Kitabı oku: «Totengesicht», sayfa 5

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8

Ich ging die Stufen, die wir über eine Stunde zuvor heruntergerannt waren, als wäre uns der leibhaftige Teufel auf den Fersen, um unsere Seele zu rauben, nun langsam nach oben. Ich war völlig angespannt und bereit, mich jederzeit herumzuwerfen, um wieder nach unten zu rennen. Mein Herz schlug schneller, und ich schwitzte leicht, während sich meine Knie etwas schwammig anfühlten, als bestünden sie nicht aus Fleisch und Knochen, sondern aus Weichgummi, und sogar leicht zitterten.

Alessia ging direkt hinter mir. Das mit dem Herumwerfen und Hinunterrennen würde also gar nicht so einfach werden, falls sie nicht ebenso schnell wie ich reagierte und mir unter Umständen im Weg stand. In dem Fall könnte uns Carlo, der mutmaßliche gedungene Killer, sofern er immer noch hier war und uns auflauerte, vielleicht sogar mit einem einzigen gut gezielten Schuss erledigen. Zwei auf einen Streich! Dennoch war ich dankbar, dass Alessia in meiner Nähe war. So konnte ich nicht doch noch im letzten Moment einen Rückzieher machen, ohne vor ihr als Feigling dazustehen. Sie stärkte mir den Rücken und hätte mir vermutlich sogar beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt, wenn ich ihr nicht von meiner angeblichen Berührungsangst erzählt hätte.

Ich atmete tief ein, bevor ich den letzten Treppenabsatz vor dem Stockwerk mit ihrer Wohnung betrat, drehte mich zur Seite und warf einen vorsichtigen Blick nach oben. Ich entließ die angehaltene Luft, als ich niemanden sah, der auf uns wartete und mit einer schallgedämpften Pistole auf mich zielte.

Im Haus war es, obwohl es hier zehn Mietwohnungen gab, erstaunlich still. Als ich Alessia nach dem Betreten des Hauses flüsternd nach ihren Nachbarn gefragt hatte, hatte sie geantwortet, dass sie die meisten gar nicht kennen würde, weil sie noch gar nicht lange hier wohnte. Ihrer Meinung nach waren allerdings ohnehin alle berufstätig und hatten entweder gar keine oder erwachsene Kinder, die schon aus dem Haus waren, was die unnatürliche Ruhe im Haus um diese Uhrzeit erklärte. Und deshalb war auch niemand auf die Verfolgungsjagd im Treppenhaus und die Löcher in Alessias Wohnungstür aufmerksam geworden.

Ich wandte den Kopf und nickte Alessia zu, um ihr zu signalisieren, dass das Treppenhaus vor ihrer Wohnung frei war. Dann ging ich weiter und nahm die letzten Stufen in Angriff.

Ich war noch immer angespannt und schreckhaft, rechnete aber nicht wirklich damit, dass der Mann noch hier war. Schließlich musste er damit rechnen, dass wir in Begleitung der Polizei zurückkehrten. Allerdings musste man meiner Meinung nach immer alle Eventualitäten in seine Überlegungen miteinbeziehen, wenn man nicht unangenehm überrascht werden wollte. Schließlich war ich nur ein Comiczeichner und hatte keine Ahnung, was im Gehirn eines Profikillers vorging, sofern der knollennasige Typ tatsächlich ein solcher und nicht nur ein übermotivierter Inkassomitarbeiter war, der zu viele Quentin-Tarantino-Filme gesehen hatte und deshalb ab und zu übers Ziel hinausschoss.

Ich musste schlucken, obwohl mein Hals völlig ausgetrocknet war, und hatte das Gefühl, das Geräusch könnte im ganzen Haus zu hören sein, während ich meinen Fuß auf die fünftletzte Stufe setzte. Durch das Treppengeländer konnte ich schon Alessias Wohnungstür sehen. Sie schien geschlossen zu sein. Ich konnte allerdings ein paar Löcher im Holz erkennen, an deren Rändern das Holz gesplittert und Späne nach außen gebogen worden waren. Noch war ich allerdings nicht nah genug, um alle Durchschüsse sehen und zählen zu können.

Ich blieb stehen und drehte Kopf und Oberkörper nach rechts, um einen Blick nach oben zu werfen, wo die Treppe in die höheren Etagen führte.

