Kitabı oku: «DER ABGRUND JENSEITS DES TODES», sayfa 9

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Anjas Handy, das in der Innentasche ihres Blousons steckte, klingelte, bevor sie sich den möglichen Ursachen für das Verschwinden und der entsprechenden kurzen Erläuterung widmen konnte. Sie warf ihrem jüngeren Kollegen, der sie mit gerunzelter Stirn ansah, einen entschuldigenden Blick zu. Dann stand sie rasch auf, eilte zum Garderobenständer und holte ihr Smartphone heraus. Das Display zeigte an, dass ihre Mutter anrief. Sie verdrehte die Augen. Dann nahm den sie Anruf entgegen, hob das Handy ans Ohr und wandte Braun den Rücken zu, um ein Mindestmaß an Privatsphäre zu haben.

»Mama?«

»Anja.« Die Stimme ihrer Mutter klang ganz anders als sonst, sodass es Anja eiskalt den Rücken hinunterlief und eine düstere Vorahnung sie erfasste. Obwohl ihre Mutter außer ihrem Namen noch nichts gesagt hatte, wusste sie instinktiv, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste.

»Mama, was ist los?«

»Du musst sofort kommen!«

»Warum? Was ist passiert?«

»Tanja ist verschwunden!«

II

Tanja Morsbacher war Anjas Cousine und nur anderthalb Monate jünger als Anja. In ihrer Kindheit wohnten die beiden Mädchen nur wenige Häuser voneinander entfernt und waren daher beinahe ständig zusammen. Da Anjas Haar damals heller als heute war und sie sich sehr ähnlich sahen, hielt man sie oft für Schwestern und manchmal sogar für Zwillinge. Meist wurden ihre Namen daher in einem Atemzug genannt.

Nachdem Anjas Vater gestorben war – sie war damals erst elf Jahre alt –, mussten sie und ihre Mutter aus ihrem Elternhaus in eine kleinere Wohnung am anderen Ende der Stadt ziehen. Danach sahen sich die beiden Mädchen nicht mehr so oft. Dennoch ließen sie den Kontakt nie vollständig abreißen.

In den letzten drei, vier Jahren hatten sie sich wieder häufiger gesehen. Vor allem seit Anjas Trennung von ihrem Ehemann telefonierten sie mindestens einmal in der Woche miteinander. Außerdem gingen sie alle zwei Wochen gemeinsam zum Essen. Dann erzählten sie sich alles, was ihnen in den Sinn kam, so wie sie es schon als Kinder getan hatten. Es war beinahe so, als wäre seit damals gar keine Zeit verstrichen, die sie getrennt voneinander verbracht hatten.

Tanja war kaufmännische Sachbearbeiterin in der Zentrale eines Bestattungsunternehmens in München-Bogenhausen. Bis vor anderthalb Jahren hatte sie mit ihrem langjährigen Lebensgefährten Ludwig im Stadtteil Schwanthalerhöhe zusammengelebt. Es war im Grunde nur noch eine Frage der Zeit gewesen, wann die beiden heiraten und Kinder bekommen würden. Aber dann war Ludwig bei einem Motorradausflug mit seinen Freunden tödlich verunglückt. Seitdem hatte Tanja panische Angst, eine neue Beziehung einzugehen. Sie wollte nicht noch einmal einen geliebten Menschen verlieren. Aus diesem Grund beschränkte sie sich auf kurzlebige Affären oder One-Night-Stands. Obwohl Anja sie oft genug gewarnt hatte, nicht mit jedem Mann gleich ins Bett zu steigen, den sie soeben erst kennengelernt hatte. Doch Tanja hatte ihre Warnungen stets ignoriert. Sie war der Meinung, Anja würde schon von Berufs wegen alles viel zu negativ sehen.

Daran musste Anja jetzt natürlich vor allem denken, als sie den Wagen zum Haus ihrer Mutter steuerte. Als Ermittlerin der Vermisstenstelle konnte sie nicht aus ihrer Haut heraus. Sie versuchte daher sofort, ein Motiv für Tanjas Verschwinden zu finden. Und was lag näher, als Tanjas Sexualleben zur Grundlage der Motivsuche zu machen. Schließlich bedeuteten häufig wechselnde Sexualpartner, die man kaum bis gar nicht kannte, automatisch eine erhöhte Gefährdung. Und damit auch eine besondere Opferanfälligkeit. Die Fragen, die sich Anja momentan stellte, lauteten daher: War Tanja dieses Mal an den falschen Mann geraten? War sie das Opfer einer Straftat geworden? Und war sie deshalb verschwunden?

