Kitabı oku: «TODESSPIEL», sayfa 3

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»Als sie noch bei ihren Eltern wohnte, ist sie sonntags auch immer noch brav mit zur Kirche gegangen«, übernahm erneut Kati. »Aber hier in München war sie noch kein einziges Mal.«

Antonia sagte: »Nur wenn sie ihre Eltern besucht, was sie wie letztes Wochenende aus gegebenem Anlass gelegentlich tut, muss sie wieder mit in die Kirche.«

»Wahrscheinlich war das vorgestern auch wieder der Fall«, meinte Kati. »Außer, sie hat ihrer Mutter endlich die Wahrheit erzählt.«

»Wieso hätte sie das tun sollen?«, fragte Antonia ihre Mitbewohnerin.

»Weil sie mich gefragt und ich ihr geraten habe, endlich reinen Tisch zu machen. Schließlich ist Zoe volljährig und kann glauben oder nicht glauben, was sie will. Und die ewige Lügerei finde ich ohnehin nicht gut.«

»Ach«, sagte Antonia erstaunt. »Und wieso erfahre ich das erst jetzt?«

Kati zuckte mit den Schultern. »Entschuldige, aber du warst eben nicht da, als sie mich fragte. Wahrscheinlich warst du gerade bei deinem letzten Drei-Tage-Liebhaber. Und dann muss ich wohl vergessen haben, es dir zu erzählen.«

»Okay.«

Die beiden Studentinnen wandten sich wieder Anja zu, die sich Notizen machte.

»Was wollen Sie noch wissen?«, fragte Antonia eifrig, die anscheinend Gefallen an der Befragung gefunden hatte.

Anja überprüfte ihre Notizen und überlegte kurz, dann blickte sie auf und sah die beiden jungen Frauen der Reihe nach an. »Das war es für den Moment.«

Antonia sah beinahe ein bisschen enttäuscht aus.

»Und was passiert jetzt?«, fragte Kati.

»Ich würde mir noch ganz gern Zoes Zimmers ansehen«, sagte Anja. »Danach rufe ich ihre Eltern an und frage, ob sie heute Nachmittag Zeit für mich haben.«

»Sie wollen dafür extra nach Nürnberg fahren?«, fragte Antonia.

Anja nickte, während sie den Kugelschreiber in die Lasche steckte und das Notizbuch zuklappte. »Sicherlich könnte ich sämtliche Fragen auch am Telefon stellen und damit eine Menge Zeit sparen. Aber ich mache mir bei den Vermisstenfällen, die ich zu bearbeiten habe, lieber einen persönlichen Eindruck von den Angehörigen und Freunden der vermissten Personen.« Sie nahm die Akte vom Tisch und stand auf. »Wenn Sie mir jetzt bitte Zoes Zimmer zeigen könnten.«

Sobald Antonia und Kati sie in Zoes Zimmer geführt hatten, bat Anja die beiden Studentinnen, sie allein zu lassen.

Antonia öffnete den Mund, als wollte sie protestieren. Doch noch ehe sie ein einziges Wort äußern konnte, packte ihre Mitbewohnerin sie bereits am Arm und zog sie in Richtung Tür.

»Komm mit!«, sagte Kati. »Lassen wir die Frau Kommissarin in Ruhe ihre Arbeit machen.«

Anja wartete, bis die beiden jungen Frauen den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatten. Erst dann sah sie sich um und verschaffte sich einen ersten Eindruck vom Zimmer der Vermissten.

Nach Anjas Ansicht enthielt es gerade einmal das Notwendigste, was man als Studentin brauchte, und erinnerte sie in seiner Schlichtheit ein bisschen an eine karge Mönchszelle. Ein ordentlich gemachtes Bett mit beige-weiß-karierter Bettwäsche. Ein tadellos aufgeräumter Schreibtisch, auf dem ein zugeklappter Laptop lag. Zwei einfache Regale, die mit zahlreichen Büchern gefüllt waren. Und schließlich eine Kommode und ein mittelgroßer Kleiderschrank. Sämtliche Möbel waren weiß lasiert.

Anja ging zunächst zum Regal und sah sich die Bücher an. Der kleinere Teil bestand aus einer Reihe von Fachbüchern und Nachschlagewerken über Psychologie, der weitaus größere jedoch aus Romanen. Sie las mehrere Titel und stellte fest, dass es sich ausnahmslos um Psychothriller handelte.

