Kitabı oku: «Aufstieg ins Bodenlose»

Yazı tipi:

Eberhard Saage

1943 in Treuenbrietzen geboren, lebt in Freiberg.

Von ihm erschienen die Romane

„Wohlstandsmüll – Lehrjahre eines

Naiven“ 2005,

„Der ruhende Löwe“ 2007 und

„Totschweigen“ 2008.

Zum Bildband „FREIBERG –

SCHON VERGESSEN?“ 2009

schrieb er den Text.

Eberhard Saage

AUFSTIEG INS BODENLOSE

Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelzeichnung © Gitta Maxheimer

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Über den Autor

Aufstieg ins Bodenlose

Alles sollte sich für mich verändern. Aber noch ahnte ich nichts davon und begrüßte den Headhunter, der mich wiederholt um einen Termin gebeten hatte, selbstbewusst: „Ich sagte Ihnen doch schon am Telefon: Danke, kein Bedarf. Sie hätten sich die Reisekosten sparen können.“

Ohne etwas zu erwidern, nahm er selbstbewusst an meinem breiten Beratungstisch Platz und trank einen Schluck Kaffee, den Greta, meine Frau, für Gäste viel zu stark machte. Wie immer, wenn ich einen Besucher empfing, servierte sie den auch mir in einer dünnwandigen Tasse der tschechischen Firma Haas & Cajzek mit Goldrand und pastellfarbenen Blumenmuster und nicht in einem der großen Pötte, die sie aus unseren Urlauben mitbrachte. Der Headhunter blickte sich ungeniert um. Meine Büromöbel stammten noch aus der DDR-Produktion. Der Aktenschrank ähnelte den wuchtigen Schrankwänden, die in vielen Neubauwohnungen gestanden hatten. Mein alter Schreibtisch besaß noch keine Verkleidung für die Computer- und Telefonkabel. Sie hingen lose von der Tischplatte herunter zu einer breiten Verteilerdose.

„Wie gehen die Geschäfte?“, fragte er.

„Bestens!“

„Geben Ihnen Geschäftsleute, die Sie in diesem Büro empfangen, tatsächlich Aufträge?“

„Tatsächlich! Hundert Beratungstage jährlich würden mir reichen, aber ich habe zweihundert und mehr. Als Geschäftsführer hatte ich meine Brötchen nicht so leicht verdient.“

Der Headhunter zog einen Mundwinkel nach unten. Er kannte, wie ich später erfuhr, meine finanzielle Lage bereits sehr genau, antwortete aber: „Herzlichen Glückwunsch. Trotzdem sieht es hier nicht so aus, als könnten Sie ganz locker auf ein Gehalt von einer Million verzichten.“

Ich senkte sofort meine Augen, weil er nicht sofort bemerken sollte, dass mich diese Zahl tief beeindruckte. Eine Million! Mein Gott, eine Million pro Jahr! Dagegen waren meine Schulden, die uns nicht mehr ruhig schlafen ließen, ja nichts! Was würde denn diese Million für uns bedeuten? Abzahlen dieser Schulden, wieder eine angemessene Wohnung, Reisen in alle Welt, auf die wir in den letzten Jahren verzichten mussten. Aber weit mehr noch – neue Selbstsicherheit für mich und bestimmt auch Abklingen der wieder auftretenden psychosomatischen Herz-Kreislauf-Beschwerden, die, verdammt noch mal, urplötzlich beginnen konnten, wie bei unserer letzten Fahrt auf der Autobahn.

„Wenn du den großen Auftrag der Hütte erhältst, packen wir es“, hatte Greta zuversichtlich gesagt, jedoch sofort ihre Ängste verraten, „aber wenn nicht?“

Da hatte dieser altbekannte Panzer meinen Brustkorb zusammengedrückt. Eigentlich hätte ich anhalten müssen, aber ich wusste ja, dann würde es noch schlimmer werden. Greta hatte das natürlich bemerkt und gesagt, als der nächste Parkplatz angezeigt wurde: „Du brauchst eine Pause.“

Ich stoppte abseits von den anderen Pkw und den Toiletten, und kaum hatte ich den Motor abgestellt, fühlte ich die Angst vor einem echten Herzinfarkt und die Panik in mir aufsteigen.