Sie schüttelte den Kopf, denn daran wollte sie eigentlich gar nicht denken. Zumindest dann nicht, wenn es um ihre eigene Cousine ging. Noch dazu, weil Tanja die Person war, die ihr so nahestand wie die Schwester, die sie nicht hatte.

Außerdem gab es vernünftigerweise noch gar keinen Grund, sofort mit dem Schlimmsten zu rechnen. Immerhin wurde Tanja erst seit heute Vormittag vermisst. Ihr Verschwinden, sofern man bei diesem kurzen Zeitraum überhaupt davon sprechen konnte, konnte alle möglichen harmlosen Ursachen haben. Und wahrscheinlich tauchte sie – wie in den meisten Fällen – schon bald wieder auf.

Trotz dieser vernünftigen Überlegungen gelang es Anja nicht, das unangenehme Gefühl abzuschütteln, dass ihrer Cousine etwas zugestoßen war. Ausnahmsweise sah sie die Sache nicht nur vom Standpunkt der nüchtern denkenden und sachlich argumentierenden Ermittlerin, sondern auch aus dem Blickwinkel eines besorgten Angehörigen. Deshalb konnte sie auch nachempfinden, warum die nächsten Verwandten vermisster Personen in ihren Vorstellungen unweigerlich von einem Verbrechen oder einem schrecklichen Unglücksfall ausgingen und in eine seelische Krise gerieten. Es war eine gänzlich neue Erfahrung, die sie beunruhigte. Bislang hatte sie als Ermittlerin, die vom Verschwinden der Personen, nach denen sie suchte, emotional nicht besonders betroffen war, das Heft des Handelns in der Hand gehalten. Doch nun, da es um ihre eigene Cousine ging, fühlte sie sich hilflos.

Sie versuchte, das ungewohnte irrationale Gefühl abzuschütteln. Das gelang ihr allerdings nicht vollständig. Deshalb lenkte sie ihre Gedanken in eine andere Richtung. Sie dachte an das kurze Telefonat mit ihrer Mutter.

Diese hatte am Telefon nicht viel sagen wollen. Stattdessen hatte sie darauf bestanden, dass Anja alles stehen und liegen ließ und so schnell wie möglich zu ihr kam. Erst dann wollte sie ihr Näheres erzählen. Also beendeten sie das Gespräch rasch wieder.

Braun musste anhand von Anjas Reaktion und Worten mitbekommen haben, dass etwas nicht stimmte. Er sah sie mit gerunzelter Stirn fragend an.

»Ein Notfall in der Familie«, sagte sie und zeigte wie zum Beweis auf das Smartphone in ihrer Hand. »Das war meine Mutter.«

»Was ist passiert?«

»Meine Cousine wird seit heute vermisst.« Sie zog ihre Jacke an und verstaute ihr Handy in der Innentasche.

»Wenn ich irgendetwas für dich tun kann …?«

Doch Anja schüttelte sofort den Kopf. »Das schaffe ich schon allein. Noch weiß ich ohnehin nichts Genaueres. Ich muss erst mit meiner Mutter sprechen, um mir ein Bild von der Sache machen zu können. Wahrscheinlich gibt es eine ganz harmlose Erklärung, und Tanja taucht schon bald wieder auf.«

Braun nickte. »Wahrscheinlich.« Sie kannten beide die Zahlen. Und sie wussten genau, die Chance, dass sich die Geschichte mit der baldigen Rückkehr ihrer Cousine erledigte, war groß.

Dennoch war Anja nicht so zuversichtlich, wie sie vorgegeben hatte und wie es Braun zweifellos war. Schließlich war es nicht seine Cousine, die vermisst wurde. Sie nickte zum Abschied und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro. An den aktuellen Vermisstenfall auf ihrem Schreibtisch dachte sie schon gar nicht mehr. Auch nicht an die verstorbene Nadine Weinhart. Auf der Fahrt kreisten ihre Gedanken nur um Tanja. Alles andere war auf einen Schlag bedeutungslos geworden.

III

Anjas Mutter war nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes mit ihrer elfjährigen Tochter zunächst in eine kleine Wohnung umgezogen. Zwei Jahre später heiratete sie den Chef der Druckerei, in der sie noch immer als Sekretärin arbeitete, und sie zogen in dessen Haus im Stadtteil Sendling-Westpark. Anja war bis dahin geschwisterlos gewesen. Diese Lücke hatte in den ersten elf Jahren ihres Lebens ihre Cousine Tanja gefüllt. Durch die Hochzeit bekam sie jedoch nicht nur einen Stiefvater, sondern auch einen Stiefbruder. Er war nur ein paar Monate jünger als sie. Sie konnte ihn von Anfang an nicht leiden. Allerdings beruhte das ihrer Meinung nach auf Gegenseitigkeit.

