Kitabı oku: «IM ANFANG WAR DER TOD», sayfa 3

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Sie wandte daher den Blick von den Toten, sah Englmair an und nickte mit ernster Miene. »Das ist Pfarrer Paul Hartmann. Ich kannte ihn als Kind. Er taufte mich, obwohl ich mich daran natürlich nicht erinnern kann. Außerdem war er ein oder zwei Jahre lang mein Religionslehrer in der Grundschule. Bis zum Tod meines Vaters besuchte ich mehr oder weniger regelmäßig seinen Gottesdienst in dieser Kirche. Und hier spendete er mir auch die Erstkommunion.«

»Und wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«

Darüber musste Anja gar nicht lange nachdenken, denn die Antwort war ihr sofort präsent. »Als ich elf Jahre alt war.« Sie seufzte. Über diese extrem schwierige Phase nach dem Tod ihres Vaters sprach sie nur ungern. Doch nun war es unumgänglich, auch wenn es ihr schwerfiel. »Nachdem mein Vater damals gestorben war, weigerte ich mich, weiterhin in die Kirche zu gehen. Daraufhin kam Pfarrer Hartmann zu uns nach Hause, um mit mir darüber zu sprechen. Doch ich wollte mir gar nicht erst anhören, was er zu sagen hatte. Dafür war ich einfach viel zu wütend. In erster Linie natürlich auf meinen Vater, weil ich …« Sie seufzte ein weiteres Mal. »Ich hatte damals das Gefühl, von ihm im Stich gelassen worden zu sein. Aber ich war auch furchtbar zornig auf Gott, weil er es zugelassen hatte, dass mein Vater sich und mir das angetan hatte. Als der Pfarrer bei uns war, entlud sich dieser Zorn, der sich in mir aufgestaut hatte, natürlich auf ihn. Ich … ich sagte ihm, dass ich an keinen Gott glauben könne, der es zugelassen hatte, dass mein Vater starb, und dass ich auch ihn hassen würde, weil er mir ständig die Lüge eines gütigen, barmherzigen Gottes erzählt hatte. Er solle bloß nie wieder kommen, schrie ich unter Tränen. Dann rannte ich nach oben und schloss mich in meinem Zimmer ein. Der zutiefst enttäuschte, traurige und auch verletzte Ausdruck auf seinem Gesicht ist das Letzte, was ich von ihm in Erinnerung habe.«

Zumindest, bis ich ihn heute Nacht im Traum wiedersah und ermordete!, dachte sie, behielt diesen Gedanken aber wohlweislich für sich.

»Und seit damals willst du ihn also nicht mehr gesehen haben?«, fragte Krieger in einem Tonfall, als wäre es das Dämlichste, was er seit Langem gehört hatte.

Anja wandte ruckartig den Kopf und sah ihn wütend an. »Willst du etwa behaupten, dass ich lüge? Wieso sollte ich das tun?«

»Ja, wieso solltest du das tun?« Krieger grinste bösartig, als wüsste er im Gegensatz zu Anja die Antwort auf diese Frage.

»Was ist hier eigentlich los, Englmair?«, wandte sich Anja an den Vernünftigeren der beiden Mordermittler. »Ihr habt mich doch nicht um diese Uhrzeit hierher bestellt, nur weil ich den Pfarrer als Kind kannte und hier zum Gottesdienst ging. Irgendetwas ist doch hier im Busch.«

Englmair seufzte schwer und gab Krieger erneut einen Wink. Dieser grinste noch immer, als verschaffte ihm das alles eine innere Befriedigung. Eifrig, als hätte er die ganze Zeit nur auf die Erlaubnis dazu gewartet, zog er eine Beweismitteltüte aus der Jackentasche. Er ging zu Anja, die ihn argwöhnisch beobachtete, blieb zwei Schritte vor ihr stehen und hielt ihr den transparenten Plastikbeutel vors Gesicht, sodass sie mühelos dessen Inhalt erkennen konnte.

Anja sah, dass es sich um eine Visitenkarte handelte. Es war jedoch nicht irgendeine, sondern ihre eigene Karte. Auf der Vorderseite, die ihr zugewandt war, standen ihr Name, ihr Dienstgrad und ihre Dienststelle. Darunter die Adresse und die Durchwahlnummer ihres dienstlichen Telefonanschlusses. Anja hatte, seit sie in der Vermisstenstelle arbeitete, Hunderte dieser Karten verteilt. Allerdings war bislang noch nie eine am Tatort eines Mordes aufgetaucht. Die Karte in der Beweismitteltüte war zerknittert, als hätte sie jemand in seiner Faust zerknüllt oder gedankenlos in die Hosentasche gesteckt. Außerdem war eine Ecke mit Blut in Berührung gekommen. Es war mittlerweile getrocknet und hatte sich braun verfärbt. Der Fleck bildete einen ausgefransten Viertelkreis, der die letzten vier Buchstaben ihres Nachnamens verdeckte.

