Kitabı oku: «IM ANFANG WAR DER TOD», sayfa 9

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»Und seit wann genau bist schon wieder da?«

Christian überlegte kurz, bevor er antwortete. »Seit etwas mehr als sechs Monaten.«

»Dann hast du dir ja reichlich Zeit gelassen, bis du endlich Kontakt mit uns aufgenommen hast.« Wenn es sein musste, konnte Anja genauso direkt sein wie ihre Mutter. Der Apfel fiel bekanntlich nicht weit vom Stamm.

Christian seufzte. »Das ist mir natürlich auch bewusst. Aber ich wollte warten, bis Oliver und Judith nachkommen, damit ihr sie kennenlernt.«

»Habt ihr beiden ebenfalls vor, in Deutschland zu bleiben?«, fragte Anja ihren Cousin und ihre Cousine.

Judith nickte nur, sagte jedoch nichts.

»Wir werden hier studieren«, erklärte Oliver.

Im Laufe des Gesprächs erfuhr Anja, dass Oliver zwanzig Jahre alt war und ab dem Wintersemester an der Technischen Universität München Chemie studieren würde. Judith sprach zwar die ganze Zeit kein einziges Wort, doch Oliver erzählte an ihrer Stelle, dass sie vor vier Monaten neunzehn Jahre alt geworden war und an der Akademie der Bildenden Künste freie Kunst studieren wollte. Ein Studium, das neben der Malerei und der Bildhauerei auch Bühnenbild und -kostüm, Fotografie, Medienkunst und andere Kunstrichtungen umfasste.

Judith nickte mehrere Male zustimmend, beteiligte sich aber ansonsten nicht aktiv an der Unterhaltung. Anja begann sich unwillkürlich zu fragen, ob sie überhaupt sprechen konnte. Aber wenn sie stumm wäre, hätten die anderen das doch bestimmt erwähnt.

Oliver war dafür umso redseliger. Anja wunderte sich, dass er so gut deutsch sprach, und fragte ihn danach.

»Wir unterhielten uns zu Hause hauptsächlich auf Deutsch und auf Englisch«, erklärte er. »Außerdem besuchten Judith und ich die Deutsche Internationale Schule in Kapstadt. Wir wurden dort sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache unterrichtet und machten das Deutsche Internationale Abitur.«

Das erklärte auch, warum sie die deutsche Sprache vollkommen akzentfrei beherrschten und so einfach an einer deutschen Hochschule studieren konnten.

Da Anja wusste, dass Olivers und Judiths Mutter bei einem Unfall gestorben war, erkundigte sie sich nicht nach ihr, um nicht versehentlich alten Wunden aufzureißen. Außerdem wurde in diesem Moment ohnehin das Essen serviert, worauf sich alle vorwiegend auf ihre Mahlzeit konzentrierten und weniger sprachen.

Judith pickte allerdings nur wie ein besonders wählerischer Vogel in ihrem Salat herum und aß kaum etwas davon. Ab und zu ertappte Anja ihre Cousine dabei, dass diese sie anstarrte, als bemühte Judith sich, Anja besser einzuschätzen. Anja wiederum fühlte sich jedes Mal unbehaglich, wenn sie feststellte, dass Judith sie beobachtete. Sie wurde aus ihr einfach nicht schlau. Außerdem sammelte Judith mit ihrem insgesamt eher merkwürdigen Verhalten nicht unbedingt Sympathiepunkte bei ihr.

Während des Essens plauderten sie erneut vorwiegend über Belanglosigkeiten. Christian fragte Dagmar über gemeinsame Bekannte aus der Vergangenheit aus. Dann erzählte er, dass er seinen Kindern in den letzten drei Tagen München gezeigt habe. Dabei seien allerdings nicht nur die typischen Sehenswürdigkeiten von Interesse gewesen, die auch Gegenstand jeder Touristenführung sind, sondern vor allem die Orte, die er aus seiner Jugend kannte.

»Ich habe ihnen zum Beispiel gezeigt, wo mein Bruder und ich geboren wurden und aufgewachsen sind. Dann natürlich die Schulen, auf die ich ging. Außerdem das Haus, in dem ich zur Miete gewohnt habe, bevor ich nach Südafrika ging. Ich ging mit ihnen sogar zu der Kirche, in der unsere Eltern mit Frank und mir sonntags immer die Messe besuchten und in der wir sogar ein paar Jahre Ministranten waren.«

»Welche Kirche war das denn?«, fragte Anja und bemühte sich, es möglichst beiläufig klingen zu lassen. Sie hatte nur mit halbem Ohr zugehört und nachgedacht. Doch beim Wort Kirche hatten bei ihr sofort die Alarmglocken geläutet.

»Ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern. Aber es handelt sich um die Kirche in Obermenzing, in der, wenn ich mich richtig erinnere, du damals getauft wurdest und später auch deine Erstkommunion gefeiert hast. Wieso fragst du?«

»Nur aus Interesse«, erwiderte Anja abwiegelnd und machte eine Geste, als wäre es nicht so wichtig. Täuschte sie sich, oder hatte sie es in Christians Augen für den Bruchteil einer Sekunde aufblitzen sehen, als würde er sie insgeheim verhöhnen. Sie war sich allerdings nicht sicher und konnte es sich genauso gut auch nur eingebildet haben.

Dennoch!

Dass er ausgerechnet die Kirche erwähnt hatte, in der sie Pfarrer Hartmann getötet hatte, war in ihren Augen hochgradig verdächtig. Hatte sie also tatsächlich recht damit, dass er der geheimnisvolle Unbekannte war, der ihr die Polaroid-Aufnahme ihres sterbenden Vaters und die letzten beiden E-Mails geschickt hatte.

Der Mörder meines Vaters!

Sie erschauderte.

Er wandte den Blick ab, als Dagmar eine Frage nach einer gemeinsamen ehemaligen Bekannten stellte, von der sie schon lange nichts mehr gehört hatte. Was Christian ihr antwortete, bekam Anja allerdings nicht mit, da sie nicht auf seine Worte achtete. Ihr Blick fiel zufällig auf Judith, die sie erneut mit gerunzelter Stirn ansah, als würde sie sich fragen, aus welchem Grund Anja bei der Erwähnung der Kirche nachgefragt hatte. Oder als würde sie vermuten, dass mehr hinter Anjas Frage steckte, als sie zugeben wollte.

Unsinn!, sagte sich Anja. Sie sollte nicht wieder damit anfangen, jeden zu verdächtigen, nur weil er sich merkwürdig verhielt oder komisch aus der Wäsche guckte. Das war schon im Fall des Apokalypse-Killers gründlich in die Hose gegangen.

Sie hätte von Christian natürlich gern erfahren, worüber er und ihr Vater sich damals so heftig gestritten hatten. Doch dies war ihrer Ansicht nach weder der richtige Anlass noch der richtige Ort dafür. Stattdessen hatte sie vor, irgendwann in naher Zukunft nach Möglichkeit unter vier Augen mit ihm über dieses Thema zu sprechen.

Nachdem sie gegessen hatten und die Bedienung die leeren Teller und die kaum angerührte Salatschüssel abgeräumt hatte, tranken sie Cappuccino oder Espresso. Inzwischen bestritt vorwiegend Christian die Unterhaltung und erzählte Geschichten aus der Zeit, als sein Bruder und er noch Kinder gewesen waren, und vor allem darüber, was sie damals alles angestellt und ausgeheckt hatten.

Anja fiel es schwer, sich ihren Vater als Kind vorzustellen. Dennoch brachte ihr Onkel mit seinen Geschichten auch sie zum Schmunzeln. Sie behielt zwar ihren Verdacht im Hinterkopf und Christian weiterhin aufmerksam im Auge, doch im Laufe des Abends wurde ihr bewusst, dass sie ihren Onkel noch immer gern hatte. Deshalb fragte sie sich allmählich, ob sie nicht vielleicht doch die falschen Schlussfolgerungen gezogen hatte und er schlicht und ergreifend nichts mit dem Tod ihres Vaters zu tun hatte.

Aber dann fiel ihr ein, dass sie ihren Nachbarn Raphael Guthmann ebenfalls gemocht hatte, ohne bis zuletzt auch nur zu ahnen, dass er der Apokalypse-Killer gewesen war.

II

Da ihre Mutter zu Fuß gekommen war, bot Anja ihr an, sie nach Hause zu fahren. Doch Dagmar lehnte dankend ab. Ein kleiner Spaziergang nach dem Essen täte ihr jetzt gut, meinte sie. Außerdem waren es vom Restaurant bis zu ihrem Zuhause in der Belastraße nur fünfhundert Meter. Also verabschiedeten sie sich vor der Tür voneinander. Und während ihre Mutter losmarschierte, um an der nächsten Ampel die Straße zu überqueren, ging Anja zu ihrem Auto, das sie auf dem Parkstreifen am Rand der Straße abgestellt hatte, und stieg ein.