An den Wänden hingen drei großformatige Poster. Eins davon zeigte Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse. Ein weiteres die sogenannten »sieben großen Männer der Psychologie«: Jean Piaget, Carl Jung, Sigmund Freund, Burrhus Skinner, William James, John Watson und Ivan Pawlow. Auf dem dritten waren hingegen die »großen Frauen der Psychologe« dargestellt: Margaret Washburn, Mary Calkins, Karen Horney, Anna Freud, Mary Ainsworth und Mamie Phipps Clark.

Anja wandte sich dem Schreibtisch zu, der vor dem Fenster stand. An einer Pinnwand neben dem Fenster hing neben einer Reihe von Postkarten aus aller Welt ein halbes Dutzend Fotos. Auf zwei Aufnahmen war Zoe allein zu sehen. Drei Fotos zeigten Zoe und ihre beiden Mitbewohnerinnen. Auf dem letzten Bild war sie neben einer jungen Frau zu sehen, die Anja nicht kannte. Sie vermutete, dass es sich um eine Freundin oder ehemalige Klassenkameradin aus Nürnberg handelte.

Bis jetzt hatte Anja sich nur umgesehen und nichts angefasst. Da sich das nun ändern würde, zog sie ein Paar Einmalhandschuhe aus Nitril aus ihrer Jackentasche und streifte sie über. Sie wollte keine Fingerabdrücke hinterlassen, denn falls Zoe das Opfer eines Verbrechens geworden war, mussten hier Spuren gesichert werden.

Anja nahm die beiden Fotografien, auf denen Zoe allein abgebildet war und steckte sie in die Vermisstenakte. Diese enthielt bereits ein Foto der Vermissten, das die Eltern mitgebracht hatten, als sie ihre Tochter bei der Nürnberger Polizei als vermisst gemeldet hatten. Doch die beiden Aufnehmen von der Pinnwand schienen neueren Datums zu sein.

In der Hoffnung, auf ein Tagebuch zu stoßen, öffnete Anja die Schreibtischschubladen. In der ersten fand sie einen Stapel Zeitschriften. Es waren allesamt Ausgaben der Fachzeitschrift »Psychologie heute«. In der zweiten lagen mehrere Collegeblöcke, in denen sich Aufzeichnungen aus den Vorlesungen der jungen Studentin befanden. Die letzte Lade enthielt ein Sammelsurium an Stiften und Büroutensilien wie Locher, Hefter und Radiergummi. Außerdem entdeckte Anja einen Ordner mit Kontoauszügen und einen Terminplaner.

Sie sah sich die aktuellsten Kontoauszüge an; in den Tagen vor Zoes Verschwinden hatte es jedoch keine auffälligen Kontobewegungen gegeben. Weder war ein ungewöhnlich hoher Betrag abgehoben noch eine verdächtig erscheinende Überweisung getätigt worden. Alles sah vollkommen normal aus, und nichts deutete darauf hin, dass Zoe ihr Verschwinden geplant und vorbereitet hatte. Allerdings musste Anja noch bei der Bank überprüfen, ob es nach Zoes Verschwinden Abhebungen gegeben hatte.

Anja nahm den Terminplaner und schlug ihn auf. Sie blätterte, bis sie zum heutigen Datum kam. Für gestern, heute und morgen war nichts eingetragen. Am Donnerstag hatte Zoe allerdings am frühen Vormittag einen Arzttermin notiert. Da der entsprechende Terminzettel zwischen den Seiten steckte, sah Anja, dass es sich um einen Termin bei Zoes Frauenärztin handelte. Sie blätterte weiter und entdeckte einen Zahnarzttermin in zweieinhalb Wochen. Auch hier gab es, wie Anja erfreut feststellte, einen Terminzettel. Das ersparte ihr eine Menge Nachforschungen, da sie den Namen und die Anschrift des Zahnarztes ohnehin benötigte, um sich ein Zahnschema der vermissten jungen Frau zu besorgen. Dies geschah für den Fall, dass eine unbekannte Frauenleiche auftauchte, deren Merkmale mit denen der Studentin in der Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen übereinstimmten. Mithilfe des Zahnschemas und weiterem Identifizierungsmaterial konnte dann zweifelsfrei festgestellt werden, ob es sich bei dem Leichnam tatsächlich um Zoe handelte. Zur Sicherheit würde Anja aber auch Fingerabdrücke und DNA-Vergleichsmaterial der Vermissten besorgen.

Sie klappte den Terminplaner zu und legte ihn zusammen mit dem Kontoauszugsordner auf den Laptop. Diese drei Dinge würde sie mitnehmen, wenn sie ging, um sie in aller Ruhe im Büro auszuwerten. Dann würde sie auch die Frauenärztin anrufen und mit etwas Glück erfahren, ob es einen konkreten Anlass für den Termin gab oder ob es sich nur um einen regelmäßigen Kontrollbesuch handelte.