„Bitte Greta, steig sofort aus. Ich muss RMT machen.“

Ich senkte den Kopf, legte meine Hände auf die Oberschenkel und nahm bald meine Ängste wahr. Die momentane Todesangst, aber auch die Zukunftsängste. Gretas Frage war leicht zu beantworten, würde ich den Auftrag nicht bekommen, wären wir wieder pleite. Das konnte ich beim RMT, bei der Regulativen Musiktherapie, ganz objektiv feststellen, ganz ruhig. Und da verschwand der Panzer um meinen Brustkorb. Ich konnte wieder frei atmen und winkte Greta heran. Sie staunte über meinem entspannten Gesichtsausdruck und sagte: „Ich habe das ja nun schon oft erlebt, aber ich verstehe es nicht. Deine RMT kommt mir wie ein Wunder vor.“

„Es ist ein Wunder“, bestätigte ich, „und deshalb kann es keiner verstehen, der es nicht gelernt hat.“

Der Headhunter ließ mich ungestört nachdenken. Endlich wandte ich mich wieder an ihn: „Was sind Sie?

Ein Headhunter? Für diesen Beruf haben Sie aber eine ungewöhnliche Arbeitsweise.“

„Stimmt, Herr Schröder. Ich habe noch nie zuerst über das Gehalt gesprochen. Aber mein Auftraggeber will sehr schnell zu Potte kommen.“

In meinem Kopf kreiste immer noch diese riesengroße Zahl, und ich fragte nach: „Eine Million?“

„Jahresgehalt. Für den Anfang. Plus Gewinnbeteiligung natürlich. Den Prozentsatz müssten Sie selbst aushandeln.“

„Sie suchen also keinen Geschäftsführer, wie ich nach unseren Telefonaten gedacht hatte, sondern einen Vorstand?“

„Wenn Sie das bringen, was mein Auftraggeber erwartet, könnten Sie sogar Vorstandvorsitzender werden.“

„Hat Ihr Auftraggeber auch einen Namen?“

„Selbstverständlich, aber darüber können wir erst später reden. Erst muss er sicher sein, dass Sie interessiert sind.“

„Nein, so läuft das nicht. Ich lasse mich doch nicht von einer Katze im Sack kaufen.“

„Auch nicht für eine Million?“ Wieder erschien das wissende Lächeln im Gesicht des Headhunters. Ich schwieg eine Weile und antwortete dann: „Okay, lassen wir das erst einmal. Wie würde es weitergehen?“

„Wenn Sie einverstanden wären, würde ich Ihnen eine Internetadresse geben.“

„Eine Internetadresse? Wofür?“

„Für die üblichen Tests. Sie wissen schon – nur ein paar hundert Fragen, die Sie beantworten müssten.“

„Ja, ich weiß. Ich habe diese Tests zwar noch nicht selbst absolviert, denn die hielten meine damaligen Vorstände nicht für nötig, aber andere Geschäftsführerkollegen haben mir darüber berichtet. Einem harmlosen Grundblatt über die Ausbildung und die bisherigen Arbeitsstellen folgten clever ausgeklügelte Frageblöcke, in denen wichtige Fragen immer wieder gegengecheckt wurden, so dass es unmöglich war, sich zu verstellen oder auszuweichen. Danach fühlten sie sich wie nackt und entblößt vor Wildfremden. Meinen Sie diese Tests?“

„So ungefähr.“

„Nein danke. Kein Bedarf“, lehnte ich entschieden ab. Nicht nur, weil mich diese Tests ankotzten, die meines Erachtens Dummköpfe, die sich für ausgebuffte Psychologen hielten, entwickelt hatten. Ich hielt die nur für die neue Managergeneration geeignet, der diese stromlinieförmigem jungen Dachse angehörten, die widerspruchslos alles machten, was ihre Gesellschafter forderten, und die wir Älteren als jung, dynamisch und erfolglos bezeichneten. Ich reagierte auch deshalb so, weil ich die Achtung und das Vertrauen meiner alten Vorstände erst erworben hatte, als ich mich Weisungen, deren Befolgen meiner Firma geschadet hätte, widersetzt hatte. Mit der Aufforderung zu diesem Test wollte der unbekannte Auftraggeber vielleicht prüfen, ob ich mich immer noch so verhalten würde.