Bevor sie losfahren konnte, kamen bereits Christian, Oliver und Judith aus dem Gebäude. Judith hatte noch auf die Toilette gehen müssen, und ihr Vater und ihr Bruder hatten beschlossen, auf sie zu warten. Deshalb hatten sich Anja und ihre Mutter drinnen von ihnen verabschiedet und waren gegangen.

Die drei gingen nicht in Anjas Richtung und sahen sie daher auch nicht im Auto sitzen. Stattdessen wandten sie sich nach links und marschierten zum Parkplatz neben dem Gebäude.

Anja fuhr noch nicht los, sondern wartete.

Es dauerte nicht lange, bis ein weißer BMW X6 vom Parkplatz fuhr und nach links auf die Straße einbog.

Ohne darüber nachzugrübeln, was sie da tat, startete Anja ihren MINI. Sie wartete, bis mehrere Fahrzeuge an ihr vorbeigefahren waren, bevor sie aus der Parklücke ausscherte, kurzerhand auf der Straße wendete und dem BMW hinterherfuhr.

Sie konnte nicht einmal genau sagen, warum sie Christian, Oliver und Judith folgte. Wahrscheinlich wollte sie einfach nur das Haus sehen, das ihr Onkel gekauft hatte und in dem die drei wohnten.

Da sie vorhin nicht einmal in ihre Richtung geschaut hatten, wussten sie demnach auch nicht, welchen Wagen Anja fuhr. Es war also unwahrscheinlich, dass sie Anja entdeckten. Falls allerdings ihr Onkel tatsächlich der Mörder ihres Vaters und der geheimnisvolle Absender der beiden Mails war, dann hatte er sie natürlich heimlich beobachtet und wusste daher über ihren Wagen Bescheid. Aber dieses Risiko musste sie eingehen, wenn sie mehr über ihn erfahren wollte.

Sie achtete darauf, dass sich immer mehrere Autos zwischen ihnen befanden, die den Insassen des X6 die Sicht auf ihren MINI nahmen. Hin und wieder ließ sie sich sogar ein Stück zurückfallen, um keine ungewollte Aufmerksamkeit zu erregen. Dabei konnte sie selbst den BMW zwar auch nicht ständig im Auge behalten, sie achtete aber vor allem darauf, wann und wo er abbog. Da sie andererseits wusste, dass Christians Haus in Obermenzing lag, konnte sie aufgrund ihrer Ortskenntnis ganz gut vorhersehen, welche Strecke er nehmen würde.

Die Fahrt dauerte insgesamt eine knappe halbe Stunde und führte durch die Stadtteile Laim und Pasing nach Obermenzing. Als sie den Bahnhof München-Pasing passierten und kurz darauf die Bahn- und S-Bahn-Schienen unterquerten, dachte Anja automatisch an Melanie Brunner. Das erste der drei vermissten Mädchen war damals hier ganz in der Nähe verschwunden und seitdem nie wieder gesehen worden. Anschließend fuhren sie von der Pippinger Straße zunächst in die Verdistraße und bogen dann in die Wöhlerstraße ein. Anja kannte sich hier noch immer gut aus, denn die beiden letztgenannten Straßen hatten zu ihrem Schulweg gehört, als sie noch die Grundschule besucht hatte, die ganz in der Nähe der Kirche Leiden Christi lag.

Sie ließ den Abstand zwischen den Autos größer werden, da sie vermutete, dass sie bald ihr Ziel erreichen würden. Und tatsächlich bog der X6 kurze Zeit später in der Longinusstraße rechts in eine Grundstückseinfahrt und hielt vor einer geschlossenen Garage.

Anja fuhr augenblicklich rechts ran, stoppte am Straßenrand und schaltete Motor und Licht aus. Mehrere Autos, die vor ihr parkten, gaben ihr Deckung. Anja hingegen konnte durch die Scheiben der Fahrzeuge spähen und beobachten, wie ihr Onkel, der am Steuer des BMW gesessen hatte, und seine beiden Kinder ausstiegen. Ohne sich auch nur einmal umzusehen, verschwanden die drei nacheinander im Haus.