Obwohl sie nicht unbedingt damit rechnete, dass sie noch etwas von Bedeutung fand, öffnete Anja den Kleiderschrank und die Schubladen der Kommode. Sie wollte allerdings gründlich sein und nicht das Geringste übersehen. Es sah so aus, als fehlten nur wenige Wäschestücke. Gerade so viel, wie Zoe für ihren zweitägigen Trip in ihr Elternhaus benötigt hatte. Und entschieden zu wenig, als dass sie von vornherein eine längere Abwesenheit geplant haben könnte.

Nachdem sie der Vollständigkeit halber auch unter dem Bett und auf dem Schrank nachgesehen hatte, ohne dort etwas zu entdecken, nahm Anja neben der Vermisstenakte und ihrem Notizbuch auch den Laptop, die Kontoauszüge und Zoes Terminplaner an sich. Dann verließ sie das Zimmer.

Die beiden Studentinnen standen im Flur und sahen Anja erwartungsvoll an.

»Und?«, fragte Kati, als hoffte sie, Zoe hätte sich die ganze Zeit nur im Schrank versteckt und Anja hätte sie dort gefunden.

Anja zuckte mit den Schultern.

»Was haben Sie mit dem Laptop und Zoes Sachen vor?«, fragte Antonia.

»Ich werde sie mir im Büro genauer ansehen. Vielleicht finde ich darin einen Hinweis auf Zoes Aufenthaltsort oder den Grund, warum sie verschwunden ist.«

Kati und Antonia nickten.

»Wo ist das Bad?«, fragte Anja unvermittelt.

»Oh«, sagte Kati überrascht.

»Gleich hier«, antwortete Antonia und deutete auf die Tür.

Wahrscheinlich dachten die beiden, dass Anja ein dringendes Bedürfnis verspürte. Doch dem war nicht so.

»Können Sie mir zeigen, welche Sachen Zoe gehören?«, fragte Anja, während sie die Tür öffnete und das Badezimmer betrat.

Die beiden jungen Frauen folgten ihr; und obwohl es ein vergleichsweise großes Bad war, wurde es jetzt doch ein bisschen eng.

»Wollen Sie die Sachen etwa auch mitnehmen?«, fragte Kati verständnislos und starrte irritiert auf die Nitrilhandschuhe, die Anja trug.

Die Polizistin erklärte, dass sie DNA-Vergleichsmaterial benötigte. Dies fand sich am ehesten an persönlichen Gegenständen der Vermissten, an denen Körperzellen hafteten. Dafür kamen vor allem Haarbürsten, Kämme, Zahnbürsten, Rasierer sowie getragene und noch nicht gewaschene Bekleidung infrage.

»Und wofür benötigen sie Zoes DNA?«, fragte Kati.

Anja antwortete nicht.

»Was glaubst du denn?«, sagte Antonia. »Damit die Polizei sie identifizieren kann, falls sie ihre Leiche findet.«

Kati hob die Hand vor den Mund, als wollte sie sich selbst am Schreien hindern. »Sie glauben doch nicht wirklich, dass Zoe …« Sie traute sich nicht, weiterzusprechen.

Anja schüttelte den Kopf. »Im Moment spricht nichts dafür, dass Zoe nicht mehr am Leben ist. Es ist aber dennoch wichtig, dass wir darauf vorbereitet sind und uns frühzeitig um DNA-Vergleichsmaterial bemühen. Können Sie mir jetzt Zoes Sachen zeigen?«

Die beiden jungen Frauen wirkten schockiert. Sogar Antonia war etwas ruhiger und kleinlauter geworden, so als hätte sie endlich realisiert, dass das Verschwinden ihrer Mitbewohnerin kein Spaß war, sondern auch einen furchtbar ernsten Hintergrund haben konnte.

Da Zoe ihre Zahnbürste und ihre Haarbürste mitgenommen hatte, als sie nach Nürnberg gefahren war, und ihre getragenen Kleidungsstücke inzwischen gewaschen worden waren, musste sich Anja mit einer alten Haarbürste und einem Einwegrasierer zufriedengeben, mit dem sich Zoe erst vor Kurzem die Beine rasiert hatte. Dennoch war sie zuversichtlich, dass die Gegenstände ausreichten, um Vergleichsproben von Zoes DNA zu gewinnen. Die moderne DNA-Analytik hatte in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht; die DNA konnte mittlerweile sogar aus winzigen Hautabriebspuren bestimmt werden.