Anja hatte schon die ganze Zeit geahnt, dass es etwas Stichhaltiges geben musste, das sie mit dem Mordopfer in Verbindung brachte. Ansonsten hätten Englmair und Krieger sie nicht um diese Uhrzeit hierher beordert. Allerdings hätte es auch schlimmer sein können. Sie hatte nämlich schon befürchtet, Krieger könnte ihr die Mordwaffe zeigen, die aus ihrer Wohnung stammte und ihre Fingerabdrücke aufwies. Obwohl sie sich äußerlich nichts anmerken ließ, atmete sie daher erleichtert auf.

»Kommt dir das unter Umständen bekannt vor?«, fragte Krieger in einem inquisitorischen Tonfall, den er vermutlich einem Filmschauspieler abgeschaut hatte, der einen knallharten Kommissar spielte und den er insgeheim bewunderte.

Anja verdrehte genervt die Augen. »Natürlich kommt mir das bekannt vor, Dumpfbacke. Das ist eine meiner dienstlichen Visitenkarten. Das kann schließlich jeder sehen, der im Gegensatz zu dir mehr als nur einen Funken Verstand hat, weil mein Name darauf steht. Wo habt ihr sie gefunden?«

»Sie befand sich im Besitz des Toten.« Diesmal versuchte Krieger, seine Stimme besonders dramatisch klingen zu lassen. Fehlte nur noch eine packende Hintergrundmusik, und die Szene wäre perfekt gewesen.

Anja seufzte. »Und deshalb glaubst du jetzt also tatsächlich, ich hätte Pfarrer Hartmann umgebracht?«, fragte sie in ungläubigem Tonfall. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, in den letzten Jahren habe ich so viele von diesen Karten verteilt, dass mittlerweile vermutlich mehrere Hundert davon im Umlauf sein müssen.« Sie wandte den Kopf und sah Englmair an. »Diese Visitenkarte beweist doch rein gar nichts!«

»Wenn es nur die Karte wäre, dann würde ich dir sogar recht geben«, sagte er und seufzte schwer.

Anja verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Wieso? Was habt ihr noch?«

»Sieh dir mal an, was auf der Rückseite steht!«, sagte Krieger und grinste hämisch.

Als Anja wieder auf den Beweismittelbeutel sah, hatte Krieger ihn umgedreht. Nun war die Rückseite der Visitenkarte sichtbar. Jemand – möglicherweise der Pfarrer – hatte mit blauem Kugelschreiber das gestrige Datum und »23:00 Uhr« darauf notiert. Daneben standen ihr Vorname, der eingekringelt worden war, und ihre Handynummer.

»Und? Was sagst du jetzt? Willst du etwa immer noch behaupten, du hättest den Pfarrer zum letzten Mal gesehen, als du ein kleines Mädchen warst?« Kriegers Tonfall verdeutlichte, für wie lächerlich er diese Vorstellung hielt.

»Es ist keine Behauptung, sondern die Wahrheit.« Anja verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wandte sich wieder an Englmair, von dem sie sich Unterstützung gegen seinen Kollegen erhoffte. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich so etwas …« Sie wies, ohne hinzusehen, auf den Leichnam. »… tun könnte, oder?«

Er schüttelte zwar den Kopf, doch sein Gesichtsausdruck zeigte, dass er sich nicht hundertprozentig sicher war, was er glauben sollte.

Anja wurde schlagartig bewusst, dass es noch mehr geben musste, das gegen sie sprach. Die Visitenkarte allein, selbst wenn auf der Rückseite das gestrige Datum, ihr Vorname und ihre Handynummer vermerkt waren, hätte nicht ausgereicht, um Englmair derart an ihr zweifeln zu lassen. Vielleicht, so dachte sie, spielt die Uhrzeit eine Rolle. »Wisst ihr schon, wann er gestorben ist?«

»Nachdem Dr. Brenner den Leichnam untersucht hatte, meinte er, der Pfarrer sei zwischen einundzwanzig Uhr abends und drei Uhr morgens ermordet worden«, antwortete Englmair.