Sie ließ den Wagen wieder an und fuhr anschließend langsam am Haus ihres Onkels vorbei. Durch die Scheiben im Erdgeschoss konnte sie Licht im Innern sehen. In einem der Fenster war die dunkle Silhouette eines Menschen zu erkennen, Anja konnte die Person allerdings nicht identifizieren. Doch wenn sie damit Schwierigkeiten hatte, konnte die Person am Fenster auch nicht in den dunklen Wagen hineinsehen und Anja erkennen, sodass sie sich keine Sorgen machen musste. Sie prägte sich die Hausnummer ein; dann gab sie Gas und fuhr nach Hause.

2. TEIL

… und der Tod war bei Mir …

KAPITEL 10

Auf dem Pausenhof war es geradezu gespenstisch still.

Ihre tief sitzende Verärgerung war der Frau deutlich vom Gesicht abzulesen, das ein eng geknüpftes Gitternetz feiner Fältchen aufwies. Sie war schon älter und trug ihr langes ergrautes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Und obgleich sie verhältnismäßig klein und zierlich war, strahlte sie dennoch eine natürliche Autorität aus.

Sie schnaubte verächtlich und schüttelte verneinend den Kopf. Zweifellos fragte sie sich in diesem Augenblick, warum sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, hierherzukommen, und ihre kostbare Zeit verschwendete. Dann wandte sie sich resolut ab und ging davon. Die Echos ihrer kleinen Schritte auf dem gepflasterten Hof wurden von den Mauern des Schulgebäudes zurückgeworfen, das um diese nächtliche Uhrzeit menschenleer war.

Doch die alte Frau kam nur ein halbes Dutzend Schritte weit.

Als ahnte sie instinktiv, dass die Person, mit der sie sich gestritten hatte, sie nicht so einfach gehen lassen würde, blieb sie plötzlich stehen und begann, den Kopf zu drehen, um einen Blick über die Schulter zu werfen. Aber noch ehe sie die begonnene Bewegung vollenden konnte, war die andere Person bereits geräuschlos herangekommen und stand jetzt unmittelbar hinter ihr. Sie warf die Schnürsenkelschlinge, die sie aus der Kängurutasche ihres dunklen Kapuzenpullis geholt hatte und an den Enden zwischen sich hielt, blitzschnell über den Kopf der alten Frau und schlang sie um ihren Hals. Dann zog sie sofort unerbittlich und mit all ihrer Kraft zu.

Das Opfer hätte sicherlich vor Überraschung, Schreck oder Panik laut geschrien, wäre es dazu noch in der Lage gewesen. Doch alles, was aus seinem weit aufgerissenen, vergeblich nach Luft schnappenden Mund kam, war ein lang gezogenes ersticktes Röcheln, das so leise war, dass es nicht einmal ein Echo an der Schulhausfassade hervorrief. Geschweige denn, dass es außer ihr und ihrem Angreifer irgendjemand hören konnte.

Instinktiv griff sie sich mit beiden Händen an den Hals. In dem aussichtslosen Bemühen, ihre Finger zwischen Hals und Strangulationsschnur zu bekommen, kratzte sie sich mit den Fingernägeln die Haut blutig. Doch die Schnur hatte sich bereits zu tief in ihren mageren Hals gegraben, als dass sie eine realistische Chance gehabt hätte, sie jetzt noch lösen zu können. Vor allem nicht bei einem Gegner, der größer, jünger und vor allem kräftiger als sie war. Ihre Bewegungen wurden schon deutlich schwächer und unkoordinierter, als ihre Kräfte zu erlahmen begannen.

Auch der Angreifer, der die Kapuze über den Kopf und tief ins Gesicht gezogen hatte, keuchte vor Anstrengung. Es erforderte eine Menge Kraft, einen Menschen zu erdrosseln. Und er durfte in seinen Bemühungen keinen einzigen Augenblick nachlassen, wenn er die Angelegenheit rasch zu einem erfolgreichen Abschluss bringen wollte.

Die alte Frau öffnete und schloss wie ein Fisch auf dem Trockenen mehrmals den Mund, als würde sie noch immer nach dem lebensnotwendigen Sauerstoff schnappen, den die einschnürende Drosselschnur um ihren Hals ihr verwehrte. Doch dann endete das Röcheln abrupt, als fehlte ihr sogar dafür die Kraft. Und wenige Augenblicke später erschlaffte auch ihr Körper, als das Leben aus ihm wich, an das er sich immerhin neunundsechzig Jahre lang erfolgreich geklammert hatte.