Schließlich hatte Anja alles, was sie momentan benötigte. Sie gab den Studentinnen ihre Visitenkarte und bat sie, sie anzurufen, falls ihnen noch etwas einfallen oder – noch besser! – Zoe auftauchen sollte. Dann verabschiedete sie sich von den beiden jungen Frauen und verließ die Wohnung.

2

Sobald sie wieder in ihrem weißen MINI Cooper saß, den sie direkt vor dem fünfstöckigen Gebäude geparkt hatte, in dem die drei Studentinnen wohnten, suchte Anja in der Vermisstenakte nach der Nummer von Zoes Eltern und rief sie an.

»Bergmann«, meldete sich die Stimme einer Frau, die vorsichtig und gefasst, aber nicht verzweifelt klang, wie Anja es in solchen Fällen allzu oft erlebt und auch in diesem Fall insgeheim befürchtet hatte.

»Spreche ich mit Ulrike Bergmann?«

»Ja.« Aus Vorsicht wurde Misstrauen. »Und wer sind Sie?«

»Mein Name ist Anja Spangenberg.« Sie ließ ihren Dienstgrad weg, um der Frau nicht gleich einen Schrecken einzujagen, und erklärte stattdessen: »Ich arbeite bei der Vermisstenstelle der Kripo München und ermittle im Fall Ihrer vermissten Tochter.«

»Kripo München? Warum ist die Kripo München dafür zuständig?«

»Weil Zoe hier ihren Wohnsitz hat.«

Die Frau schien darüber nachzudenken. »Na schön«, sagte sie dann. »Ist ja im Grunde auch ganz egal, wer nun zuständig ist. Hauptsache, irgendjemand sucht endlich nach unserer Tochter. Sie haben sich ja ganz schön Zeit gelassen, bis Sie sich bei uns gemeldet haben, junge Dame. Schließlich haben mein Mann und ich die Vermisstenanzeige schon gestern am frühen Vormittag aufgegeben.«

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, entschuldigte sich Anja, obwohl es dafür ihrer Meinung nach absolut keinen Grund gab. Aber sie hatte nicht vor, mit der Mutter einer Vermissten zu streiten. »Mir wurde der Fall erst heute früh übertragen. Und sobald ich mich mit der Akte vertraut gemacht und erste Fahndungsmaßnahmen eingeleitet hatte, habe ich als Erstes Zoes Mitbewohnerinnen befragt und ihr Zimmer in der Studenten-WG besichtigt.«

»Und?«, fragte Ulrike Bergmann eifrig. »Was halten Sie davon? Haben Sie schon einen Verdacht, wo Zoe sein könnte?«

»Tut mir leid, Frau Bergmann, aber für einen konkreten Verdacht ist es noch viel zu früh. Ich bin momentan noch dabei, möglichst viele Informationen über Zoe zu sammeln.«

»Ach so.« Sie klang enttäuscht.

»Als Nächstes würde ich sehr gern mit Ihrem Mann und Ihnen sprechen und mir Zoes ehemaliges Zimmer in Ihrem Haus ansehen.«

»Sie kommen dafür extra nach Nürnberg?«

»Ich möchte mir gern ein persönliches Bild von Zoes Lebensumständen machen«, erklärte Anja. Außerdem zog sie es vor, die nächsten Angehörigen vermisster Person nicht am Telefon, sondern von Angesicht zu Angesicht zu befragen. Denn wenn Anja den Leuten gegenübersaß und ihnen in die Augen sehen konnte, während sie ihnen Fragen stellte, bemerkte sie es eher, ob sie ihr die Wahrheit sagten oder sie belogen. Aber das erzählte sie Ulrike Bergmann natürlich nicht.

»Mir gefällt Ihre Arbeitseinstellung«, sagte Zoes Mutter. Anscheinend war es Anja gelungen, nach dem schlechten Start, für den sie nichts konnte, wieder ein paar Pluspunkte zu sammeln. »Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe machen und die Fahrt auf sich nehmen. So etwas ist heutzutage alles andere als selbstverständlich. Manch einer würde sich auf ein Telefonat beschränken, weil ihm alles andere zu viele Umstände macht. Und dann übersieht er vielleicht etwas Wichtiges. Wann wollen Sie denn vorbeikommen?«

»Ich könnte in zwei Stunden bei Ihnen sein.«

»Das passt mir hervorragend«, sagte Ulrike Bergmann, der es vermutlich nicht schnell genug gehen konnte, damit endlich Bewegung in den Vermisstenfall ihrer Tochter kam. »Und mein Mann ist im Moment ohnehin zu Hause, da er sich ein paar Tage freigenommen hat.«

Sie verabschiedeten sich voneinander und beendeten dann das Telefonat. Anja legte ihr Smartphone aus der Hand und startete den Motor.