»Du siehst also, es passt alles perfekt zusammen und ergibt einen Sinn«, sagte Krieger geradezu triumphierend. »Der Pfarrer notierte sich ausgerechnet auf der Visitenkarte, die du ihm gegeben hast, den Tag und die Uhrzeit eures Treffens. Keine Ahnung, worum es dabei ging. Auf jeden Fall seid ihr vermutlich in Streit geraten. Dann musst du die Kontrolle verloren und wie eine Wahnsinnige zweimal auf ihn eingestochen haben. Und als er schwerverletzt flüchten wollte, hast du ihm zuerst das Messer in den Rücken gerammt und anschließend, als er hilflos am Boden lag, die Kehle durchgeschnitten.« Seine letzten beiden Worte begleitete er, als wollte er sie dadurch noch verdeutlichen, mit der weltweit verständlichen Geste für eine durchgeschnittene Kehle.

»Hörst du dir eigentlich manchmal selbst zu, wenn du redest, Krieger?«, fragte Anja und schüttelte den Kopf. »Wenn nicht, ist es höchste Zeit, dass du damit anfängst. Dann würdest du nämlich endlich merken, wie viel Blödsinn du ständig von dir gibst.«

»Und wieso soll das Blödsinn sein?«

Anja überlegte. »Erstens«, sagte sie dann und hob den Daumen der linken Hand. »Wann soll ich ihm die Visitenkarte denn gegeben haben? Etwa gestern Nacht um dreiundzwanzig Uhr, als wir uns angeblich trafen? Wenn ja, wie konnte er dann den Termin auf der Karte notieren? Und wieso hätte er das überhaupt noch tun sollen?«

Doch Krieger ließ sich von ihrem Einwand nicht irritieren. Er schien davon überzeugt zu sein, dass er auf der richtigen Spur war, und ließ sich davon partout nicht abbringen. »Wahrscheinlich hast du ihm die Visitenkarte schon vorher zukommen lassen. Würde mich gar nicht wundern, wenn das sogar deine Schrift auf der Rückseite ist.«

Sie schüttelte energisch den Kopf. Auch wenn sie das meiste, was ihr in den letzten Stunden widerfahren war, noch immer nicht nachvollziehen konnte, so wusste sie wenigstens mit absoluter Sicherheit, dass es sich nicht um ihre Schrift handelte. »Das habe ich nicht geschrieben! Und das lässt sich im Zweifelsfall auch durch ein grafologisches Gutachten nachweisen.«

Krieger zuckte mit den Schultern, als wäre dieses Detail ohnehin belanglos. »Dann hat es eben der Pfarrer geschrieben, als ihr telefonisch den Termin für euer Treffen vereinbart habt. Was soll’s?«

»Ich sagte schon einmal, dass ich Pfarrer Hartmann seit 23 Jahren nicht gesehen habe. Und ich habe auch nie mit ihm telefoniert. Das wirst du auch selbst noch herausfinden, wenn du die Verbindungsdaten unserer Telefonanschlüsse überprüfst.«

Doch der Mordermittler wich keinen Millimeter zurück und ließ sich von bloßen Behauptungen von jemandem, den er des Mordes verdächtigte, nicht den Wind aus den Segeln nehmen. »Das werden wir selbstverständlich noch überprüfen, darauf kannst du dich verlassen. Allerdings habe ich auch nicht erwartet, dass du von deinem Festnetzanschluss oder mit deinem Handy beim Pfarrer angerufen hast. Schließlich bist du alles andere als blöd.«

»Danke für das Kompliment, Krieger, auch wenn es sicherlich unbeabsichtigt war. Aber wenn ich, wie du gesagt hast, alles andere als blöd bin, wieso habe ich dann die Visitenkarte nicht mitgenommen, als ich die Gelegenheit dazu hatte?«

Er zuckte mit den Schultern. »Selbst die klügsten Verbrecher machen Fehler und werden geschnappt. Vielleicht bist du nach dem Mord in Panik geraten und fluchtartig von hier verschwunden. Und dabei hast du schlichtweg vergessen, die Karte mitzunehmen. Schließlich hatte der Tote sie in der Hosentasche.«

»In der Hosentasche?«, fragte sie Englmair, der das mit einem Nicken bestätigte. »Und wie kam dann das Blut dran?«

»Es stammt vermutlich von seiner Bauchwunde, die sehr heftig geblutet hat. Nach Ansicht des Gerichtsmediziners hat der Täter dem Pfarrer das Messer zuerst in die linke Schulter gestoßen. Die Klinge drang allerdings nicht sehr tief ein. Der zweite Stich ging dann in den Bauch und war wesentlich tiefer. Das Opfer wandte sich daraufhin zur Flucht und rannte von da drüben …« Er wies auf eine Stelle am Anfang des Mittelgangs, an der Anja auf ihrem Weg hierher vorbeigekommen war. Mehrere nummerierte gelbe Spurenmarker wiesen auf Blutstropfen auf den Fliesen hin. »… bis hierher, wo er sich an der Wand abstützte und dabei diesen Handabdruck hinterließ. Der Mörder …«

»… oder die Mörderin …«, unterbrach ihn Krieger, der Anja nicht aus den Augen ließ.