Der Angreifer ließ daraufhin das reglose Bündel, das jäh das Doppelte zu wiegen schien, langsam zu Boden sinken und ging dabei in die Knie. Er lockerte die Schlinge um ihren Hals allerdings noch immer nicht. Erst als er wenige Minuten später hundertprozentig davon überzeugt war, dass kein Leben mehr in der Frau steckte, ließ er los und wickelte die Enden des Schnürsenkels von seinen behandschuhten Händen. Er entfernte das Strangulationswerkzeug, das eine tiefe Furche in das Fleisch des Halses gegraben hatte, jedoch nicht, sondern beließ es an Ort und Stelle. Er überzeugte sich lediglich davon, dass die Frau tatsächlich tot war.

Doch daran konnte es nicht den geringsten Zweifel geben. Sie atmete nicht mehr. Und ihre weit aufgerissenen Augen, die noch immer von dem grenzenlosen Entsetzen in den letzten Minuten ihres Lebens zeugten, starrten blicklos ins Leere. Ihr Mörder hob die behandschuhte Hand und schloss ihr geradezu sanft die Augen, als könnte er ihren Blick nicht länger ertragen. Erst dann richtete er sich wieder zu seiner vollen Größe auf, atmete tief durch und sah sich um.

Auf dem Schulhof war es wieder ebenso gespenstisch still wie vor dem ruchlosen Mord. Und niemand hatte auch nur das Geringste von der Tragödie mitbekommen, die sich an diesem Ort abgespielt hatte, der sonst vom Lachen von Schulkindern erfüllt wurde.

KAPITEL 11

I

Erneut wurde sie von ihrem eigenen Schrei aus einem furchtbaren Albtraum geweckt.

Anjas Oberkörper schnellte wie eine gespannte Feder nach oben, bis sie aufrecht saß. Sie schwitzte am ganzen Körper und atmete schwer. Nur am Rande nahm sie wahr, dass ihr Herz geradezu schmerzhaft heftig klopfte, ihr Schädel von einem wütenden Hämmern erfüllt wurde und sie am ganzen Körper zitterte, als litte sie unter Schüttelfrost. Außerdem war ihr kotzübel, während sie gleichzeitig einen unangenehmen Geschmack im staubtrockenen Mund und riesigen Durst hatte.

Doch auf all das achtete sie kaum. Noch immer beschäftigten sie die erschütternden Szenen ihres Albtraums, die nicht sofort wieder verblassten, wie es sonst bei Traumbilder in der Regel der Fall ist, sondern besonders hartnäckig waren und im Gegenteil mit jeder verstreichenden Sekunde wirklicher zu werden schienen.

Es ist schon wieder passiert!

Der zutiefst schockierende Gedanke, dass sie im Schlaf einen weiteren Mord miterlebt hatte, lähmte sie für eine Weile, sodass sie zu keinem vernünftigen Gedanken fähig war. Erst ganz allmählich, während sich ihr Herzschlag beruhigte und das Zittern nachließ, erlangte sie die Fähigkeit des logischen Denkens zurück.

In der Nacht zuvor, als sie zum ersten Mal aus einem derartigen Traum erwacht war und sich in einer derart ähnlichen Situation wiedergefunden hatte, dass es sich nun wie ein Déjà-vu-Erlebnis anfühlte, hatte sie sich noch erfolgreich einreden können, es wäre ohnehin nur ein Traum gewesen. Doch dann hatte Krieger angerufen und sie zum Tatort des geträumten Mordes bestellt, wo sie sich mit eigenen Augen davon hatte überzeugen können, dass es mehr als nur ein Traum gewesen war.

Schon allein deshalb konnte sie sich heute nicht mit diesem Gedanken trösten. Stattdessen musste sie sich von Anfang an vergegenwärtigen, dass es einen weiteren Mord gegeben hatte.

Und nicht nur das!

Sie war es, die einen weiteren Mord begangen hatte!

Fast rechnete sie damit, dass jeden Moment ihr Smartphone klingelte, weil Krieger erneut anrief, um sie zum Schauplatz des zweiten Mordes zu bestellen. Falls er dieses Mal überhaupt noch anrief und nicht gleich persönlich vorbeikam, um ihr mit triumphierendem Blick die Handschellen anzulegen und ihre Rechte vorzulesen.

Verdient hätte ich es allemal!, dachte sie schicksalsergeben. Dennoch! So weit darf es auf keinen Fall kommen!