Alessia hatte nicht damit gerechnet, dass ich so abrupt anhielt, und prallte gegen mich, sodass ich für einen Moment ihre Brüste an meinem Rücken spüren konnte. Ich erschauderte wohlig.

»Tschuldigung«, flüsterte sie ganz nah an meinem rechten Ohr. Ich konnte ihren warmen Atem fühlen, ehe sie wieder auf Distanz ging.

Ich warf ihr aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick zu und nickte. Einerseits, um ihre Entschuldigung anzunehmen, andererseits aber auch als Zeichen, dass uns niemand auf den höher gelegenen Stufen auflauerte. Dann wandte ich den Kopf wieder nach vorn und stieg die letzten Stufen hoch, bis ich auf dem Absatz vor den beiden Wohnungstüren stand.

Als ich mich Alessias Tür näherte, sah ich noch einmal die Stufen hoch, konnte aber noch immer niemanden entdecken. Beruhigt atmete ich auf. Wenn der Killer uns dort aufgelauert hätte, wäre er sicherlich schon in Erscheinung getreten, um uns zu erschießen. Wieso sollte er warten, bis wir wieder in der Wohnung waren, wenn er die Sache auch kurz und schmerzlos im Treppenhaus erledigen konnte. Schließlich war niemand im Haus, der ihn dabei beobachten konnte.

Die Tür war tatsächlich zu. Der Mann musste sie ins Schloss gezogen haben, als er gegangen war. Vielleicht war sie auch hinter ihm zugefallen, als er uns ins Treppenhaus nachgelaufen war, und er war gar nicht mehr in die leere Wohnung zurückgekehrt.

Ich zählte insgesamt sechs Löcher im Türblatt, die von den Kugeln stammten, die der Mann bei unserer Flucht auf mich abgefeuert hatte. Ich schluckte erneut, als mir bewusst wurde, wie knapp ich den Projektilen entgangen war.

»Alles in Ordnung?«, fragte Alessia, die neben mich getreten war, nachdem ich zwei Schritte vor der Tür angehalten hatte, ohne mir dessen bewusst geworden zu sein. Sie legte eine Hand auf meinen Unterarm und sah mich besorgt an.

Ich sah auf ihre Hand. Natürlich bestand keine Gefahr, dass meine unheimliche Fähigkeit ausgelöst wurde, da sie nur den Ärmel meiner Lederjacke berührte und kein unmittelbarer körperlicher Kontakt bestand. Ich fragte mich in diesem Augenblick dennoch, ob ich in dem Fall immer noch ihr Totengesicht sehen würde, nachdem ich verhindert hatte, dass der Killer sie tötete. Ich wagte es allerdings nicht, sie zu berühren, da man mir meine Enttäuschung und mein Entsetzen gewiss vom Gesicht ablesen konnte, falls ich noch immer das Antlitz des Todes in ihren Zügen sehen würde, und das wollte ich momentan nicht riskieren. Außerdem würde es nicht zu meiner Lügengeschichte über die Berührungsphobie passen, wenn ich von mir aus Körperkontakt herstellen würde.

Sie sah meinen Blick und zog ihre Hand sofort zurück. »Entschuldigen Sie, Rex. Ich hatte vergessen, dass Sie …«

»Ist schon okay, Alessia. Solange es keinen direkten Körperkontakt gibt, ist es kein Problem.«

Sie nickte, trat einen Schritt zurück und sah zur Tür. »Ich glaube nicht, dass er noch immer da ist.«

»Ich auch nicht. Aber wir sollten dennoch weiterhin vorsichtig sein, bis wir uns dessen absolut sicher sind. Haben Sie Ihren Schlüssel dabei?«

Sie nickte und griff gleichzeitig in die rechte Außentasche ihrer Jeansjacke. »Zum Glück hab ich ihn sofort wieder eingesteckt, nachdem ich die Wohnung betreten hatte, und nicht im Badezimmer irgendwo hingelegt. Ich wollte ja nur kurz ins Bad, um mich frischzumachen, und dann gleich wieder gehen, weil ich noch etwas zu erledigen hatte.« Sie brachte ein Schlüsseletui aus braunem Leder zum Vorschein, schüttelte es, bis ein Ring mit einem halben Dutzend Schlüsseln klirrend herauspurzelte, und ging dann zur Tür.