Englmair seufzte. »Okay. Der Mörder oder die Mörderin verfolgte den Pfarrer und stieß ihm, wie Toni schon sagte, das Messer in den Rücken, wo er eine weitere tiefe Stichwunde hat. Nachdem das Opfer anschließend zu Boden gesunken war, wurde ihm die Kehle durchgeschnitten.«

»Wieso erzählst du ihr das eigentlich alles?«, fragte Krieger und sah seinen Kollegen verärgert an. »Dabei handelt es sich um Täterwissen.«

»Sie ist immer noch unsere Kollegin und gilt solange als unschuldig, bis ihre Schuld zweifelsfrei erwiesen ist.«

Krieger wiegte den Kopf hin und her, als hätte er seine Zweifel, erwiderte jedoch klugerweise nichts darauf.

»Zweitens«, setzte Anja ihre Aufzählung von vorhin fort und streckte den Zeigefinger aus, »trage ich in der Regel kein Messer mit mir spazieren, das derartige Wunden hervorruft, wenn ich mich mit einem katholischen Pfarrer zu einem Gespräch treffe, den ich als Kind kannte und bis zum Tod meines Vaters sogar sehr gern hatte. Und ich nehme nicht an, dass ein derartiges Messer griffbereit hier in der Kirche herumlag. Worum handelt es sich bei der Tatwaffe überhaupt?«

»Um ein Fleischmesser«, sagte Krieger, als wäre Anjas Frage sein Stichwort gewesen. Er wandte sich um, nahm die Stufen und ging zum Altar. »Wir fanden es hier auf dem Altar, wo die Mörderin es nach der Tat hingelegt hat.«

Anja sah Englmair an und verdrehte die Augen.

Er zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: So ist er nun einmal, und da kann man nichts dran ändern.

»Komm ruhig her und sieh es dir aus der Nähe an«, forderte Krieger Anja auf.

Sie seufzte und ging zu ihm.

»Außerdem will ich dir noch etwas zeigen, das für unsere Ermittlungen höchst interessant und aufschlussreich ist«, sagte er geheimnisvoll.

Anjas Befürchtungen, dass die Visitenkarte noch nicht alles gewesen war, das sie mit dem Pfarrer, dem Mord und dem Tatort in Verbindung brachte, schienen sich zu bewahrheiten. Der Eisklumpen aus geballter Furcht in ihren Eingeweiden wurde beständig größer.

Sie blieb vor dem Altar stehen und sah sich die Gegenstände an, die darauf lagen. Als sie das Fleischmesser mit der blutbesudelten Klinge erblickte, blieb ihr beinahe das Herz stehen. Es war natürlich die Tatwaffe aus ihrem Traum, doch das überraschte sie inzwischen nicht einmal mehr.

Insgeheim rechnete sie mittlerweile damit, dass sie jeden Moment in ihrem Bett aufwachen und sich dies alles nur als grausame Fortsetzung ihres Albtraums herausstellen würde. Aber bis es so weit war, musste sie sich bemühen, das Beste aus dieser albtraumhaften Situation zu machen, und bei dieser Farce mitspielen.

Was letztendlich dafür sorgte, dass ihre Knie ganz weich und nachgiebig wurden und ihr ein Schauer des Entsetzens über den Rücken lief, als wäre sie mit Eiswasser übergossen worden, war der Griff des Messers. Sie sah ihn jetzt zum ersten Mal, denn in ihrem Traum war er ständig von der schwarz behandschuhten Hand des Mörders umfasst worden. Voller Entsetzen wurde ihr in diesem Moment bewusst, dass ihr sowohl die Form als auch die Farbe des Messergriffs überaus vertraut waren. Kein Wunder, schließlich hatte sie selbst in ihrer Küche einen Messerblock mit einem ganzen Set dieser Küchenmesser. Allerdings musste das Fleischmesser deshalb nicht zwangsläufig aus ihrer Küche stammen. Es konnte sich auch rein zufällig um ein und dieselbe Marke handeln. Allerdings hatte Anja in den letzten Stunden bereits zu viele Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten erlebt, um in dieser Angelegenheit noch an Zufälle zu glauben.

Was, wenn es doch eins meiner Messer ist?

Zuerst der Albtraum, der nur auf den Erinnerungen der Person basieren konnte, die das Messer geführt und die tödlichen Streiche ausgeführt hatte. Dazu ihre blutige Visitenkarte mit dem handschriftlich vermerkten Termin, der mutmaßlich mit dem Todeszeitpunkt übereinstimmte. Und jetzt möglicherweise auch noch ein Messer aus ihrer Küche, mit dem der Geistliche umgebracht worden war. Für sich allein mochte jedes dieser Details nur ein mageres Indiz sein, das vage in ihre Richtung wies. Zusammen ergaben sie jedoch einen ganz konkreten Tatverdacht.