Für die 175 Kilometer von der Studenten-WG in der Münchener Balanstraße bis zu Zoes Elternhaus in der Zirndorfer Straße in Nürnberg benötigte Anja eine Stunde und fünfzig Minuten.

Während der Fahrt dachte sie natürlich in erster Linie über den Fall nach.

Bei einem Vermisstenfall gibt es fünf Standardversionen, die der Ermittler zu prüfen hat, nachdem er durch seine Ermittlungen die wahrscheinlichsten Motive für das Verschwinden der vermissten Person herausarbeiten konnte. Die Versionsbildung ist dabei gewissermaßen der Schwerpunkt jeder Vermisstensachbearbeitung.

Als Erstes besteht natürlich immer die Möglichkeit, dass die vermisste Person ihren Lebenskreis aus eigenem Entschluss verlassen hat und ihren Aufenthaltsort vor Angehörigen und Bekannten geheim hält. Gründe hierfür können sein: eine Konfliktsituation im Lebensbereich mit dem Wunsch nach einer Trennung; ein gravierender Eingriff in die gewohnten Lebensumstände, beispielsweise eine Scheidung oder ein neuer, ungewollter Lebenspartner der Mutter; ferner die Angst vor einer Bestrafung; oder auch die Flucht vor Verantwortung in der Schule, der Familie, der Ausbildungsstätte oder aufgrund einer selbst begangenen Straftat. Merkmale für ein freiwilliges Verlassen sind unter anderem das Fehlen persönlicher Gegenstände wie Pass, Bargeld und Kleidung. Außerdem erkennbare Vorbereitungshandlungen wie auffällige Kontobewegungen oder Geldabhebungen sowie das Fehlen von Anhaltspunkten für das Vorliegen einer Gefahrenlage. Gegenanzeichen sind das Zurücklassen wichtiger Gegenstände wie Brillen, Medikamente, Handys oder Portemonnaies, auch brennendes Licht oder ein laufender Fernseher in der Wohnung sprechen dagegen.

Die zweite Standardversion ist die Freitodabsicht. Sie muss vor allem dann in Erwägung gezogen werden, wenn die vermisste Person vor ihrem Verschwinden entsprechende Äußerungen gegenüber Dritten tätigte oder unter Depressionen oder Wahnvorstellungen litt. Als Motiv kommen das Vorliegen einer gravierenden Konfliktsituation oder plötzliche Schicksalsschläge wie eine unheilbare oder zumindest subjektiv als unheilbar empfundene Erkrankung in Betracht. Merkmale dieser Variante sind in erster Linie Abschiedsbriefe, bereitgelegte Wertgegenstände, Testamente und andere wichtige Papiere sowie vorangegangene Suizidversuche.

Standardszenario Nummer drei sind eine hilflose Lage, ein Unfall oder ein natürlicher Tod. Das kommt vor allem in Betracht, wenn das Verlassen des Lebenskreises unerklärbar ist und es klare Hinweise darauf gibt, dass der Lebensbereich freiwillig und selbst bestimmt verlassen wurde und darüber hinaus die feste Absicht bestand, bald zurückzukehren. Als Merkmale gelten ein geschwächter körperlicher Zustand, eine geistige Behinderung oder ein gering ausgeprägter Orientierungssinn. Außerdem spielen die Witterung zur Zeit des Verschwindens und jahreszeitlich bedingte Gefahrenlagen eine Rolle, ferner der Kontakt zu potentiellen Gefahrenquellen oder eine risikobehaftete Tätigkeit und ein gefährliches Hobby.

Die vierte Version besteht in der Neigung des oder der Vermissten zum Vagabundieren, Streunen oder Ausreißen. Die Motive hierfür sind in der Regel Konflikte im familiären Bereich, Probleme in der Schule oder am Ausbildungsplatz und psychosoziale Fehlentwicklungen wie Drogen- und Alkoholsucht oder Prostitution. Es kommen aber auch reine Bindungslosigkeit, die Lust auf Abenteuer oder am Vagabundieren und die Zugehörigkeit zu negativen subkulturellen Jugendbanden oder Gruppen in Betracht.