Als sie ihren Wagen am Straßenrand vor dem Haus abstellte, das unweit des Südparks lag, hoffte sie daher, dass ihr Stiefbruder Sebastian nicht zu Hause war. Sie wollte allein mit ihrer Mutter sprechen. Zudem war sie der Ansicht, dass die Sache Sebastian nichts anging. Schließlich war er nicht einmal mit Tanja verwandt.

Während Anja ausstieg und durch den Vorgarten zur Haustür ging, sah sie sich aufmerksam um. Sie konnte Sebastians Auto, einen zwanzig Jahre alten schwarzen BMW, nirgends entdecken. Allerdings waren die Tore der Doppelgarage geschlossen, sodass der Wagen darin stehen konnte. Obwohl Sebastian schon 34 Jahre alt war, wohnte er weiterhin im Haus seines Vaters und seiner Stiefmutter. Dort bewohnte er eine Einliegerwohnung in einem Anbau mit eigenem Eingang. So konnte er kommen und gehen, wie es ihm passte. Da er als Rettungssanitäter für das Bayerische Rote Kreuz im Schichtdienst arbeitete, war es durchaus möglich, dass er um diese Uhrzeit zu Hause war.

Anja besaß noch immer einen Schlüssel. Sie hatte ihn jedoch nicht bei sich, sondern bewahrte ihn zu Hause auf. Aber ehe sie die Haustüre erreichte und klingeln konnte, wurde bereits geöffnet.

»Da bist du ja endlich«, sagte ihre Mutter in demselben Tonfall, in dem sie Anja schon als Kind gescholten hatte. Zum Beispiel, weil diese auf dem Heimweg von der Schule getrödelt und die Zeit vergessen hatte. Währenddessen hatte ihre Mutter zu Hause an ihren Nägeln gekaut und sich die allergrößten Sorgen gemacht.

Dagmar Fröhlich, wie sie seit der Hochzeit mit ihrem zweiten Mann mit Nachnamen hieß, war einen halben Kopf kleiner als Anja, aber ebenso schlank. Sie hatte hellbraunes Haar, das sie mittlerweile tönte, um die Jahr für Jahr zahlreicher werdenden grauen Haare zu verbergen. Wenn Anja ihre Mutter ansah, bekam sie eine Vorstellung, wie sie in 22 Jahren aussehen könnte. Denn in den Zügen, in der Form und im Schnitt ihrer Gesichter sowie der Farbe ihrer Augen sahen sie sich ausgesprochen ähnlich. Allerdings hatte die Verbitterung nach dem Tod ihres Mannes dafür gesorgt, dass Dagmar stets etwas verbissen und humorlos dreinschaute. Dennoch war das Gesicht ihrer Mutter trotz ihrer 56 Jahre noch immer glatt und faltenlos. An diesem Tag hatte jedoch die Sorge um ihre Nichte darin ihre Spuren hinterlassen. Dadurch schien sie um Jahre gealtert zu sein, sodass Anja zunächst einen gehörigen Schrecken bekam, als sie ihre Mutter sah.

Sie unterließ es daher, sich für den unterschwelligen Vorwurf, sie hätte sich auf dem Weg hierher nicht beeilt, zu rechtfertigen. Schließlich war sie gekommen, ohne zu zögern, da es im Augenblick nichts Wichtigeres für sie gab.

»Komm rein.« Ihre Mutter trat zur Seite, um den Weg freizumachen.

Anja betrat das Haus, in dem sie einen Teil ihrer Kindheit und die ersten Wochen nach der Trennung von ihrem Mann verbracht hatte. Dennoch kam es ihr fremd vor, seit sie erneut ausgezogen war. Im Flur wartete sie, bis ihre Mutter die Haustür geschlossen hatte und an ihr vorbeiging, um die Führung zu übernehmen, obwohl sie sich hier bestens auskannte. Allerdings war sie jetzt nur noch eine Besucherin an diesem Ort.