Verdachtsmomente!

Jetzt wusste sie, was Englmair damit gemeint hatte. Das alles waren Verdachtsmomente. Und alle zeigten anklagend in ihre Richtung. Das Bild, das sich zwangsläufig daraus ergab, wurde allmählich so eindeutig, dass sogar sie selbst immer mehr an ihrer Unschuld zu zweifeln begann.

Schließlich hatte sie einen Filmriss gehabt und konnte sich an nichts mehr erinnern, weil sie augenscheinlich eine ganze Flasche Wodka geleert hatte. Außerdem entsprach der Ablauf des Mordes, den Englmair ihr aufgrund der Aussage des Gerichtsmediziners geschildert hatte, in allen Einzelheiten ihrem vermeintlichen Traum. Und wie könnte sie davon wissen und so detailliert davon geträumt haben, wenn sie nicht auch die Mörderin war?

Es waren also gar keine Traumbilder. Viel eher waren es infolge des Alkoholrausches verschüttete Erinnerungen, die wie übelriechende Gasblasen in einem Sumpf im Schlaf wieder an die Oberfläche gekommen waren.

»Du bist ja auf einmal so bleich geworden«, sagte Krieger höhnisch. »Bekommst wohl doch allmählich kalte Füße.«

»Wieso sollte ich kalte Füße bekommen, Idiot?«, versetzte Anja angriffslustig, denn der Mordermittler hatte mal wieder zielsicher einen wunden Punkt erwischt. »Ich erkläre es dir aber gern noch einmal ganz langsam, damit sogar du es kapierst: Ich … habe … diesen … Mann … nicht … umgebracht!« Sie betonte jedes einzelne Wort. »Ich habe ihn seit dreiundzwanzig Jahren weder gesehen noch gesprochen. Hast du’s jetzt endlich geschnallt?«

Sie selbst war davon indessen immer weniger überzeugt und dachte fieberhaft nach. Noch wussten die Kollegen von der Mordkommission im Gegensatz zu ihr nicht, dass Anja ein ganzes Set dieser Messer besaß und die Tatwaffe möglicherweise aus ihrer Wohnung stammte. Von selbst würde sie die beiden Männer allerdings bestimmt nicht darauf aufmerksam machen, da sie sich damit gewissermaßen ihr eigenes Grab schaufelte und sich nur noch mehr belastete. Krieger würde sich dadurch in seiner Meinung bestätigt fühlen und ihr das Leben fortan noch schwerer machen. Und selbst Englmair würde vermutlich notgedrungen von ihr abrücken. Spätestens dann würde sie tatsächlich zur dringend Tatverdächtigen Nummer eins avancieren und vermutlich umgehend festgenommen werden.

Anja überlegte, was sie tun konnte, um das zu verhindern. Am wichtigsten war es momentan, dass sie sich nicht auch noch durch ihr Verhalten verdächtig machte und den beiden damit einen Grund lieferte, ihre Wohnung zu durchsuchen. Wer wusste schon, was sie dort außer einem Messerblock mit einem möglicherweise fehlenden Küchenmesser noch alles finden würden? Blutflecken auf den Kleidungsstücken vielleicht, in denen sie vorhin auf der Couch aus ihrem vermeintlichen Albtraum erwacht war? Oder sogar Blut unter den Sohlen ihrer Joggingschuhe?

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Krieger erneut das Wort ergriff.

»Wenn du wirklich nichts mit der Tat zu tun hast«, sagte er in einem Ton, der zeigte, dass er sich diesen Punkt bewusst bis zum Schluss aufgehoben hatte und bis zum Letzten auskosten wollte, »dann kannst du uns doch sicher auch das hier erklären.«

Anja blinzelte irritiert und sah in die Richtung, in die Kriegers ausgestreckter Zeigefinger wies. Sie runzelte verwirrt die Stirn, als sie dort nur eine Bibel sah. Sie hatte einen schwarzen Umschlag mit einem kleinen goldenen Kreuz auf der vorderen Umschlagseite und lag aufgeschlagen, aber mit der Innenseite nach unten auf dem Altar.

Sie erinnerte sich, dass sie als Kind eine ganz ähnliche Bibel zur Erstkommunion geschenkt bekommen hatte. Allerdings wusste sie nicht, wohin das Buch verschwunden war, weil sie nach dem Tod ihres Vaters jegliches Interesse daran verloren hatte. Sie hatte seit damals nicht einmal mehr daran gedacht.