„Sehen Sie mich an“, fuhr ich fort, „ich bin Mitte Fünfzig und habe graue Haare, die mir auch schon aus der Nase und den Ohren wachsen. Die Falten um meine Augen habe ich mir ehrlich verdient. Ich bin zu alt und zu lebenserfahren für die modernen, aber primitiven Spielchen der Personalmanager. Suchen Sie sich einen dummen Jungen, der auf Ihren Vorstandsposten geil ist. Der wird Ihre Spielregeln akzeptieren.“

„Ohne solche Tests werden heutzutage keine wichtigen Posten mehr besetzt“, antwortete der Headhunter mit nach wie vor sicherer Stimme, aber seine Augen wirkten schon nicht mehr so. Ich überlegte einen Moment und entschied mich dann, offen anzusprechen, worüber ich gerade nachgedacht hatte: „Offensichtlich haben Sie sich gut über mich informiert. Dann müssten Sie aber auch wissen, warum ich als Geschäftsführer so erfolgreich war.“

„Weiß ich. Den Bernd Schröder verbiegt keiner, hieß es bei Ihren Gesellschaftern.“

„Sehen Sie! Wenn ich immer so gesprungen wäre, wie es mein Vorstandsvorsitzender gewollt hat, hätte ich nie sein Vertrauen gewonnen. Gerade weil ich mich manchen Weisungen widersetzte, respektierte er mich und ließ mir oft freie Hand. Also, spielen wir mit offenen Karten. Wer will mich unbedingt haben? Welche Position ist zu besetzen?“

„Wie schon gesagt, über Details kann ich noch nicht reden.“ Er blickte auf seine Uhr, als wäre er plötzlich unter Zeitdruck: „Vielleicht belassen wir es erst einmal dabei. Bei Ihnen muss sich ja noch einiges klären. Sie kennen unser Interesse und können in Ruhe darüber nachdenken. Ich melde mich dann telefonisch.“

„Einiges klären? Was meinen Sie damit?“

Er beantwortete meine Frage nicht und stand auf: „Wie weit ist es bis zum Stadtzentrum?“

„Bis zum Altmarkt oder bis zur Tiefgarage an der Frauenkirche brauchen Sie etwa zwanzig Minuten.“

Als wir im Vorzimmer waren, klingelte mein Telefon. Ich ging zurück, und der Headhunter wechselte ein paar Worte mit Greta und musterte auch sie von oben bis unten. Vielleicht war er es nicht gewohnt, dass sich eine Vorzimmerdame nicht wie eine Fernsehansagerin schminkte. Danach brachte ich ihn bis zur Haustür und winkte ihm kurz nach.

„Welchen Eindruck hat er auf dich gemacht?“, fragte ich Greta dann.

„Als er kam, hielt er seine Nase sehr hoch. Als er ging, wirkte er irgendwie überrascht, aber nicht unzufrieden.“ Greta blickte mich an: „Was wollte er eigentlich von dir?“

„Irgendein Investor will mich anscheinend als Vorstandsvorsitzenden haben. Genaueres hat er nicht gesagt.“

„Da hast du ihn wohl schnell abblitzen lassen?“

Ich wich Gretas fragendem Blick aus, und sie ergänzte: „Ich erinnere mich noch an deine Worte nach der Therapie. Nie wieder wolltest du für einen westdeutschen Konzern arbeiten, dich nie wieder diesen arroganten Typen, die in denen Vorstände spielen, unterwerfen. Nie wieder hast du damals gesagt.“

„Ja, habe ich.“

„Aber?“

„Du weißt doch selbst, dass für uns alles von dem großen Auftrag der westdeutschen Hütte abhängt. Damals hat uns die Bank nicht fallen lassen. Aber wie würde sie heute reagieren, wenn wir nicht mehr pünktlich zahlen könnten?“

Greta drückte mich fest an sich und sagte: „Wir werden es schon packen, wir haben es doch immer gepackt.“

„In einer Woche wissen wir mehr. Wenn ich den Auftrag bekommen würde, würde der für die nächsten zwei Jahre reichen. Aber“, ich zögerte, „aber vielleicht weiß der auch das, er machte so eine Andeutung. Hoffentlich dreht der nicht daran.“

„Ach, Unsinn, du siehst Gespenster“, antwortete Greta zuversichtlich, „das wird schon klappen, die mündliche Zusage hast du doch. Außerdem, wer weiß, ob sich dieser Headhunter überhaupt noch einmal melden wird.“

„Vielleicht hat es sich bereits erledigt“, antwortete ich, „er wollte die heute üblichen Tests mit mir machen. Das habe ich entschieden abgelehnt.“

Aber wir täuschten uns beide. Nur eine Woche später rief mich der Headhunter an:

„Mein Auftraggeber ist heute in Dresden. Er will Sie um elf Uhr im Taschenbergpalais sprechen.“