Als Letztes besteht aber auch die Möglichkeit, dass die vermisste Person Opfer einer Straftat wurde. Dies ist vor allem dann zu bedenken, wenn die Abgängigkeit eindeutig der Persönlichkeitsstruktur des oder der Vermissten widerspricht und weder ihre geistigen noch ihre persönlichen Fähigkeiten eingeschränkt sind. Ferner, wenn der oder die Abgängige eine verzögerte Rückkehr umgehend melden würde und das Verlassen in krassem Widerspruch zur familiären Situation steht. Ein möglicher Anhaltspunkt für das Vorliegen einer Straftat ist unter anderem der Allgemeinzustand der Wohnung oder des letzten bekannten Aufenthaltsortes, beispielsweise aufgrund von Blutspuren oder Anzeichen für einen Kampf oder eine Auseinandersetzung. Darüber hinaus ist diese Version immer dann in Erwägung zu ziehen, wenn die vermisste Person zuletzt mit ungewohnten Personen an ungewöhnlichen Orten gesehen wurde und individuell als gefährdet oder opferanfällig galt, weil sie sich beispielsweise im Drogen- oder Rotlichtmilieu bewegte, leicht beeinflussbar ist oder ein fehlendes Gefahrenbewusstsein besitzt. Ferner, wenn das Verhalten entschieden den bisherigen Lebensgewohnheiten widerspricht, die Vermisstenanzeige unangemessen spät erstattet wurde oder generell Vermisstenmotive fehlen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt war es für Anja noch zu früh, sich auf eines der Standardszenarien festzulegen, da sie noch nicht alle Bezugspersonen befragt und damit auch noch nicht sämtliche verfügbaren Informationen gesammelt hatte. Denn dies war unabdingbare Voraussetzung jeder Versionsbildung. Außerdem ist eine einseitige oder zu frühe Fixierung auf eine bestimmte, auf den ersten Blick naheliegende Version problematisch. Die Ermittlungen laufen dann möglicherweise ins Leere. Oder aber die Informationsbeschaffung findet nur in eine und unter Umständen ausgerechnet die falsche Richtung statt.

Aus diesem Grund hütete sich Anja momentan auch noch davor, sich auf die wahrscheinlicheren Versionen zu fixieren und die anderen, weniger offensichtlichen völlig außer Acht zu lassen. Da sie jedoch während der Fahrt nichts anderes zu tun hatte, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf und dachte vor allem über das nach, was sie bislang über Zoe erfahren hatte.

Allem Anschein nach hatte die Psychologiestudentin keine Probleme mit ihrem Studium gehabt. Und es hatte auch keinen Streit mit ihren Mitbewohnerinnen in der Studenten-WG gegeben, der ein freiwilliges Verschwinden rechtfertigen würde. Das hatten zumindest Antonia und Kati behauptet. Aber Anja hatte momentan keinen Grund, ihnen nicht zu glauben oder zu misstrauen. Sie hatte die beiden jungen Frauen während der ganzen Befragung unauffällig, aber aufmerksam im Auge behalten und keine Anzeichen dafür entdeckt, dass sie etwas verheimlicht, bewusst gelogen oder ihre Antworten vorher abgesprochen hatten.

Wenn es einen Konflikt oder ein Problem gegeben hatte, dann unter Umständen mit der Mutter wegen Zoes sogenanntem Abfall vom Glauben, von dem die ältere Frau bislang nichts gewusst und den ihre Tochter ihr möglicherweise an diesem Wochenende gebeichtet hatte.

Außerdem gab es auch einen Ex-Freund, der Zoe vor ein paar Monaten verlassen hatte. Anja würde die Eltern über ihn befragen, um festzustellen, ob Zoe ihn am letzten Wochenende getroffen hatte. Was, wenn er es sich anders überlegt hatte und wieder mit Zoe zusammen sein wollte? Und was, wenn er kein Nein akzeptiert und sich mit Gewalt genommen hatte, was Zoe ihm verweigert hatte?

Doch das war nur ein Aspekt, auf den sich Anja hinsichtlich ihrer weiteren Ermittlungen konzentrieren würde, denn im gegenwärtigen Stadium war noch vollkommen offen, was mit der Vermissten geschehen war.

Das, was Anja in Zoes Zimmer in der WG gesehen hatte, ließ sie nicht unbedingt daran glauben, dass die junge Frau ihr Verschwinden von langer Hand geplant hatte. Doch um diese Version wirklich endgültig ausschließen zu können, würde sie das Konto der Studentin überprüfen müssen, um festzustellen, ob seit Zoes Verschwinden Geld abgehoben worden war.