Ich blieb, wo ich war, warf noch einmal einen Blick die Stufen hinauf und hinunter und sah mich dann auf dem Treppenabsatz um. Ich sah Löcher im Verputz der Wand, wo die Kugeln eingeschlagen waren. Auch in der Wohnungstür des Nachbarn, der laut Namensschild Wolfgang Kramer hieß, befanden sich zwei Einschusslöcher. Ich hoffte, dass die Projektile nicht mehr genug Durchschlagskraft gehabt hatten, um auch das Holz dieser Tür komplett zu durchdringen. Und falls doch, dann hatte hoffentlich nicht gerade Wolfgang Kramer dahinter gestanden, um durch den Türspion nachzusehen, wer im Treppenhaus so viel Lärm verursachte.

Ich richtete meinen Blick wieder nach vorn, wo Alessia noch immer mit ihrem Schlüsselbund und dem Türschloss beschäftigt war. Normalerweise hätte sie die Tür schon längst aufgesperrt haben müssen. Aber allem Anschein nach gab es Schwierigkeiten. Ich hörte das Klirren der Schlüssel und dann einen kaum hörbaren, gezischten Laut, der sich für mich so anhörte, als hätte sie soeben Fuck gesagt.

»Probleme?«

»Nein, nein! Ich hab’s gleich.«

Vielleicht hatte der Bewaffnete, als er in Alessias Wohnung eingedrungen war und dazu offensichtlich das Schloss geknackt hatte, es dabei irgendwie beschädigt, sodass es sich nun nicht mehr problemlos öffnen ließ. Oder er hatte, bevor er verschwunden war, einen Gegenstand in den Schließzylinder gesteckt, um seinen Frust über den fehlgeschlagenen Mord loszuwerden und uns zu ärgern. Ich wusste zwar nicht, wieso er so etwas hätte tun sollen, aber hey, dieser Typ tötete andere Menschen, ohne mit der Wimper zu zucken, und war schon aus diesem Grund nicht ganz richtig in der Birne.

Doch so irre, dass er aus reiner Bosheit das Türschloss blockiert hätte, war er dann wohl doch nicht, denn ein klickendes Geräusch verriet mir, dass Alessia es endlich geschafft hatte, die Tür zu öffnen.

Sie stieß die Wohnungstür weit auf, sodass sie beinahe gegen die Wand prallte, trat jedoch nicht ein.

»Lassen Sie mich vorgehen«, sagte ich, drängte mich an ihr vorbei zur Tür und machte den ersten Schritt über die Schwelle. Ich hörte es erneut klirren, als Alessia hinter mir die Schlüssel zurück ins Etui schob, bevor sie es wieder einsteckte. Dann war es mit Ausnahme meines rascher schlagenden Herzens und des pochenden Pulsschlags in meiner Schläfe wieder still, sodass ich mich darauf konzentrieren konnte, ob ich aus der Wohnung verdächtige Geräusche hörte. Doch alles, was ich vernahm, war ein regelmäßiges Ticken, das vermutlich von einer großen Wanduhr in der Küche oder im Wohnzimmer stammte. Ansonsten war es jedoch völlig still.

Ich machte zwei weitere Schritte in den Flur, bevor ich erneut stehen blieb, mich umsah und lauschte. Doch ich spürte instinktiv, dass die Wohnung verlassen war. Das hatte allerdings nichts mit meiner Gabe zu tun, sondern war nur ein rein intuitives Gefühl, das viele Menschen beim Betreten einer Wohnung oder eines Hauses haben. Man spürt einfach, ob jemand da ist oder nicht, weil sich eine menschenleere Wohnung vollkommen anders anfühlt.

Ich wandte mich um und sah Alessia an, die noch immer im Treppenhaus stand und mich mit gerunzelter Stirn aufmerksam beobachtete. Ich nickte. »Ich denke, es ist niemand mehr da.«

Ihr Stirnrunzeln verschwand und machte einem zaghaften Lächeln Platz. Obwohl auch ihr Stirnrunzeln zauberhaft war, hatte man das Gefühl, die Sonne ginge auf, sobald sie lächelte, was sie in der Zeit, seit wir zusammen waren, allerdings nur selten getan hatte. Angesichts der dramatischen Umstände war das natürlich nachvollziehbar.