»Das ist eine Bibel«, stellte sie das Offensichtliche fest. »Du kennst dich mit Religion vielleicht nicht so gut aus, Krieger, aber katholische Priester besitzen Bibeln. Sie gehören gewissermaßen zur Grundausstattung eines Geistlichen. Deshalb verwundert es mich auch nicht im Geringsten, auf dem Altar einer Kirche eine Bibel zu sehen. Was findest du daran eigentlich so ungewöhnlich?«

»Dazu komme ich gleich noch«, sagte Krieger und sah dabei äußerst zufrieden aus.

Anja bekam ein flaues Gefühl im Magen, als der Angstknoten sich noch weiter ausdehnte. Sie ahnte, dass noch etwas kommen würde. Etwas, das ihren ständigen Unschuldsbeteuerungen möglicherweise den Boden entziehen würde.

Nur was?

»Zuerst möchte ich dich darauf hinweisen, dass diese Bibel exakt so dalag, wie du sie jetzt siehst. Und wie du unschwer erkennen kannst, ist sie an einer bestimmten Stelle aufgeschlagen. Siehst du das?«

»Natürlich. Ich bin schließlich nicht blind.«

»Gut.« Krieger sah sie an und grinste boshaft, fuhr aber nicht fort.

Anja seufzte ungeduldig. »Vermutlich möchtest du, dass ich dich jetzt frage, an welcher Stelle die Bibel aufgeschlagen ist. Aber den Gefallen tue ich dir aus purer Bosheit natürlich nicht. Stattdessen würde ich, wenn ich raten müsste, sagen, dass es eine Stelle in der Offenbarung des Johannes ist.«

Die Johannes-Offenbarung hatte im Fall des Apokalypse-Killers eine zentrale Rolle gespielt. Der Mörder, der sich in Anlehnung an den Autor der Offenbarung ebenfalls Johannes genannt hatte, hatte durch seine Taten die Apokalypse heraufbeschwören wollen. Außerdem hatte er Anja Nachrichten mit den entsprechenden Bibelzitaten zukommen lassen.

Doch Krieger schüttelte den Kopf. »Nein, es handelt sich nicht um die Johannes-Offenbarung. Schließlich ist der Apokalypse-Killer tot. Das solltest du eigentlich am besten wissen, immerhin hast du ihn eigenhändig getötet.«

Das stimmte. Krieger und Englmair hatten allerdings keine Ahnung, dass der sogenannte Apokalypse-Killer einen Hintermann oder geheimen Helfer gehabt hatte. Dessen Identität war noch immer ungeklärt, und er lief weiterhin frei herum. Zuletzt hatte Anja vor drei Monaten von ihm gehört, als er ihr am Grab ihres Vaters eine letzte schockierende und eindeutige Nachricht hinterlassen hatte. Seitdem wartete sie darauf, dass er erneut in ihr Leben trat und es ihr wieder schwermachte. Dass er sich seitdem nicht mehr gemeldet hatte und bedeckt hielt, beruhigte sie dabei keineswegs. Es bereitete ihr eher Sorgen, denn vermutlich heckte er nur wieder neue Gemeinheiten aus und wartete auf eine günstige Gelegenheit, sie in die Tat umzusetzen.

»Wenn es nicht die Offenbarung des Johannes ist, was dann?«

»Der Name Johannes stimmt«, antwortete Krieger. »Allerdings handelt es sich um das Johannes-Evangelium. Die Mörderin hat sogar eine ganz konkrete Textstelle markiert.« Er grinste noch immer breit.

»Und verrätst du mir auch, welche das ist, Krieger? Oder ist das, weil es sich um Täterwissen handelt, ebenfalls ein Geheimnis, das du mir gegenüber nicht preisgeben willst?«

»Es handelt sich um die ersten fünf Worte von Kapitel 2, Vers eins.«

»Und was steht dort?«

»Im Anfang war das Wort«, zitierte Krieger aus dem Gedächtnis. »Allerdings wurde der Text handschriftlich verändert. Die letzten beiden Worte wurden durchgestrichen und durch die Worte der Tod ersetzt.«

»Im Anfang war der Tod.« Anja erschauderte, als sie die veränderte Bibelstelle wiedergab, denn in dieser Form klang sie geradezu düster und unheilverkündend. Wie ein Omen, das sich nicht nur auf die konkrete Mordtat bezog, sondern darüber hinaus weitere Verbrechen in Aussicht stellte. Sie zuckte mit den Schultern, als könnte sie dadurch das unangenehme Gefühl drohenden Unheils abschütteln, und sah Krieger fragend an. »Und? Was hat das jetzt mit mir zu tun?«

»Das ist ganz einfach«, erwiderte der Mordermittler, wobei sich sein gehässiges Grinsen sogar noch vertiefte, obwohl Anja das gar nicht für möglich gehalten hätte. »Denn diese Bibel gehörte gar nicht dem verstorbenen Priester.«

»Wem dann?« Eine weitere düstere Vorahnung ließ Anjas Knie weich werden.