Im Übrigen hatte Anja in dieser frühen Phase ihrer Ermittlungen noch nichts Konkretes in der Hand, um weitere Standardversionen ausschließen oder eine bestimmte Alternative in die engere Wahl nehmen zu können. Ihr Bauchgefühl sagte ihr zwar, dass sie insgeheim eher damit rechnete, dass Zoe das Opfer einer Straftat oder eines Unfalls geworden war, doch um keinen schwerwiegenden Ermittlungsfehler zu begehen, blieb sie weiterhin für alles offen.

Sie hoffte, durch die Befragung der Eltern weitere Anhaltspunkte zu gewinnen, um danach wenigstens ein oder zwei Standardversionen definitiv ausschließen zu können. Vielleicht ergab sich sogar ein ganz konkreter Verdacht, dem Anja nachgehen konnte, sodass sie nicht mehr gezwungen war, in alle Richtungen zu ermitteln. Schon allein das würde ihre Arbeit enorm erleichtern.

Nachdem sie den aktuellen Fall abschließend gewürdigt hatte, wanderten ihre müßigen Gedanken unwillkürlich in andere Richtungen. Und obwohl ihr dabei alles andere als wohl war, dachte sie, ohne es zu wollen, über ihre letzten Fälle nach. Dabei gab es vor allem zwei Fälle, die ihr noch immer Kopfzerbrechen bereiteten, obwohl sie offiziell als abgeschlossen galten.

Der erste ereignete sich vor vier Monaten und begann damit, dass eine von Anjas Vermissten drei Monate nach ihrem Verschwinden tot aufgefunden wurde. Die Frau war durch eine Überdosis Natriumpentobarbital gestorben, das vorwiegend in der Sterbehilfe Anwendung findet und der sterbewilligen Person angeblich einen sanften Tod ohne Qualen und Leid beschert. Doch die Frau, die erst unmittelbar vor ihrem Verschwinden erfahren hatte, dass sie einen inoperablen Gehirntumor hatte, war nicht freiwillig aus dem Leben geschieden, sondern ermordet worden. Ihr Mörder hatte sie drei Monate lang gefangen gehalten und hungern lassen, bis sie so abgemagert war, dass sie fast nur noch aus Haut und Knochen bestand. Nach ihrem Tod hatte der Täter ihr darüber hinaus schwarze Tinte unter die Haut gespritzt, um Male hervorzurufen, die an die Beulenpest erinnerten, und sie anschließend an einer Ecke des neuen Rathauses am Marienplatz geradezu zur Schau gestellt. Denn als sie gefunden wurde, war sie nackt auf ein weißes Holzpferd gebunden, hatte einen Lorbeerkranz auf dem Kopf und einen Bogen mit einem eingelegten Pfeil in der Hand. Doch obwohl der Vermisstenfall mit dem Tod der Frau erledigt war, war die Sache für Anja damit noch lange nicht zu Ende. Denn am selben Tag, als Anja im Institut für Rechtsmedizin gewesen war, um die Leiche zu identifizieren, rief ihre Mutter an und teilte ihr mit, dass ihre Cousine Tanja verschwunden war. Auf der Suche nach ihr fand Anja heraus, dass bei Tanja vor ihrem Verschwinden Brustkrebs diagnostiziert worden war. Und es gab noch eine weitere vermisste Frau, die an Krebs erkrankt war und wie das Mordopfer einen geheimnisvollen Mann namens Johannes erwähnt hatte. Am Abend erhielt Anja dann einen Anruf des Mannes, der sich Johannes nannte und ihr mitteilte, dass er ihr eine Nachricht in den Briefkasten geworfen hatte. In dem Umschlag fand Anja neben dem Ausweis der Toten eine Zeichnung der apokalyptischen Reiter von Albrecht Dürer und ein lateinisches Bibelzitat aus der Offenbarung des Johannes, das sich auf das Öffnen des ersten Siegels und den ersten apokalyptischen Reiter bezog. Ein Kollege der Mordkommission gab dem Mörder daraufhin den Namen »Apokalypse-Killer«. Fraglos sollte die Frauenleiche auf dem Karussellpferd den ersten apokalyptischen Reiter symbolisieren. Und ebenso zweifellos gehörte es zum Plan des Mörders, dem ersten Todesopfer noch mindestens drei weitere folgen zu lassen. Und tatsächlich erhielt Anja in der darauffolgenden Nacht einen weiteren Anruf ihrer Kollegen von der Mordkommission. Sie sollte zur Mariensäule auf dem Marienplatz kommen, denn dort war eine weitere Frauenleiche entdeckt worden …

Anja stoppte ihre Erinnerungen an dieser Stelle, denn sie war nicht besonders erpicht darauf, weiter über diesen Fall nachzugrübeln, der einer der schlimmsten ihrer bisherigen Laufbahn gewesen war und sie beinahe das Leben gekostet hatte.