»Gut.« Sie trat ein, betätigte den Lichtschalter, da es im Flur ein bisschen düster war, und schloss die Wohnungstür. »Wo haben Sie Ihre Arbeitsmappe denn hingelegt?«

Ich erinnerte mich wieder an den eigentlichen Grund, weswegen ich überhaupt mit ihr hierher zurückgekommen war, wandte mich um und sah zu der Stelle unterhalb der afrikanischen Masken, wo ich die Mappe mit dem Storyboard abgelegt hatte, um nach der Elefantenmaske zu greifen. »Sie ist weg!«

»Wirklich?« Alessia kam an meine Seite und folgte meinem Blick. »Wo lag sie denn zuletzt?«

»Genau dort drüben.« Ich hob die Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf die Stelle. »Sie lag direkt unter den Masken auf dem Teppich. Verdammter Mist!« Ich hob beide Hände und bedeckte die untere Hälfte meines Gesichts damit, während ich überlegte. »Der Killer hat sie! Er muss sie gefunden und mitgenommen haben.«

»Das wissen wir nicht mit Sicherheit, Rex«, widersprach Alessia. »Vielleicht hat er die Mappe auch nur aufgehoben, um nachzusehen, was drin ist. Und als er sah, dass sie nur Zeichnungen enthält, legte er sie irgendwo anders hin. Kommen Sie! Lassen Sie uns danach suchen.«

Ich nahm die Hände vom Gesicht und nickte. »Sie haben recht. Wir müssen die Wohnung durchsuchen! Außerdem können wir uns auf diese Weise gleichzeitig davon überzeugen, dass dieser kaputte Typ wirklich nicht mehr hier ist.«

»Sie suchen im Wohnzimmer, im Bad und in der Toilette«, sagte Alessia und deutete auf eine geschlossene Tür links von mir, hinter der sich vermutlich das Wohnzimmer befand, und dann den Gang hinunter. Wo das Bad und die Toilette waren, wusste ich ja schon von meinem ersten Besuch an diesem Ort. »Ich übernehme die Küche, das Arbeitszimmer und mein Schlafzimmer. Da es meine Wohnung ist, fällt es mir vermutlich eher auf, wenn irgendwo etwas herumliegt, was vorher nicht da war.«

Wir setzten uns gleichzeitig in Bewegung. Während sie die erste Tür auf der rechten Seite des Flurs öffnete und in die Küche ging, machte ich die Tür zum Wohnzimmer auf und trat ein. Ich sah zuerst hinter der Tür nach, ob sich dort jemand versteckt hielt. Natürlich stand dort keiner. Aber obwohl mir mein Gefühl sagte, dass außer Alessia und mir niemand da war, ging ich dennoch auf Nummer sicher. Allerdings konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass der Killer sich hinter Türen versteckte. Schließlich hatte er eine Waffe mit Schalldämpfer, konnte auch aus der Ferne nahezu lautlos töten und musste daher niemandem auflauern. Ich war mir sicher, dass wir längst tot wären, wenn er sich noch immer in der Wohnung aufgehalten hätte.

Ich sah mich im Wohnzimmer um, das wie unzählige andere Wohnzimmer auch eingerichtet war, sodass sich eine nähere Beschreibung erübrigt, konnte jedoch meine Arbeitsmappe nirgendwo entdecken. Also verließ ich den Raum schon bald wieder, ließ hinter mir die Tür offen stehen und ging durch den Flur in Richtung Bad. Im Vorbeigehen kontrollierte ich die Kommode, doch auch auf ihr lag meine Mappe nicht.

Allmählich verlor ich allerdings die letzte Hoffnung, dass sie noch hier sein könnte, denn ich bezweifelte, dass ich sie im Bad oder in der Toilette finden würde. Warum hätte sie der Kerl mit dorthin nehmen sollen? Außer natürlich, er hatte sich ihren Inhalt in aller Ruhe angesehen, während er auf dem Klo gesessen hatte. Aber das konnte ich mir bei einem Profi nicht vorstellen. Die Gefahr, dabei Spuren zu hinterlassen, und das sogar in zweifacher Hinsicht, war einfach zu groß. Und falls man auch noch seine Waffe irgendwo liegen ließ, lief man ernsthaft Gefahr, wie der von John Travolta gespielte Vincent Vega in Quentin Tarantinos Film Pulp Fiction mit der eigenen Waffe nach dem Scheißen erschossen zu werden.