Mit Erstaunen stellte sie fest, dass der Gedanke, dass sie erneut gemordet hatte, nicht halb so schockierend war wie gestern noch. Anscheinend gewöhnte man sich daran, so furchtbar das auch war. Oder fand sie allmählich sogar Gefallen daran, ihre Mitmenschen hinzumetzeln?

Der Gedanke war aberwitzig und krank, deshalb schüttelte sie entschieden den Kopf.

Dennoch war sie über den Mord schockiert. Denn wie schon bei ihrem ersten vermeintlichen Albtraum kannte sie auch die Person, die mit der Schnürsenkelschlinge erdrosselt worden war.

Anja hatte das Gesicht der Frau und den geradezu anklagenden Blick ihrer toten Augen noch immer deutlich vor Augen und erschauderte.

Sie hieß Maria Schreiber und war Anjas Grundschullehrerin in der ersten und zweiten Klasse gewesen. Mittlerweile musste sie längst pensioniert sein. Anja hatte nicht mehr an sie gedacht, seit sie die Grundschule verlassen hatte und aufs Gymnasium gegangen war. Dennoch hatte sie keine Schwierigkeiten gehabt, die ehemalige Lehrerin sofort wiederzuerkennen. Die zahlreichen Furchen in ihrem Gesicht waren im Laufe der vergangenen Jahre natürlich zahlreicher und tiefer geworden, und das Haar war mittlerweile vollständig ergraut. Außerdem war sie Anja kleiner als damals vorgekommen. Aber das lag vermutlich nur daran, dass sie ihre frühere Lehrerin inzwischen um mindestens einen halben Kopf überragte. Ansonsten hatte sich die Frau seit damals jedoch kaum verändert.

Anja hatte keine guten Erinnerungen an sie. Sie hatte Frau Schreiber damals regelrecht gehasst. Das lag vor allem daran, dass die Lehrerin sie anscheinend von Anfang an ebenfalls nicht gemocht hatte. In ihren Augen war Anja zu aufmüpfig gewesen und hatte ständig ihre natürliche Autorität vor der übrigen Klasse angezweifelt, wenn sie Dinge vor allen anderen infrage gestellt hatte. Aus diesem Grund war Anja immer wieder bestraft worden; teilweise sogar für Dinge, für die sie gar nichts konnte oder die sie nicht getan hatte. Das empfand sie als ungerecht und führte nur dazu, dass sie noch mehr rebellierte. Mit der Folge, dass auch die Bestrafungsaktionen zunahmen. Es war ein Teufelskreis. Doch bevor die Situation eskalieren konnte, gab es ein klärendes Gespräch, an dem außer der Lehrerin und Anja auch ihre Eltern und die Direktorin der Grundschule teilnahmen. Am Ende erklärten sich beide Parteien zu einer Art Burgfrieden bereit. Frau Schreiber und Anja wurden zwar keine Freunde mehr, sondern waren sich weiterhin in gegenseitiger Abneigung verbunden, doch da es für alle einfacher war, bemühten sie sich, von da an miteinander auszukommen und sich nicht mehr gegenseitig das Leben schwerzumachen. Gleichwohl machte Anja drei Kreuze, als sie in der dritten Klasse mit Frau Müller eine andere Klassenlehrerin bekam, mit der sie überhaupt keine Schwierigkeiten hatte und die sie richtig gern hatte.

Und jetzt sollte Frau Schreiber, der Schrecken ihrer ersten beiden Schuljahre, tatsächlich tot sein?

Obwohl die vorangegangene Nacht ihr bewiesen hatte, dass ihr Traum von der Ermordung des Pfarrers auf furchtbarer Realität beruht hatte, fiel es ihr jetzt dennoch schwer, an den Tod der pensionierten Lehrerin zu glauben.

Unkraut verdirbt nicht!, dachte Anja unwillkürlich. Schon allein die teuflische Boshaftigkeit dieser Frau musste eine konservierende Wirkung entfaltet haben und hätte der ehemaligen Grundschullehrerin eigentlich unverdienterweise ein geradezu biblisches Alter bescheren müssen.

Doch dann hatte ein simpler Schnürsenkel ihrem Leben wirkungsvoll ein vorzeitiges Ende beschert.

Anja schüttelte erneut den Kopf und seufzte schwer. Sie hatte die Frau zwar nie gemocht, sondern immer nur aus tiefstem Herzen gehasst, dennoch hatte sie ihr nie den Tod gewünscht. Nicht einmal, als sie noch ihre Lehrerin gewesen und sie ständig gepiesackt hatte. Und nach der zweiten Klasse hatte sich durch den Wechsel der Klassenlehrerin die Sache für Anja ohnehin erledigt.