Doch kaum hatte sie jegliches weitere Nachdenken über den Apokalypse-Killer unterdrückt, wandte sich ihr rebellisches Bewusstsein sogleich dem Fall des sogenannten Bibel-Killers zu, der sie und ihre Kollegen von der Mordkommission ein Vierteljahr später, vor fast genau einem Monat, in Atem gehalten hatte.

Hier begann alles mit einem vermeintlichen Albtraum, in dem Anja aus der Täterperspektive die Ermordung eines Geistlichen miterlebte, den sie als Kind gekannt hatte. Unmittelbar nach dem Erwachen wurde sie an den Tatort eines Mordes gerufen und musste feststellen, dass ihr Traum Wirklichkeit geworden war, denn der Pfarrer aus ihrer Kindheit war haargenau so ermordet worden, wie sie es »geträumt« hatte. Und da nicht nur Anjas Visitenkarte in der Tasche des Opfers, sondern auch eine Bibel, die sie als Kind besessen hatte, in der Kirche gefunden worden war, geriet Anja bei einem ihrer Kollegen sofort in Tatverdacht. Was die Ermittler von der Mordkommission zum Glück nicht wussten, war der Umstand, dass auch die Tatwaffe, ein Fleischmesser, aus dem Messerblock in Anjas Küche stammte. Andernfalls wäre sie vermutlich augenblicklich verhaftet worden. Doch so konnte sie nach Hause fahren und alle Beweise beseitigen, die sie mit dem Mord in Verbindung brachten, auch wenn sie dabei heftige Gewissensbisse hatte. Die Hinweise auf ihre Täterschaft verdichteten sich jedoch immer mehr, sodass sie es nicht einmal mehr vor sich selbst leugnen konnte. Allerdings konnte sie sich an nichts erinnern, da sie augenscheinlich fast eine ganze Flasche Wodka getrunken und einen schwerwiegenden Blackout erlitten hatte. Sie hatte schon früher Probleme mit dem Alkohol gehabt, bis zum damaligen Zeitpunkt aber neun Monate lang überhaupt nichts Alkoholisches getrunken. Und nun hatte es diesen unerklärlichen Rückfall gegeben, der offensichtlich in einer Katastrophe geendet hatte. Anja bemühte sich daraufhin eifrig, nicht wegen Mordes verhaftet zu werden. Gleichzeitig versuchte sie, mehr über das herauszufinden, was sie getan hatte. Doch schon in der folgenden Nacht hatte sie einen weiteren »Alptraum«, in dem wieder eine Person aus ihrer Kindheit ermordet wurde …

Erneut stoppte Anja abrupt das Erinnerungskarussell in ihrem Kopf. Sie wollte sich nicht wieder vergegenwärtigen, was daraufhin alles geschehen war. Vor allem wollte sie nicht ausgerechnet jetzt daran denken, wo sie sich eigentlich voll und ganz auf den Fall der verschwundenen Zoe Bergmann konzentrieren sollte.

Ihr eigensinniger Verstand gehorchte ihr allerdings nur für kurze Zeit. Mangels anderweitiger sinnvoller Beschäftigung wandte er sich weiteren Fällen in ihrer Laufbahn als Ermittlerin des Kommissariats 14, der sogenannten Vermisstenstelle, zu.

So erinnerte sie sich beispielsweise an einen Fall, in dem die Frau eines Schriftstellers spurlos verschwunden war. Exakt ein Jahr später war der Ehemann ebenfalls unauffindbar. Anja hatte noch kurz zuvor mit ihm telefoniert und ihn darüber informiert, dass der Fall seiner Frau mangels neuer Anhaltspunkte zu den Altfällen kam. Das bedeutete, dass die Ermittlungen nicht mehr aktiv geführt wurden, sondern ruhten. Allerdings wurden Altfälle regelmäßig geöffnet, um mit neuartigen Ermittlungsmethoden nach neuen Ansatzpunkten zu suchen. Nach dem Telefonat hatte der Mann seine Koffer gepackt, sich ins Auto gesetzt und war verschwunden. Es war einer der mysteriösesten Fälle, die sie bearbeitet hatte und bis zum heutigen Tag ungelöst waren.

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