Sie folgte Dagmar in die Küche. Anja hatte damit gerechnet, dass sie dorthin gehen würden. Ihre Mutter und sie hatten wichtige Angelegenheiten schon immer in der Küche besprochen. Und meistens, vor allem in den letzten zwei, drei Jahren, in denen sie vor ihrer Volljährigkeit hier gelebt hatte, waren diese Gespräche nicht besonders angenehm für sie gewesen. Doch seit Anja ausgezogen war und auf eigenen Beinen stand, hatte sich das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ein Stück weit normalisiert. Dennoch kam es ihr noch immer so vor, als hätten sie nur einen trügerischen Waffenstillstand geschlossen. Und dieser schien so brüchig zu sein, als könnte er durch eine unbedachte Äußerung jederzeit gebrochen werden. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, bewegten sich die beiden Frauen vorsichtig an der Demarkationslinie entlang, als fürchteten sie, sie versehentlich zu verletzen.

»Setz dich.«

Am Küchentisch standen schon zwei Kaffeetassen. Den Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee hatte Anja bereits beim Betreten des Hauses wahrgenommen. Anja und Fabian hatten Dagmar zum 50. Geburtstag einen Kaffeevollautomaten geschenkt. Doch der war schon nach kurzer Zeit in irgendeinem Kellerraum verschwunden, weil ihre Mutter ihren auf traditionelle Weise gemachten Filterkaffee lieber mochte. Und jedes Mal, wenn Anja bei ihr war und Kaffee trank, musste sie zugeben, dass der, den ihre Mutter zubereitete, noch immer am besten schmeckte.

Anja setzte sich an ihren gewohnten Platz mit dem Rücken zum Fenster. Schon als Teenager hatte sie es als psychologischen Vorteil betrachtet, bei Streitgesprächen das einfallende Tageslicht hinter sich zu haben.

Die beiden Frauen schwiegen, während die ältere Kaffee in die Tassen goss und sich dann ebenfalls setzte. Anja nahm Milch und rührte um. Dagmar trank ihren Kaffee schwarz.

»Wie geht’s dir?«, fragte Anja, nachdem sie einen Schluck genommen hatte. Sie folgte damit einem alten Ritual zwischen ihnen, als wäre es verboten, vor dem ersten Schluck Kaffee das Wort zu ergreifen. Und selbst dann durfte man nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, ganz egal, wie wichtig das Anliegen war, das man hatte. Man musste zunächst über andere, belanglosere Dinge sprechen.

»Wie soll es mir schon gehen?«, gab Dagmar ihre übliche Antwort in Form einer rhetorischen Gegenfrage, die im Grunde nichts beantwortete.

So musste sich Anja wie immer damit behelfen, dass sie aus dem Äußeren ihrer Mutter Rückschlüsse auf deren Gesundheitszustand zog. Dagmar schien seit ihrem letzten Treffen vor drei Wochen nicht abgenommen zu haben und machte auch sonst einen gesunden Eindruck. Und die feinen Linien und die Blässe in ihrem Gesicht waren vermutlich auf Tanjas Verschwinden zurückzuführen.

»Und was ist mit dir?«

Anja zuckte mit den Schultern. »Mir geht’s gut.«

»Und die Arbeit? Ist es auf Dauer nicht viel zu stressig, ständig nach verschwundenen Menschen zu suchen?«

Mit diesen Fragen hatte Anja gerechnet, denn sie kamen jedes Mal. Im Gegensatz zu Anja sah ihre Mutter im Beruf des Polizisten und vor allem in ihrer Arbeit in der Vermisstenabteilung nur das Schlechte. Deshalb machte sie sich berechtigterweise Sorgen um ihre Tochter. Anja hingegen bekam auch die guten Seiten ihrer Arbeit mit. Beispielsweise wenn mit ihrer Hilfe vermisste Kinder gefunden und nach Hause gebracht wurden. Daraus schöpfte sie die Kraft, die sie brauchte, um trotz gelegentlicher Rückschläge weitermachen zu können. Rückschläge wie der von heute früh, als sie die Leiche einer ihrer Vermissten hatte identifizieren müssen.

Sie schüttelte den Kopf. »Die Arbeit macht mir noch immer großen Spaß.« Es war dieselbe Antwort, die sie stets gab. Erneut dachte sie an den Besuch im Sezierraum am heutigen frühen Morgen und den Anblick des Leichnams. Beides hatte natürlich nicht den geringsten Spaß gemacht. Aber diese Dinge waren nur die Kehrseite der Medaille und die Ausnahme von der Regel. Deshalb hatte sie ihrer Mutter auch nie davon erzählt. Sie hütete sich auch jetzt, damit anzufangen. Schließlich wollte sie Dagmars Ängste, die ihr ins Gesicht geschrieben standen, nicht schüren, sondern lindern.