„Um elf Uhr? Das ist in einer knappen halben Stunde!“

„Ja. Fahren Sie sofort los. Er ist es nicht gewohnt, auf jemanden zu warten.“

„Bei wem soll ich mich melden?“

„Melden Sie sich an der Rezeption und sagen Sie, Sie hätten einen Termin mit Herrn Dietmar Freigang.“

Ich ging zu Greta: „Stell dir vor, Greta, der Headhunter hat eben angerufen. Ich muss sofort zum Taschenbergpalais. Dieser Ganove hat mir ganz bewusst keine Zeit gelassen, damit ich mich nicht vorbereiten kann. Versuche bitte, im Internet etwas über einen Dietmar Freigang zu finden, und rufe mich dann sofort auf dem Handy an.“ Ich überlegte kurz: „Irgendwann habe ich diesen Namen schon gehört. Aber ich komme jetzt nicht drauf.“

Ich war gerade abgefahren, da klingelte schon mein Handy. „Für Dietmar Freigang bietet mir Google tausende Ergebnisse an“, sagte Greta, „ein Marathonläufer ist darunter, aber der heißt Stephan mit Vornamen, ein Rezensent, ein Übersetzer und ein Immobilienhändler und Bankenaktionär.“

„Ja!“, rief ich erleichtert, „das ist er. In Verbindung mit einer Großbank habe ich diesen Namen schon gehört. Suche bitte alles über den. Prüfe, ob er auch in der Industrie investiert.“

„Viel Konkretes ist nicht zu finden“, sagte Greta beim nächsten Anruf, „das Meiste bezieht sich auf Immobilien und Banken. Der muss stinkreich sein. Ein paar Mal wird er auch im Zusammenhang mit Lupus, dem Chef der Arbeitgeberunion, genannt. Industriebeteiligungen hat er erst seit kurzer Zeit. Bevor die Metallpreise wegen des chinesischen Bedarfs hochgeschossen sind, ist er in die Metallurgie eingestiegen. Eine Wirtschaftszeitung lobte seine gute Nase für dieses Geschäft. In Dresdner Zeitungen steht, dass er die Hütten AG kaufen will. Die Endverhandlungen sollen bereits heute sein.“

„Deshalb ist der also auf mich gekommen. Der weiß bestimmt, dass ich in dieser Branche lange Geschäftsführer war.“

Ich parkte vor dem Taschenbergpalais und betrat durch die breite Drehtür die Empfangshalle. Hinter dem dunkelbraunen Tresen und vor der dunkelblau gemusterten Wand standen drei junge Herren in schwarzen Anzügen und weißen Hemden. Der Rezeptionist verbeugte sich leicht: „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Mein Name ist Bernd Schröder. Ich habe einen Termin mit Herrn Freigang.“

Der Rezeptionist machte eine tiefere Verbeugung: „Aber selbstverständlich, Herr Schröder. Wenn Sie einen kleinen Moment Platz nehmen möchten?“ Er deutete zu der Sitzgruppe neben der Drehtür und griff zum Telefon. „Herrn Freigangs Besucher ist eingetroffen. Bitte begleiten Sie ihn zur Kronprinzensuite“, hörte ich ihn sagen.

Wenig später bat mich ein ebenfalls im schwarzen Anzug gekleideter Herr zum Fahrstuhl. Das Wort Kronprinzensuite hatte meine Neugierde geweckt. Aber deren Diele, in der wir kurz warten mussten, nachdem der Hotelangestellte an die Salontür geklopft hatte, ließ noch keinen besonderen Luxus erahnen. Ihre Wände waren schlicht weiß tapeziert und bis auf einen breiten Spiegel kahl. Doch dann öffnete von innen ein Herr die Tür, und wir traten in den großen Salon, in dem ein Beach-Volleyballfeld Platz gefunden hätte. Links stand ein ovaler Tisch mit 16 dunkelbraun gepolsterten Stühlen, mit denen die dunkelroten Gardinen, die kostbare hellgelbe Tischdecke und die gelben Tapeten gut harmonierten. Ein Bild mit Putin an diesem Tisch mit seinem typischen schüchtern-traurigen Blick hatte ich bereits in Dresdner Zeitungen gesehen. Rechts standen eine wuchtige, grün gehaltene Sitzgruppe und Möbel aus dem Barock. Im ersten Augenblick war ich von diesem prunkvollen Salon völlig überwältigt und konnte nicht alle Details sofort wahrnehmen, später las er im Internet einen Bericht der stolzen Geschäftsführung über schwedische Innenarchitekten sowie italienische, französische und britische Polstermöbel, Leuchter, Lüster und Lampen.