Stellte sich natürlich die Frage, wieso sie die Frau dann ausgerechnet jetzt, nach all den Jahren, in denen sie sich nie wieder begegnet waren, umgebracht hatte. Welches Motiv konnte zu einer derartigen Gewalttat geführt haben? Und warum hatte sie sich quasi aus heiterem Himmel überhaupt wieder an Frau Schreiber erinnert?

Doch da fiel ihr die Mappe mit dem Kommunionfoto und den Klassenfotos wieder ein. War das der Auslöser gewesen? Hatte sie in der vorherigen Nacht im Alkoholrausch in den alten Fotos gestöbert, auf den Aufnahmen der ersten und zweiten Klasse die ehemalige Lehrerin entdeckt und spontan beschlossen, sie um die Ecke zu bringen.

Nie im Leben!

Bis gestern hätte sie diese Aussage noch ohne das geringste Zögern unterschrieben. Doch nachdem sie sich aufgrund der vielfältigen Beweise zwangsläufig hatte eingestehen müssen, dass sie Pfarrer Hartmann getötet hatte, und ebenfalls kein Motiv dafür sehen konnte, war im Grunde nichts mehr sicher.

Der Gedanke an die Klassenfotos bewirkte, dass endlich wieder Leben in Anja kam. Als Erstes sah sie sich an dem Ort um, an dem sie aufgewacht war. Da sie insgeheim damit gerechnet hatte, überraschte es sie heute Nacht nicht mehr, dass sie erneut auf der Wohnzimmercouch saß. Sie schwang ihre nackten Füße auf den Boden und stand auf. Allerdings weit vorsichtiger als beim letzten Mal, damit ihr nicht wieder schwindelig wurde. Dann tappte sie auf wackligen Beinen zum Schalter neben der Tür und machte das Licht an.

Die Helligkeit ließ sie die Augen zusammenkneifen. Als sie diese wieder öffnen konnte, ohne geblendet zu werden, fiel ihr Blick sofort auf die Flasche und das Glas auf dem Couchtisch, die sie angesichts des widerwärtigen Geschmacks in ihrem Mund ebenfalls erwartet hatte.

Tequila?

Eigentlich hatte Anja Tequila noch nie besonders geschätzt. Nicht einmal in der Hochphase ihrer Trinkerei, als sie nicht nur täglich, sondern auch große Mengen und relativ wahllos fast alles getrunken hatte, sofern es genug Alkohol enthielt. Aber vielleicht hatte es dort, wo sie sich den Tequila besorgt hatte, nichts anderes gegeben? Oder aber sie war so verzweifelt gewesen, dass es ihr egal gewesen war.

Jetzt, wo sie sich nach dem Schock des Erwachens wieder völlig ernüchtert fühlte, konnte sie sich ihr irrationales Verhalten nicht erklären. Gleichwohl konnte sie schwerlich Tatsachen verleugnen, die so offensichtlich waren, weil die Indizien vor ihr lagen. Ebenso wie am gestrigen Tag die erdrückenden Beweise dafür, dass sie Pfarrer Hartmann umgebracht hatte.

Immerhin stellte sie erleichtert fest, dass sie den Tequila nur zur Hälfte geleert hatte. Wenigstens etwas! In ihrer derzeitigen, insgesamt eher bescheidenen Lage musste sie sogar für derartige Kleinigkeiten dankbar sein.

Sie ließ den Blick von der Flasche weg und durch den Raum schweifen. Dabei entdeckt sie noch etwas, das sie bereits erwartet hatte. Die Mappe mit den großformatigen Fotos lag erneut im Regal. Und obenauf, das konnte sie sogar von hier erkennen, lag das Foto der ersten Klasse. Anja durchquerte das Wohnzimmer und nahm die Aufnahme in die Hand. Es überraschte sie nicht, dass das Gesicht der Klassenlehrerin, die ganz rechts am Bildrand stand und trotz ihrer geringen Größe die Erstklässler überragte, durch kräftige Kugelschreiberkritzeleien, die durch das Fotopapier gegangen waren, gewissermaßen ausgelöscht worden war. Und auch auf dem Foto der zweiten Klasse unmittelbar darunter war das der Fall.

Erst der Pfarrer und jetzt die Grundschullehrerin!