Ihre Mutter seufzte. Sie presste kurz die Lippen aufeinander, was ihr wieder einen verdrossenen Ausdruck verlieh, und trank von ihrem Kaffee.

»Wie geht es Josef und Sebastian?«, erkundigte sich Anja im Gegenzug nach ihrem Stiefvater und ihrem Stiefbruder, um das Thema zu wechseln.

»Gut. Josef hat wie immer viel Arbeit in der Druckerei. Ich wäre jetzt normalerweise auch dort, um ihm zu helfen. Aber nachdem Mia mich angerufen hatte, fuhr ich sofort nach Hause.« Mia war ihre Schwester und Tanjas Mutter. »Sebastian geht es auch gut. Er hat mittlerweile seine Ausbildung abgeschlossen und arbeitet jetzt als Rettungssanitäter.«

Anja nickte, denn das wusste sie bereits. »Hat er gerade Dienst?«, erkundigte sie sich. Sie ließ es so beiläufig wie möglich klingen.

Doch ihre Mutter durchschaute sie wie immer sofort. Die Andeutung eines missbilligenden Gesichtsausdrucks erschien, als sie die Lippen verzog, die an diesem Tag noch schmaler und blutleerer als sonst aussahen. »Er ist im Dienst.«

Anja musste sich bemühen, ein zufriedenes Lächeln zu unterdrücken. Da sie nicht sicher war, ob es hundertprozentig funktionierte, nahm sie ihre Tasse, hob sie vor den Mund und trank einen Schluck.

»Und was macht Fabian?«

Anja hätte sich beinahe verschluckt, als Dagmar sich nach dem Mann erkundigte, von dem sie sich vor sechs Monaten getrennt hatte. Und das wusste ihre Mutter auch ganz genau. Sie stellte die Tasse ab und wischte sich über den Mund, bevor sie antwortete: »Ich weiß es nicht. Von mir aus kann er in der Hölle schmoren.«

Ihre Mutter verzog erneut das Gesicht, um ihr Missfallen zum Ausdruck zu bringen. Sie hatte Fabian schon immer gern gehabt und damit auch nicht aufgehört, nachdem Anja sich von ihm getrennt und ihr die ganze Geschichte erzählt hatte. Selbst dann schien sie die Hoffnung, die beiden könnten es noch einmal miteinander versuchen und ihr die lang ersehnten Enkelkinder schenken, noch nicht aufgegeben zu haben. Also schlug sie sich wegen Anjas Standhaftigkeit auf Fabians Seite und bat Anja, ihm noch eine allerletzte Chance zu geben. Er hätte einen Fehler gemacht, hatte sie argumentiert. Dennoch hätte er wie jeder andere eine zweite Chance verdient. Anja hatte das Gefühl gehabt, ihre eigene Mutter wäre ihr in den Rücken gefallen und hätte sie verraten. Dennoch hatte sie darauf verzichtet, Dagmar daran zu erinnern, dass Fabian schon mehr als eine zweite Chance bekommen, diese aber nicht genutzt hatte. Stattdessen war sie aufgestanden und gegangen, um mit ihrer Mutter nicht wieder streiten zu müssen. Dagmar ließ jedoch nicht locker und brachte das Thema jedes Mal erneut zur Sprache, wenn sie sich trafen.

Wie immer verspürte Anja den starken Impuls, aufzustehen und zu gehen. Doch wie stets widerstand sie ihm auch dieses Mal. Schließlich war sie hier, um mehr über Tanjas Verschwinden zu erfahren. Das war momentan wichtiger als ihre gescheiterte Ehe und das Bemühen ihrer Mutter, den Riss zu kitten, der nach Anjas Dafürhalten längst das Ausmaß des Grand Canyon angenommen hatte und nicht zu reparieren war. Bevor ihre Mutter sie daher wieder einmal darum bitten konnte, Fabian noch eine Chance zu geben, kam sie auf den eigentlichen Grund ihres Kommens zu sprechen. Es war an der Zeit, dass sie über wirklich wichtige Dinge und damit über ihre Cousine sprachen. »Erzähl mir von Tanjas Verschwinden.«

Die Augen ihrer Mutter weiteten sich erschrocken. Sie sah aus, als ob sie den Grund ihres Zusammentreffens vergessen gehabt hätte und soeben schmerzhaft daran erinnert worden wäre. Dann nickte sie jedoch. »Was willst du wissen?«

»Alles! Erzähl mir, was passiert ist. Von Anfang an.« Problemlos schlüpfte Anja in ihre Rolle als Ermittlerin der Vermisstenstelle, die nüchtern und sachlich versuchte, die Umstände des Verschwindens einer Person aufzuklären. Und die daraus dann eine Hypothese entwickelte, die ihr half, das Motiv hinter dem Verschwinden zu enträtseln. In Gegenwart ihrer Mutter fiel ihr das wieder leichter als auf der Fahrt hierher.