„Herr Schröder?“, fragte der Herr, bevor der Hotelangestellte mich vorstellen konnte.

„Ja, ich bin Bernd Schröder.“

„Angenehm. Es freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Erhard Fiedler von Herrn Freigangs Dresdner Anwaltskanzlei. Herr Freigang ist momentan verhindert. Wenn Sie solange im Separee Platz nehmen würden?“ Er brachte mich in einen kleinen Nebenraum hinter dem Konferenztisch. Hier stand ein kleiner, achteckiger Tisch mit roten Sesseln neben einem hellblauen Kamin, in dem sich jedoch zu meiner Enttäuschung ein schwarzer, elektrischer Heizkörper verbarg. Ich stellte mich an das Fenster und blickte hinüber zum Zwinger und zur Semperoper. Touristen lauschten dort andächtig den Erläuterungen ihrer Stadtführer, Fahrradrikschas und Pferdekutschen standen für sie bereit, vor einem Kiosk mit gegrillten Thüringer Bratwürsten bildete sich eine Käuferschlange. Auch ich schlenderte gerne durch das einmalige Dresdner Stadtzentrum, doch heute interessierte es mich nicht. Während ich ungeduldig wartete, bis endlich die Separeetür geöffnet wurde, dachte ich an das Schreiben der westdeutschen Hütte, das vor zwei Tagen eingetroffen war. Völlig überraschend hatte es nicht die erhoffte Auftragsbestätigung enthalten, sondern eine lapidare Mitteilung, dass meine potentiellen Geschäftspartner zu ihrem Bedauern von einem Vertragsabschluß absehen müssten. Urplötzlich war mir der erhoffte Großauftrag entglitten. Und urplötzlich, das gestand ich mir in diesem Moment ein, war Freigangs Interesse an mir meine letzte Hoffnung geworden, obwohl ich mich immer wieder fragte, ob der oder dieser Headhunter mir den Auftrag vermasselt hatte.

Dietmar Freigang, der ins Separee kam, erinnerte mich an die distinguierten Banker, mit denen ich oft Kreditverhandlungen geführt hatte. Er trug eine ähnliche Kleidung wie diese, den dunklen Anzug mit den goldenen Knöpfen, spiegelblanke, vornehme schwarze Schuhe und zum hellblauen Hemd eine dunkelblaue Krawatte und ein gleichfarbenes Einstecktuch. Nur sein Gesicht überraschte mich. In ihm war keine Spur von Arroganz zu erkennen. Die feisten Wangen und das leichte Doppelkinn verrieten den Genießer, der gerne gut speiste und eine geöffnete Rotweinflasche nicht wieder verschließen konnte. Und trotzdem strahlte dieses Gesicht eine Energie und Tatkraft aus, die mir vom ersten Augenblick an imponierten. Diesen Eindruck vermittelten insbesondere die lebendigen, funkelnden Augen, die jedoch auch eine gewisse Bauernschläue verrieten. Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich, dass sein noch dichtes, aber schon graues Haar nicht so sorgfältig gekämmt war wie bei den Bankern. Der nur angedeutete Scheitel endete in einem Wirbel mit senkrecht hochstehenden Haaren. Wie ich später erfuhr, kämmte er sich nur morgens mit einem Striegel, den er dann zuhause ließ. Freigang war auch kein Typ, der seine kostbare Zeit mit dem unter Geschäftsleuten üblichen Smalltalk vergeudete. Als er eintrat, telefonierte er noch, dann steckte er das Handy ein, reichte mir seine Hand und stellte sich mit „Freigang“ vor, ließ mir jedoch keine Zeit, mich ebenfalls vorzustellen und fuhr fort: „Sie sind also der Mann, der sich den Tests verweigert?“

„Der bin ich. Bernd Schröder.“

Freigang setzte sich und musterte mich kurz: „Nun gut. Machen wir einen anderen Test.“ Er reichte mir eine gebundene Repräsentationsmappe. „Die ist vom Hauptaktionär der Hütten AG, dessen Anteile ich heute kaufen werde. Prüfen Sie die Zahlen und sagen Sie mir, warum ich sie unabhängig vom momentanen Boom erwerben möchte und was ich danach zuerst machen will. Ich gebe Ihnen maximal 15 Minuten. Melden Sie sich im Salon, wenn Sie die Antworten wissen.“ Abrupt stand er auf, ging zur Tür und griff sofort wieder zum Handy.