»Dir natürlich!«

»Mir?«

Krieger nickte. »Wenn ich richtig informiert bin, lautete dein Name bis zu deiner Hochzeit Anja Kramer. Und exakt dieser Name steht auch in der Bibel!«

III

Ein Faustschlag in den Magen hätte Anja in diesem Augenblick nicht härter und schmerzhafter treffen können als Kriegers Worte. Sie unterdrückte mit Mühe das Stöhnen, das sich ihr als erste Reaktion entringen wollte.

Krieger holte einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke. Mit dessen Spitze hob er vorsichtig den vorderen Umschlag der Bibel an, sodass die darunterliegende Leerseite zu sehen war. In deren oberen rechten Ecke stand tatsächlich in Kinderschrift Anjas vollständiger Geburtsname.

Obwohl es so viele Jahre her war, erinnerte sie sich noch deutlich daran, wie sie ihren Namen in die Bibel geschrieben hatte, die sie zur Erstkommunion geschenkt bekommen hatte. Sie hatte sich damals besonders viel Mühe gegeben, um bloß keinen Fehler zu machen. Schließlich wollte sie nicht riskieren, dass Gott sie mit einem Blitz niederstreckte, wenn sie etwas Falsches in sein Buch schrieb. Deshalb hatte sie auch ihre beste Schönschrift verwendet.

»Ist das nun deine Schrift oder nicht?«, fragte Krieger, dessen Grinsen spurlos verschwunden war. Stattdessen sah er sie mit einem Gesichtsausdruck an, den er ansonsten vermutlich für den Abschaum der Menschheit reserviert hatte, dem er bei der Arbeit im Verhörzimmer begegnete.

Anja nickte seufzend. »Zumindest war sie das mal, als ich noch ein Kind war. Inzwischen hat sich meine Handschrift allerdings sehr verändert. Und das nicht unbedingt zum Besseren.«

»Dann ist das also tatsächlich deine Bibel?«

»Ja«, sagte Anja in genervtem Tonfall. »Das streite ich ja auch gar nicht ab. Ich kann mir allerdings nicht erklären, wie sie hierhergekommen ist. Keine Ahnung, wo sie all die Jahre war. Ich habe sie nämlich mindestens ebenso lange nicht mehr gesehen wie Pfarrer Hartmann.«

Krieger ließ den Kugelschreiber wieder in der Innentasche seiner Jacke verschwinden. Er sah sie an, als hätte er sie soeben tatsächlich des schändlichen Mordes an einem Geistlichen überführt. Von ihm hatte sie augenscheinlich keine Gnade zu erwarten. Er hatte sich anhand dieser sogenannten Verdachtsmomente bereits eine konkrete Meinung gebildet und würde – starrköpfig, wie er nun einmal war – nicht einen Millimeter davon abrücken, solange Anja ihn nicht mit handfesten Beweisen vom Gegenteil überzeugen konnte.

Und wenn Anja ehrlich zu sich selbst war, dann konnte sie ihm das nicht einmal verdenken. Die Indizien, die am Tatort gefunden worden waren, wiesen alle eindeutig in ihre Richtung und waren belastend. Und dabei wussten die Mordermittler noch nicht einmal alles. Zum Glück, denn andernfalls wäre sie vermutlich schon längst mit Handschellen gefesselt und auf dem Weg zum Haftrichter.

Sie zweifelte ja schon selbst immer intensiver an ihrer Unschuld, je mehr sie über die Begleitumstände des Mordes erfuhr. Wieso sollte es den Kollegen dann anders ergehen?

Anja richtete den Blick hilfesuchend auf Englmair, der sich in den letzten Minuten zurückgehalten und Krieger das Feld überlassen hatte. Er kaute nachdenklich an seiner Unterlippe und sah sie an, als überlegte er, was er jetzt bloß mit ihr anstellen sollte. Sie ahnte, dass die Situation in diesem Moment buchstäblich auf Messers Schneide stand. Und wenn sie auf die falsche Seite kippte, würde sie vermutlich sofort verhaftet und ihre Wohnung durchsucht werden. Doch das durfte sie auf keinen Fall zulassen, bevor sie dort nicht selbst nach belastenden Beweisen gesucht und diese nach Möglichkeit beiseitegeschafft hatte.