»Ich war, wie ich schon sagte, im Büro der Druckerei, als Mia mich vorhin anrief. Sie war ganz aus dem Häuschen. Sie hatte soeben einen Anruf vom Bestatter erhalten, bei dem Tanja arbeitet. Demnach ist Tanja heute Morgen nicht zur Arbeit gekommen und hat sich auch nicht krankgemeldet, was höchst ungewöhnlich für sie ist. Du kennst sie ja selbst. Sie hat zwar ihre Flausen im Kopf, vor allem in Bezug auf ihre Männergeschichten, ist aber sonst die Zuverlässigkeit in Person.«

Anja nickte zustimmend. »Was hat Tante Mia getan, nachdem sie den Anruf erhalten hatte?«

»Sie versuchte natürlich, Tanja zu erreichen, sowohl zu Hause als auch auf dem Handy. Doch Tanja ging nicht ran. Mia hinterließ ihr Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und der Mailbox. Allerdings war sie zu dem Zeitpunkt schon so beunruhigt, dass sie umgehend zu Tanjas Wohnung fuhr.«

»Und?«

»Tanja war nicht zu Hause. Und alles sah ganz normal aus. So als wäre Tanja nur kurz weggegangen und wollte schon bald zurückkommen.«

Anja nickte erneut. Sie erinnerte sich unwillkürlich an die Durchsuchung von Nadine Weinharts Wohnung, an die sie wegen des Leichenfunds erst heute früh wieder gedacht hatte. Nadines Wohnung hatte ein ganz ähnliches Bild abgegeben. Nichts, was sie dort gesehen hatte, hatte einen Anhaltspunkt dafür geboten, dass die Frau einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Und dennoch war, wie sie jetzt wusste, genau das der Fall gewesen. Dass es in Tanjas Wohnung ebenfalls keine Kampf- oder Blutspuren gab, war daher nicht so beruhigend, wie es eigentlich hätte sein sollen. Aber wenigstens lag ihre Cousine nicht tot in der Wohnung. »Was hat Tante Mia anschließend gemacht? Oder hat sie zu diesem Zeitpunkt bereits dich angerufen?«

»Nein. Sie hat zunächst im Büro des Bestatters angerufen. Aber Tanja war noch immer nicht aufgetaucht. Deshalb rief sie zwei von Tanjas Freundinnen an, mit denen sie sich regelmäßig trifft. Aber die wussten auch nichts. Sie sagten, sie hätten Tanja schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen.«

»Sagten sie auch, warum?«

»Tanja fühlte sich anscheinend in letzter Zeit nicht wohl.«

Anja runzelte die Stirn. Davon hatte sie gar nichts gewusst. Sie überlegte, wann sie ihre Cousine zum letzten Mal getroffen hatte, und stellte überrascht fest, dass ihr letztes gemeinsames Essen schon über zwei Wochen zurücklag. Normalerweise war es Tanja, die sie an die Treffen erinnerte. Doch dieses Mal hatte sie es unterlassen und möglicherweise selbst vergessen. Deshalb hatten sie sich auch so lange nicht gesehen. Anja war das bis zu diesem Moment gar nicht aufgefallen. Schließlich hatten sie wie immer regelmäßig miteinander telefoniert, zuletzt vor zwei Tagen. Aber auch dabei hatte Tanja nichts davon gesagt, dass sie sich nicht wohlfühlte.

»Was hatte sie denn?«

»Ich weiß es nicht. Und Mia hatte ebenfalls keine Ahnung. Hat sie dir denn nichts erzählt? Ihr trefft euch doch regelmäßig und telefoniert ständig miteinander.« So wie ihre Mutter es sagte, klang es schon beinahe vorwurfsvoll. Anja wurde unwillkürlich an ihre Kindheit erinnert, als Dagmar ihr fortwährend vorgeworfen hatte, sie würde zu viel mit ihren Freundinnen telefonieren und zu wenig für die Schule tun.