Wieso? Und würde das jetzt immer so weitergehen? Wenn ja, dann wäre es vermutlich besser, wenn sie sich von Krieger und Englmair verhaften ließ und ein Geständnis ablegte. Außerdem: Wer kam wohl als Nächster an die Reihe?

Anja legte die Bilder zurück und überlegte.

Noch war es ihrer Meinung nach nicht erwiesen, dass die Lehrerin tatsächlich tot war. Was, wenn es sich in diesem Fall wirklich nur um einen Albtraum ohne reale Grundlage handelte, und nicht wieder um eine durch den Alkohol-Blackout verschüttete Erinnerung?

Ich muss mir unbedingt Gewissheit verschaffen!

Sie ging in den Flur und nahm den Hörer ihres Festnetztelefons in die Hand. Um die Telefonnummer ihrer ehemaligen Lehrerin herauszufinden, wollte sie sich bei der Auskunft informieren. Anschließend konnte sie Frau Schreiber anrufen. Nahm diese den Anruf entgegen, dann wusste Anja wenigstens, dass es nur ein fürchterlicher Albtraum gewesen war.

Doch noch bevor sie die vollständige Nummer der Auskunft gewählt hatte, wurde ihr jäh bewusst, was sie da tat, und sie legte rasch den Hörer auf. Es wäre nämlich ein riesengroßer Fehler, wenn sie bei der pensionierten Lehrerin anrief. Denn für den Fall, dass sie die Frau doch ermordet hatte, würde sie mit ihrem Anruf nur ein weiteres Indiz erzeugen, das wie ein anklagend ausgestreckter Zeigefinger auf sie deutete. Krieger würde sich eine solche Steilvorlage nicht entgehen lassen. Genauso gut könnte sie ihn anrufen und die beiden Morde gestehen.

Aber was kann ich dann tun?

Dann fiel es ihr ein. Wenn sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen wollte, ob sie erneut gemordet hatte, musste sie schon zum Schauplatz des Mordes fahren und nachsehen, ob dort tatsächlich der Leichnam einer erdrosselten alten Frau lag.

Als Anja sich abwandte, um ins Bad zu gehen, fiel ihr Blick zufällig auf ihre neuen Laufschuhe, die sie erst gestern gekauft hatte. Ihr Herz setzte kurzzeitig aus, als sie sah, dass beim linken Schuh der Schnürsenkel fehlte.

II

Sie parkte den Wagen ein gutes Stück von der Schule entfernt am Rand einer dunklen und stillen Seitenstraße. Sobald sie ausgestiegen war, sah sie sich aufmerksam um. Doch die Fenster der Wohnhäuser ringsum waren allesamt dunkel, sodass die Gefahr, dass jemand sie oder ihr Auto bemerkte, vergleichsweise gering war.

Nachdem sie zu Hause ihren brennenden Durst gestillt hatte, hatte sie die verschwitzten Klamotten ausgezogen und sich kurz gewaschen. Dann hatte sie alte Sachen angezogen, die sie schon eine ganze Weile nicht mehr getragen hatte. Eine schwarze Jogginghose, die ihr eine Spur zu eng war, als dass sie noch bequem gewesen wäre. Dazu ein ausgewaschenes dunkelblaues T-Shirt. Außerdem eine schwarze Fleecejacke, alte Turnschuhe sowie dünne schwarze Wollhandschuhe. Falls ihr bei ihrem nächtlichen Ausflug jemand begegnete, was sie nicht hoffte, würde man sie hoffentlich für eine Joggerin halten und nicht weiter beachten.

Die Sachen, in denen sie auf der Couch zu sich gekommen war, hatte sie zusammen mit den neuen Laufschuhen in eine Tüte gesteckt und im Kofferraum verstaut. Falls sie auf dem Pausenhof der Schule tatsächlich Frau Schreibers Leiche fand, wollte sie die Sachen auf dem Rückweg entsorgen, da sich daran unter Umständen Körperspuren der alten Frau befanden. Es war zwar ein Risiko, mit den Beweisen, die sie möglicherweise mit einem zweiten Mord in Verbindung brachten, zum Schauplatz genau dieses Mordes zu fahren, doch dieses Wagnis musste sie notgedrungen eingehen.

Auf der Fahrt hierher hatte sie noch aufmerksamer auf Verfolger geachtet. Da um diese Zeit allerdings nur wenig Verkehr herrschte, war sie sich ziemlich sicher, dass niemand ihr gefolgt war.

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