Ich musste erst einmal durchatmen und blätterte dann die Mappe durch, um mir einen ersten Überblick zu verschaffen. Sie enthielt viele bunte Fotos von Gebäuden und Anlagen, die alle wie brandneu wirkten, und viele grafische Darstellungen, in denen der gewählte Maßstab die positive Unternehmensentwicklung übertrieb. Aber das konnte mich nicht beeindrucken, denn als Geschäftsführer hatte ich derartige Mappen oft selbst anfertigen lassen, und ich vertiefte mich in die wichtigsten Kennziffern. Als ich mich erhob und zum Salon ging, waren noch keine zehn Minuten vergangen.

Erst jetzt bemerkte ich an der Wand neben dem Konferenztisch das Porträt der Gräfin Cosel. Dietmar Freigang saß ihr gegenüber. „Schon fertig?“, fragte er und blickte auf seine Uhr.

„Ja, ich denke, ich kann Ihre Fragen beantworten.“

Freigang deute auf den Stuhl neben seinem Anwalt.

„Dann schießen Sie mal los.“

„Die Geschäftslage der AG ist phantastisch“, begann ich, „die zu erwartende Rendite außergewöhnlich hoch.

Aber auch wenn die plötzlich sinken sollte, keiner weiß ja, ob und wann die chinesische Blase platzt und die Metallpreise in den Keller gehen, würde die Übernahme der AG Sinn machen.“ Ich blickte zu Freigang, aber der antwortete nichts. „Das Besondere ist die Bewertung der Auslandsbeteiligung der AG. Aus den Darlegungen geht nicht hervor, wie die zustande gekommen ist und wer die zu verantworten hatte, aber sie ist viel zu hoch.

Ich denke, sie ist um cirka 150 Millionen Euro überbewertet.“

„Was soll mich daran besonders reizen?“, fragte Freigang, „das ist doch eher negativ.“

„Scheinbar Negatives lässt sich positiv nutzen“, sagte ich, „ich kann mir denken, was Sie vorhaben. Sie verkaufen die Auslandsbeteiligung schnellstmöglich, nehmen dabei die Wertkorrektur vor und schaffen sich so einen hohen Verlustvortrag. Der alte Kanzler hat ja dafür gesorgt, dass der steuerlich in der deutschen AG zu berücksichtigen ist. Um diese Möglichkeit voll zu nutzen, werden Sie in einem zweiten Schritt mit den inländischen Gesellschaften der AG Gewinnabführungsverträge abschließen. Dann zahlt der ganze Laden erst einmal keinen müden Euro Steuern.“

„Sie kennen sich also aus. Sie wissen, worum es geht.

Der Headhunter, der Sie empfohlen hat, hat sich also nicht getäuscht.“ Zufrieden lehnte sich Dietmar Freigang zurück und wandte sich dem Anwalt zu: „Machen Sie eine Rauchpause, Herr Fiedler.“ Als der den Salon verlassen hatte, sagte er zu mir: „Natürlich habe ich mich über Sie informiert. Ich kenne Ihre Ausbildung und Ihre Berufslaufbahn, Ihre Innovationen und Investitionen in der sächsischen Metallurgie, natürlich auch Ihre damaligen bayrischen Gesellschafter. Die bezeichnen Sie immer noch als Topmann. Aber trotzdem wurden Sie gefeuert.“

„Den Grund dafür werden Sie auch kennen“, antwortete ich, „ich war lange Zeit krank, psychosomatisch.

Danach zwar wieder topfit, aber das Risiko erschien denen wohl als zu groß.“

„Und danach wurden Sie freiberuflicher Berater?“

„Ja.“

„Und? Wie lief es?“

„Ausgezeichnet. Natürlich konnte ich zu Hause nicht sofort Fuß fassen. Keiner wollte dem gefeuerten Geschäftsführer einen Auftrag geben. Die sich vorher geehrt gefühlt hatten, wenn ich mit ihnen gesprochen habe, kannten mich plötzlich nicht mehr. Ein ehemals guter Geschäftspartner, mit dem ich auch persönliche Kontakte hatte, ließ mir mitteilen, dass der weitere Umgang mit mir für seine Firma geschäftsschädigend wäre. Deshalb habe ich es europaweit versucht und vor allem in Osteuropa viele Aufträge bekommen.“