Sie schüttelte den Kopf. »Davon hat sie kein Wort gesagt.«

»Vielleicht ist sie ja schwanger und …« Dagmar ließ den Rest ungesagt. Sie hob nur bedeutungsvoll die Augenbrauen.

»Du meinst, sie lässt heimlich einen Schwangerschaftsabbruch durchführen und ist deshalb im Augenblick nicht erreichbar?«

Dagmar nickte. In ihren Augen blitzte die Hoffnung, dass es tatsächlich so sein mochte. Denn etwas Derartiges wäre nicht halb so schlimm wie die Alternativen, die ihr anscheinend schon durch den Kopf gegangen waren.

Doch so gern Anja ihrer Mutter Hoffnung gemacht hätte, wollte sie das nicht mit einer Lüge erreichen. Sie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. In dem Fall hätte sie Urlaub genommen und uns allen erzählt, dass sie verreist. Damit wir uns nicht fragen, wo sie steckt, und uns Sorgen um sie machen. Nein, so dumm ist Tanja nicht. Es muss etwas anderes dahinterstecken.«

»Aber was?«

»Das weiß ich leider noch nicht«, antwortete Anja, was der Wahrheit entsprach. Obwohl sie insgeheim den Verdacht hegte, dass Tanja etwas zugestoßen war. Als ihre Mutter gesagt hatte, dass Tanja sich in den letzten Tagen nicht wohlgefühlt hatte, hatte sie sofort wieder an Nadine Weinhart denken müssen. Auch sie hatte körperliche Beschwerden gehabt, ihre Mutter und ihre beste Freundin allerdings im Unklaren über das wahre Ausmaß ihrer Erkrankung und die furchtbare Diagnose gelassen. Handelte es sich hier um eine zweite Parallele zwischen den beiden Fällen?

Moment mal!, stoppte Anja ihre ausufernden Gedanken. Denn die gingen ihrer Meinung nach ganz entschieden in die falsche Richtung. Schließlich gab es offiziell noch gar keinen Vermisstenfall Tanja Morsbacher. Außerdem war Tanja gerade mal ein paar Stunden abgängig. Auch wenn das in ihrem Fall ihrer Persönlichkeitsstruktur entschieden widersprach. Denn trotz ihrer gelegentlichen Launenhaftigkeit und Sprunghaftigkeit war Tanja extrem zuverlässig und pünktlich. Wenn sie sich ganz selten und dann aus gutem Grund verspätet hatte oder einen Termin nicht hatte wahrnehmen können, hatte sie immer rechtzeitig Bescheid gegeben. Und zur Arbeit war sie stets pünktlich erschienen oder hatte im Krankheitsfall angerufen und sich entschuldigt. Trotzdem wollte Anja im Augenblick noch nicht von auffälligen Parallelen zu einem Vermisstenfall sprechen, bei dem die vermisste Person vermutlich wochenlang gefangen gehalten, durch Nahrungsentzug gequält und getötet worden war. Erst wenn eine weitere und eindeutigere Gemeinsamkeit auftauchen sollte, würde sie sich zwangsläufig erneut mit diesem haarsträubenden Gedanken befassen müssen.

»Hat Tanja jemals einen Mann namens Johannes erwähnt?«, fragte sie dennoch, einem plötzlichen Impuls folgend, ihre Mutter.

Doch die schüttelte zu ihrer Erleichterung den Kopf. »Daran kann ich mich nicht erinnern. Allerdings habe ich schon ein paar Tage nicht mehr mit ihr gesprochen. Wenn, dann hat sie so etwas eher dir, ihren Freundinnen oder vielleicht auch ihrer Mutter erzählt.« Obwohl sich Dagmars Tonfall nicht verändert hatte, glaubte Anja dennoch, den Vorwurf herauszuhören, dass sie im Gegensatz zu ihrer Cousine ihrer Mutter so etwas auf keinen Fall erzählt hätte. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.

»Ich hab erst vor zwei Tagen mit ihr gesprochen«, sagte sie. »Aber da erwähnte sie weder einen Mann namens Johannes noch, dass es ihr momentan nicht gut geht.«

»Wieso fragst du eigentlich nach diesem Johannes?« Dagmar sah ihre Tochter argwöhnisch an. »Hast du etwa schon einen konkreten Verdacht?«

Anja schüttelte den Kopf. Sie sah ihre Mutter mit dem ehrlichsten Gesichtsausdruck an, zu dem sie fähig war. Auch wenn der schon früher nicht immer funktioniert hatte. »Ich habe keinen Verdacht, ehrlich nicht. Es ist nur ein Name, der bei Ermittlungen aufgetaucht ist. Aber wenn Tanja ihn nie erwähnt hat, hat er auch nichts zu bedeuten.«

Das Misstrauen in den Augen der älteren Frau verschwand. »Wenn du so schaust, sagst du sogar meistens die Wahrheit.«

»Was hat Mia noch alles getan, um Tanja zu finden?«, wechselte Anja das Thema.