Während ich durch den Flur marschierte, sah ich mir die drei Einschusslöcher an und erschauderte bei dem Gedanken, wie knapp mich die Projektile möglicherweise verfehlt hatten. Aber obwohl zum ersten Mal in meinem Leben mit scharfer Munition auf mich geschossen worden war, stand ich deswegen nicht unter Schock oder litt an einem Trauma. Vielleicht kam das ja noch, sobald sich die Erkenntnis in meinem Bewusstsein verwurzelt und mein Verstand damit begonnen hatte, sie zu verarbeiten. Momentan ging es mir allerdings noch relativ gut, und meine größte Sorge galt meiner Mappe.

Ich betrat das Badezimmer, dessen Tür noch immer weit offen stand, und sah mich um. Es waren allerdings nicht viele Stellen vorhanden, an denen meine Mappe liegen konnte. Es gab keine Dusche, sondern nur eine Badewanne mit Duschvorhang, der vorgezogen war, sodass ich nicht in die Wanne sehen konnte. Ich ging als Erstes zum Waschbecken und begutachtete mein Ebenbild im Spiegel. Ein passabel aussehender 35-Jähriger mit kurz geschnittenen, dunkelbraunen Haaren, Dreitagebart und braunen Augen sah mich an. Ich strich mein Haar glatt, obwohl es bei der Auseinandersetzung mit dem Killer und der anschließenden Flucht kaum in Unordnung geraten war. Dann hob ich den Kopf und begutachtete meinen Hals, um den Carlo seine kräftigen Hände gelegt hatte, um mich zu erwürgen. Die Haut war gerötet, ansonsten hatte der Mordversuch jedoch keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Es tat auch nicht mehr weh, nicht einmal beim Schlucken.

Zufrieden senkte ich den Blick, kontrollierte die Ablage unter dem Spiegel und erstarrte, während mir gleichzeitig der Atem stockte, als ich sah, was dort lag.

9

Das darf doch nicht wahr sein!

Ohne bewusst darüber nachzudenken, nahm ich die Pistole von der Ablage, schwenkte die Hand hin und her und beäugte die Schusswaffe argwöhnisch von allen Seiten. Sie war groß, unhandlich und ziemlich schwer, was vermutlich auch an dem Schalldämpfer lag, der am Lauf befestigt worden war. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es sich um die Waffe des Mannes handelte, der auf uns geschossen hatte. Aber wieso lag sie hier so herrenlos im Badezimmer herum? Hatte Carlo sie vergessen, als er vor dem Gehen noch rasch aufs Klo gegangen war und sich danach die Hände gewaschen hatte? Nicht sehr wahrscheinlich. Doch wenn seine Waffe hier lag, wo war dann ihr Besitzer? Gewiss ganz in der Nähe …

Als mir schon einen Sekundenbruchteil später die Antwort auf die letzte Frage einfiel, hob ich langsam den Blick und sah erneut in den Spiegel, durch den ich über meiner rechten Schulter den vorgezogenen Duschvorhang hinter mir sehen konnte. Ich schluckte, während das Herz in meiner Brust einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufstellte, der vermutlich für die Ewigkeit war, denn jede weitere Steigerung musste unweigerlich zum Herzinfarkt führen.

Ich fixierte den Duschvorhang, der aus silbergrauem Polyester bestand und völlig undurchsichtig war. Ich erschrak und zuckte zusammen, als er sich bewegte. Doch dann erkannte ich, dass es gar keine Bewegung des Vorhangs gewesen war, sondern nur ein Lichtreflex, der über seine Oberfläche gehuscht war. Wie aus weiter Ferne konnte ich Geräusche aus einem anderen Teil der Wohnung hören, die vermutlich von Alessia stammten. Doch meine ungeteilte Aufmerksamkeit galt in diesem Moment dem Duschvorhang und dem, was sich möglicherweise dahinter befand, sodass ich alles andere ausblendete und nur am Rande wahrnahm.

