei Dank nicht mehr zum Transport von Menschen abgestellt. Seine Mutter und er hatten trotzdem darin Unterschlupf gefunden und sie fuhren grob in die richtige Richtung, das heißt gegen Westen, das hatte auch der Eisenbahner bestätigt, der ihnen die Tür aufgeschoben und wieder verschlossen hatte. Wann sie wieder aufgehen würde, dazu konnte er nichts sagen. Man würde die Ware schon wieder ausladen müssen, irgendwo. Alt genug war er noch nicht um darüber nachzudenken, es musste bei ihm trotzdem nur so eine Ahnung eingezogen sein, nach welchen eigentümlichen und unvorhersehbaren Regeln man von einem Punkt zum andern kommen muss und sicher am seltensten auf einer Geraden. Von einer tschechischen Stadt mit zugehörigen Worten (in deutsch!) wie Spielberg, Treppengasse und Augarten bis in ein badisches Dorf mit Elzbach, Katzenbuckel und Grünkernsupp’. Vorerst nahm die Fahrt ein gutes Ende. Man hielt tatsächlich an, die Tür wurde aufgeschoben und, ein Wunder, man fand sich bei den Amerikanern und dazu noch in der Nähe einer amerikanischen Feldküche. Er erinnerte sich an einen Mann mit schwarzem Kopf und schwarzen Armen (das war der Erste, den er so gesehen hat) und an einen grau gestrichenen Kessel und der Mann war so freundlich und gab ihm daraus etwas Braunes und Süßes zu essen, das er verschlang; der Rest aus dem fast geleerten Topf gekratzt, und dass er lange glaubte alle farbigen Menschen würden lächeln aus festgeformten fröhlichen Gesichtern mit platteren Nasen und Süßes verteilen. Viel später erst, als ihm diese Szene wieder einfiel, kam er auf den Gedanken, dass es sich um so etwas wie Schokoladencreme gehandelt haben musste. Und den Koch.