Dagmar runzelte die Stirn. Entweder irritierte sie der Themenwechsel, oder sie musste kurz darüber nachdenken. »Nichts«, sagte sie dann und schüttelte den Kopf. »Sie rief mich an. Wir beschlossen gemeinsam, dass ich dich informiere, sobald ich zu Hause bin. Damit du so früh wie möglich mit der Suche nach Tanja beginnen kannst. Schließlich ist das dein Job und somit das, was du tagtäglich tust. Du bist also gewissermaßen eine Expertin dafür.«

Zum ersten Mal schien ihre Mutter dankbar zu sein, dass Anja bei der Polizei war und in der Vermisstenabteilung arbeitete. Dabei hatte sie Anjas Berufswahl von Anfang an missbilligt. Und wenn schon Polizei, dann hätte sie es lieber gesehen, dass Tanja in der Pressestelle des Präsidiums oder in der Aktenverwaltung der Kripo tätig gewesen wäre. Denn dort gab es keine größere Gefahr, als sich an einem Blatt Papier zu schneiden oder an einer Heftklammer den Fingernagel abzubrechen. Außerdem hätte ihre Tochter es dann auch nicht ständig mit verschwundenen Selbstmördern oder unbekannten Leichen zu tun gehabt. Anjas Beruf war neben ihrer gescheiterten Ehe das beherrschende Streitthema bei ihren gelegentlichen Treffen. Deshalb besuchte Anja ihre Mutter so selten wie möglich und auch nur dann, wenn diese sich am Telefon darüber beschwerte, dass sie ihre einzige Tochter viel zu selten zu Gesicht bekomme.

»Was wirst du jetzt tun?«

Die Frage riss sie aus ihren Überlegungen. »Nach Tanja suchen.« Wenn man es mit diesen Worten sagte, klang es, als wäre es das Einfachste der Welt. Als würde man sich in der eigenen Wohnung auf die Suche nach einem verlorenen Schlüssel machen. Man wusste, er musste irgendwo sein. Und früher oder später würde man ihn auch finden. Doch die Suche nach Menschen war aus verschiedenen Gründen unendlich komplizierter.

»Und wo willst du nach ihr suchen?«

Anja zuckte mit den Schultern. Das war ausnahmsweise eine gute Frage. Wo sollte sie mit der Suche nach ihrer Cousine beginnen? Für einen Moment fühlte sie sich wieder hilflos und von der Aufgabe überfordert, Tanja zu finden. Aber dann übernahm wieder die erfahrene Ermittlerin das Ruder. Natürlich würde sie in Tanjas Wohnung anfangen, wo sonst? Noch hatte sie keine Anhaltspunkte, warum und wohin ihre Cousine verschwunden war. Sofern sie überhaupt verschwunden war und nicht in Kürze schon wieder auftauchte. Also war es logisch, dass sie an dem Ort anfing, an dem sie am ehesten Hinweise finden würde.

»Ich fang in ihrer Wohnung an«, erklärte sie ihrer Mutter. »Wenn es Hinweise darauf gibt, was passiert ist, dann höchstwahrscheinlich dort. Falls ich nichts finde, spreche ich anschließend mit ihren Freundinnen, mit den Kollegen und mit Tante Mia.«

»Ich kann Mia anrufen. Sie hat einen Schlüssel für die Wohnung. Dann könnt ihr euch dort treffen. Sicherlich wäre sie gern dabei, wenn du Tanjas Wohnung durchsuchst.«

Anja schüttelte den Kopf. »Das ist keine gute Idee.«

»Warum nicht?«

»Wenn ich eine Wohnung durchsuche, muss ich mich auf meine Aufgabe konzentrieren, damit ich keinen Fehler begehe und nichts übersehe. So gern ich Tante Mia auch habe und so sehr ich es verstehen kann, dass sie gern mitkommen möchte, bin ich dennoch dagegen.«

»Okay«, sagte ihre Mutter und nickte zustimmend. »Du machst das schließlich nicht zum ersten Mal. Also wirst du schon wissen, was du tust. Aber was ist mit dem Schlüssel. Soll Tante Mia …«

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