„Und finanziell?“

„Das war super. Ich verdiente bald mehr als vorher.“

„So“, antwortete Freigang, wobei er das O lang zog, „deshalb haben Sie also Ihr Haus verloren, sind Sie immer noch verschuldet und müssen fast alles, was Sie verdienen, einer Bank geben?“

Ich lachte auf: „Ich dachte mir schon, dass Sie auch ohne die Tests alles über mich wissen.“

„Keine Frage“, antwortete Freigang, „aber ich würde gerne von Ihnen persönlich hören, warum Sie abgestürzt sind.“

„Wie gesagt, ich verdiente mehr als vorher. Die Frage war also, wie und wo sollte ich mein Geld anlegen.“

Dietmar Freigang unterbrach mich: „Um es kurz zu machen, wer hat Ihr Geld heute?“

„Schweizer, die ich für seriös hielt. Die bauten hochmoderne, innovative Recyclinganlagen. Sogar in den USA haben die damit Millionen an der Börse gemacht. Auch ich bin auf die reingefallen. Ich habe sogar einen Kredit genommen, um ganz groß einsteigen zu können. Aber zum Schluss gingen die Firmen in Insolvenz, waren die Schweizer mit meinem Geld weg, und mein Haus gehörte der Bank.“

„Aber die Privatinsolvenz ist Ihnen erspart geblieben.“

„Ich hatte Glück, weil ich den Kredit nicht bei einer Großbank, sondern bei einer mittelständischen genommen hatte. Die konnte ich davon überzeugen, dass es auch für sie besser wäre, wenn ich weiter als Berater arbeiten würde.“

„Und nun müssen Sie brav jeden Monat löhnen?“

„So ist es. Viel lassen die mir nicht. Deshalb sind wir nach Gorbitz gezogen. Meine Hausnachbarn, die Hartz IV kriegen, haben auch nicht viel weniger als ich.“

„Wie viel müssen Sie noch abzahlen?“

„Etwa Dreihunderttausend Euro.“

„Ach Gottchen, das ist nicht die Welt und sollte Sie nicht belasten, wenn Sie für mich arbeiten würden. Die könnte ich Ihnen vom ersten Jahresgehalt vorschießen.“

Ich wich seinem Blick aus, um meine aufkeimende Unsicherheit nicht zu verraten. Warum machte der das?

Dreihunderttausend waren für den sicherlich Peanuts.

Aber Superreiche geben doch nicht gerne, die nehmen doch lieber. Die Armen geben den Reichen, so funktionierten die unterschiedlichen Gesellschaftssysteme seit der Erfindung des Privateigentums vor 12.000 Jahren.

Und von den heutigen Reichen sagte ich immer, wenn die drei Euro mehr bekommen könnten oder darauf verzichten müssten, um die Welt zu retten, würden die sich für die drei Euro entscheiden. Also warum machte der das, was hatte der eigentlich mit mir vor? Aber ich dachte auch an Greta. Sie hatte fest daran geglaubt, dass ich den Großauftrag bekommen würde. Als ich ihr die Absage vorgelesen hatte, waren ihre großen Augen plötzlich ganz klein geworden und hatte sie sich abgewandt. Was würde uns denn bleiben, wenn ich Freigangs Angebot ablehnen würde? Hartz IV wie unseren Nachbarn! Wie sie würden wir für immer aus dem normalen Leben ausgeschlossen sein, ohne Geld für einen Konzertbesuch oder für eine Reise, verfetten von den billigsten Lebensmitteln, immer unzufriedener werden. Uns streiten? Uns verlieren?

Ich blickte zu Freigang: „Ich weiß immer noch nicht, warum und wofür Sie mich haben wollen.“

„Die erste Frage ist leicht zu beantworten. Wie ich bereits sagte, kenne ich Ihre ehemaligen bayrischen Gesellschafter gut. Wer sich bei denen lange als Geschäftsführer gehalten hat und die überzeugen konnte, richtig viel Geld für Investitionen anzufassen, der kann etwas. Aber die haben mir natürlich auch erzählt, dass Sie vor Ideen sprühen und in kurzer Zeit einen maroden DDR-Betrieb zu einer Cashcow entwickelt haben.