Ich schluckte laut. Meine Kehle war so ausgedörrt, als wäre ich durch eine Wüste an diesen Ort gelangt. Gern hätte ich einen Schluck Wasser zu mir genommen. Dazu hätte ich nur den Wasserhahn vor mir aufdrehen und mich nach unten beugen müssen. Doch erst musste ich mir Gewissheit verschaffen, was hinter dem Vorhang war. Außerdem wollte ich ihn unter keinen Umständen auch nur eine einzige Sekunde aus den Augen lassen.

Da der Vorhang sich nicht von allein öffnete und keine Bewegung dahinter zu erahnen war, was mir vermutlich beides einen Riesenschreck eingejagt und meinem galoppierendem Herzen den Rest gegeben hätte, musste ich wohl oder übel selbst Hand anlegen. Ich schloss für zwei Sekunden die Augen und atmete einmal tief ein, bevor ich sie sofort wieder aufriss aus Angst, etwas könnte genau in diesem Moment den Vorhang zur Seite reißen und mich von hinten anspringen. Anschließend wandte ich mich rasch um und ging, ehe ich es mir anders überlegen und schreiend aus dem Bad rennen konnte, entschlossen zur Badewanne.

Erst als ich mit der linken Hand nach dem Vorhang griff, entsann ich mich wieder der Pistole in meiner Hand. Ich hob sie und richtete den mattschwarzen Zylinder des Schalldämpfers auf den Polyester vor mir. Dann riss ich den Vorhang mit einem einzigen herzhaften Ruck zur Seite.

Ich schrie vor Schreck laut auf, als ich mich der schwarz gekleideten Gestalt des Killers gegenübersah, der mich mit überraschtem Gesichtsausdruck anglotzte.

10

Beinahe hätte ich reflexartig den Abzug der Pistole gedrückt und auf ihn geschossen, ehe mir bewusst wurde, dass das gar nicht mehr nötig war.

Er war bereits tot!

Irgendjemand, vermutlich sein Mörder, hatte ihm den Schlauch der Duschbrause um den Hals geschlungen, sodass der Mann nun an der Brausestange hing und es so aussah, als wäre er noch immer am Leben und stünde halbwegs aufrecht in der Badewanne. Er war allerdings nicht mit dem Schlauch erdrosselt worden, sondern an einer Kugel gestorben, die so exakt zwischen seinen dichten, schwarzen Augenbrauen platziert worden war, als hätte der Mörder dafür Lineal und Zirkel benutzt. Die Augen des Toten, die mich bei unserer ersten Begegnung noch so zornig und bösartig angefunkelt hatten, wirkten nun so leblos wie Glasmurmeln, sahen mich unter den halb geschlossenen Lidern aber dennoch an, als wäre er vom Tod überrascht worden und machte mich für seinen momentanen Zustand verantwortlich.

Mein Blick fiel erneut auf das schwarz geränderte Loch in seiner Stirn, aus dem nur ein einzelner Tropfen Blut gequollen und an seinem Nasenrücken nach unten gelaufen war, wo er nun an seiner knollenartigen Nase hing wie zu Eis erstarrter, blutiger Rotz. Von der tödlichen Wunde wanderte mein Blick wie unter Zwang zu der Pistole in meiner Hand. Ich realisierte, dass ich möglicherweise die Tatwaffe in der Hand hielt, aus der der tödliche Schuss abgefeuert worden war. Entsetzt ließ ich sie fallen und beobachtete, wie sie zu Boden fiel. Zu spät fiel mir ein, dass sie beim Aufprall losgehen und ich mir versehentlich einen Zeh oder einen Hoden wegschießen könnte. Die Welt war schließlich gemein und voller verrückter Unglücksfälle. Und bei alldem, was mir heute schon widerfahren war, hätte es mich auch gar nicht verwundert. Doch die Waffe entlud sich zum Glück nicht, sondern landete nur mit einem in dem gekachelten Raum extrem lauten Scheppern auf den Bodenfliesen.

Alessia kam, entweder durch meinen Schrei oder den Lärms alarmiert, ins Bad und fragte mich vermutlich, was passiert sei. Ich hörte sie jedoch nicht und wurde mir ihrer Anwesenheit erst in dem Moment bewusst, als sie mich am Oberarm packte und heftig schüttelte. Ich zuckte so erschrocken zurück, als hätte die Leiche ihren Arm ausgestreckt und nach mir gegriffen, entzog mich ihrem Griff und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Erst dann erkannte ich, dass es nur Alessia war, entspannte mich und ließ mit einem zischenden Laut, in den sich ein leises Seufzen schlich, den Atem entweichen, den ich seit Entdeckung des Leichnams angehalten hatte.