»Hört zu!« Obwohl in ihrem Inneren ein Aufruhr an Emotionen herrschte, bemühte sie sich, nach außen gelassen und gefasst zu wirken. Sie durfte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als wäre sie schuldig und hätte Angst. »Denkt doch mal nach, ihr zwei! Glaubt ihr wirklich, ich könnte einem Menschen so etwas antun?« Sie deutete erneut auf die Leiche des Pfarrers am Fuß der Treppe, ohne sie dabei allerdings anzusehen.

»Natürlich nicht!«, sagte Englmair sofort.

»Warum nicht?«, fragte Krieger, ohne zu zögern.

Es war die Reaktion, die sich Anja erhofft hatte. Sie konnte Krieger momentan ohnehin nicht dazu bewegen, sie für unschuldig zu halten, deshalb konnte sie sich die Mühe genauso gut sparen. Aber solange Englmair zu ihr hielt, hatte sie noch einen Fürsprecher und damit eine Chance, der sofortigen Inhaftierung zu entgehen.

Doch eine Chance wofür?

Sie schob den Gedanken beiseite. Darum konnte sie sich später immer noch Gedanken machen. Erst einmal musste sie dafür sorgen, dass sie auf freiem Fuß und damit handlungsfähig blieb.

»Habt ihr schon die Nachbarn befragt?«, erkundigte sich Anja, um die Unterhaltung in eine andere Richtung und weg von ihrer eigenen Person zu lenken. Sie musste den beiden Männern wieder das Gefühl geben, dass sie immer noch eine Kollegin war und sie alle auf derselben Seite des Gesetzes standen. »Unter Umständen hat jemand etwas gesehen. Einen verdächtigen Wagen vielleicht.«

»Wir hatten noch keine Gelegenheit, die Nachbarn zu befragen«, sagte Englmair, der nicht länger darüber nachzugrübeln schien, ob er seiner Kollegin von der Vermisstenstelle tatsächlich einen brutalen Mord zutraute. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Außerdem ist es dazu noch ein bisschen zu früh.«

»Sag ihr bloß nichts!«, zischte Krieger. »Solange die Indizien, die eindeutig gegen sie sprechen, nicht widerlegt wurden, sollten wir sie wie eine Tatverdächtige behandeln. Wir sollten ihr daher auch überhaupt nichts über unsere Ermittlungen erzählen. Wahrscheinlich will sie uns nur aushorchen, um zu erfahren, wie viel wir bereits wissen.«

Anja schüttelte den Kopf. »Du hast sie doch wirklich nicht mehr alle, Krieger!«

»Ich hab sie also nicht mehr alle?«, fragte Krieger zornig. Er hatte einen hochroten Kopf bekommen und stieß mit dem ausgestreckten Zeigefinger wie mit einem Messer nach Anja, während er weiterredete und seine Argumente an den Fingern der anderen Hand abzähle: »Dann lass mich doch mal kurz aufzählen, was wir in Wirklichkeit alles haben: Da wäre als Erstes eine blutbefleckte Visitenkarte von dir in der Hosentasche des Toten. Zweitens steht auf der Rückseite eine handschriftliche Notiz über ein Treffen des Toten mit dir, das zufälligerweise exakt innerhalb des Zeitrahmens stattfand, in dem der Mann ermordet wurde. Drittens hast du selbst eingeräumt, dass du den Mann von früher kanntest und hier den Gottesdienst besucht hast. Und damit noch nicht genug, stammt viertens auch die Bibel auf dem Altar, in der ein Bibelzitat markiert und verändert wurde, von dir. Bei einer derartigen Fülle von Indizien ist manch einer schon für den Rest seines erbärmlichen Lebens hinter Gittern gelandet. Dass ich dir noch keine Handschellen angelegt habe, hast du nur der Gutmütigkeit meines netten Kollegen zu verdanken, der irgendwie einen Narren an dir gefressen zu haben scheint und dir den Mord deshalb nicht zutraut.« Er verstummte kurz, um nach Luft zu schnappen, bevor er fortfuhr: »Aber im Gegensatz zu ihm traue ich dir die Tat durchaus zu. Immerhin hast du schon einmal jemanden getötet. Es würde mich daher nicht einmal wundern, wenn die Tatwaffe aus deiner Küche stammt. Aber so blöd bist du dann vermutlich doch nicht, dass du dein eigenes Messer benutzt und am Tatort zurücklässt. Also können wir es uns vermutlich im Moment ersparen, deine Wohnung zu durchsuchen. Aber nimm dich bloß in Acht! Wir werden hier jeden Quadratmillimeter nach Fingerabdrücken und Körperspuren absuchen lassen. Und wenn auch nur ein einziger Abdruck oder ein Haar von dir gefunden wird, dann landest du ruckzuck in Untersuchungshaft.« Er verstummte, ließ die Hand sinken und atmete schwer. Sein Zorn schien sich nach diesen Worten fürs Erste entladen zu haben.

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