Wofür ich Sie brauche? Das wird sich zeigen. Zuerst müssen Sie mir in der Praxis beweisen, dass Sie wirklich so gut sind. Ich gebe Ihnen eine GmbH und entsprechende Aufträge. Ihre Arbeitsergebnisse werden uns lehren, wie es dann weitergehen kann. Einverstanden?“

Er reichte mir seine rechte Hand.

„Entschuldigen Sie bitte. Vielleicht werden Sie das nicht verstehen, aber ich muss erst einmal mit meiner Frau sprechen.“

Dietmar Freigang reagierte anders als ich befürchtet hatte. „Tun Sie das“, antwortete er, „in wichtigen Fragen stimme ich mich auch mit meiner Frau ab. Das Separee steht Ihnen zur Verfügung.“

Greta schwieg erst einmal, nachdem ich sie kurz informiert hatte.

„Hallo, bist du noch dran?“

„Ja, lass mich überlegen. Die Frage ist doch, ob wir eine Alternative haben. Siehst du denn eine Chance, an andere Aufträge zu kommen, vielleicht wieder aus dem Osten?“

Jetzt brauchte ich eine Pause. „Weißt du, dieser Misserfolg spricht sich rum, der hat Konsequenzen bei anderen. Und wenn ich erst einmal weg vom Fenster bin, verlieren wir den Boden unter den Füßen.“

„Angenommen, der würde dich tatsächlich zum Vorstandsvorsitzenden machen. Würdest du dir das zutrauen? Ich meine gesundheitlich?“

„Psychosomatische Beschwerden sind nicht völlig heilbar. Aber ich habe doch gelernt, damit umzugehen.

Sogar in komplizierten Verhandlungen kann ich die ausklingen lassen, wenn sie plötzlich auftreten, ohne dass es andere bemerken.“

„Also willst du es versuchen?“

„Ja.“

„Okay, mach es. Meinen Segen hast du.“

Als ich in den Salon zurückkehrte, blickte mir Freigang direkt in die Augen. Offensichtlich erkannte er meine Zustimmung, denn er nahm meine rechte Hand und drückte sie kräftig.

„Okay“, sagte er dann, „rufen Sie bitte Herrn Fiedler rein.“ Als der wieder Platz genommen hatte, fragte Freigang: „Haben Sie Ihre Aufgaben erfüllt oder wird mir doch noch jemand die Hütten AG wegschnappen?“

„Ich denke schon, dass ich erfolgreich war. Der andere deutsche Bieter wird sein Angebot nicht erhöhen und aussteigen.“

„Sehr gut! Wie viel hat das gekostet?“

„Zweihunderttausend Euro bar auf die Hand.“

„Mehr nicht? Da bekomme ich ja Hunderttausend zurück.“

„Das regele ich heute noch.“

„Okay. Und der Finanzinvestor aus Spanien? Wie würde der den Kaufpreis finanzieren?“

„Wie das heutzutage üblich ist. Mehr als ein Viertel will der nicht selbst aufbringen. Den Rest müsste die AG als Kredit aufnehmen.“

„Sehr gut! Das wird dem Verkäufer nicht gefallen. Wie ich ihn einschätze, will er zwar einen guten Preis erzielen, aber seine Gesellschaft nicht in die Insolvenz treiben.“

„Wenn Sie ohne Belastung der AG finanzieren könnten, würde es für Sie wirklich gut aussehen.“

„Sogar sehr gut! So viel habe ich noch in der Portokasse. Wissen Sie was? Lassen Sie das mit den Hunderttausend. Nehmen Sie sich die Hälfte, die haben Sie wirklich verdient. Für die anderen Fünfzigtausend machen Sie einen Kreditvertrag mit Herrn Schröder.“ Er wandte sich mir zu: „Wie viele Quadratmeter hat Ihre Wohnung in Gorbitz?“

„Etwa fünfzig.“

„O Gott, o Gott, o Gott.“ Freigang schüttelte es. „Dort können Sie als mein Geschäftsführer natürlich nicht bleiben. Ich habe eine Villa auf dem Weißen Hirsch, frisch renoviert und frei. Die ist jetzt angemessen für Sie. Richten Sie sich mit den Fünfzigtausend neu ein.

Also, Herr Fiedler, machen Sie den Kreditvertrag mit ihm. Etwas muss ich aber auch davon haben. Vier Prozent Zinsen soll er zahlen, das ist mehr als fair.“ Er blickte auf die Uhr: „Die Verhandlung ist im Schloss Eckberg. Herr Schröder, Sie kommen auch mit. Aber vorher gehen wir noch etwas essen.“

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