Alessia entschuldigte sich ausnahmsweise nicht dafür, dass sie mich angefasst hatte. Sie sagte überhaupt nichts, während ihr Blick von mir zu der Waffe am Boden und dann zu der reglosen Gestalt wanderte, die am Schlauch der Brause hing.

Der Anblick schien sie nicht so sehr zu schockieren wie mich, was vermutlich vor allem daran lag, dass meine Reaktion sie darauf vorbereitet hatte, dass ich etwas Schreckliches entdeckt hatte. Außerdem hatte mich wahrscheinlich auch der Psycho-Effekt zusätzlich geschockt, weil ich den Duschvorhang zur Seite gezogen und dahinter einen lebenden Menschen und keine Leiche erwartet hatte.

»Scheiße! Was ist denn hier passiert?«, sagte Alessia und sah dann wieder zu mir. »Hast du ihn erschossen? Oder hat er das selbst getan?« Sie war vom sperrigen Sie zum einfacheren Du übergegangen, was mir in dieser Situation auch völlig angemessen erschien. Uns weiterhin zu siezen, während wir vor dem Leichnam des Mannes standen, der uns vor Kurzem noch das Lebenslicht hatte ausblasen wollen, wäre geradezu lächerlich gewesen.

Ich reagierte im ersten Moment wie ein kleiner Junge, der bei etwas Verbotenem erwischt worden war, schüttelte heftig den Kopf und sagte: »Ich war das nicht!«

Sie sah mich misstrauisch an, als glaubte sie mir nicht so recht, doch dann nickte sie. »Natürlich nicht.« Vermutlich war sie zu der korrekten Ansicht gelangt, dass ich nicht der Typ von Mann war, der andere Leute mit gezielten Kopfschüssen tötete. »Dann muss er Selbstmord verübt haben. Aber wieso?«

Ich schüttelte den Kopf und kam wieder einen Schritt näher. »Das war kein Selbstmord!«, sagte ich und deutete auf die Pistole am Boden. »Außer, er hat sich vor dem Spiegel erschossen, die Waffe auf die Ablage gelegt, ist dann in die Wanne gestiegen, hat den Vorhang zugemacht und sich anschließend den Brauseschlauch um den Hals geschlungen.«

»Die Pistole lag auf der Spiegelablage?«

»Ja! Das sagte ich doch gerade.«

»Dann kann er sich wirklich nicht selbst erschossen haben.«

»Meine Rede.« Ich verdrehte die Augen und hob die Schultern.

»Aber wenn du ihn nicht erschossen hast, und er es auch nicht selbst getan hat, wer war es dann?«

Ich schüttelte ratlos den Kopf, während mein Blick wieder zum Gesicht des Toten wanderte, das bleich war und mit jedem verstreichenden Moment mehr wie eine Totenmaske aussah. Er konnte noch nicht lange tot sein, doch das Blut in seinem Körper floss bereits, der Schwerkraft folgend, in die tieferen Regionen, nachdem es nicht länger von einem schlagenden Herzen in einem funktionierenden Blutkreislauf durch die Adern und Venen gepumpt wurde, um die absterbenden Zellen mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Was ich vor mir sah, war das wahre Totengesicht des Mannes. Der totenschädelartige Schatten über seinen Zügen, den ich zuvor gesehen hatte, als er versucht hatte, mich zu erdrosseln, war nur ein Vorzeichen seines Todes gewesen, gewissermaßen ein tödliches Omen. Dennoch hatte meine verfluchte Gabe erneut tadellos funktioniert. Ich hatte das Antlitz des Todes im Gesicht des Mannes gesehen, und gerade einmal eine Stunde später war er auch schon mausetot. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es immer schneller ging. Beim nächsten Mal würde die Person vielleicht schon unmittelbar nach unserem körperlichen Kontakt aus den Latschen kippen.

Ich erschauderte, wandte rasch den Blick ab und sah Alessia an, die selbst dann einen zigfach angenehmeren und schöneren Anblick geboten hätte, wenn der Killer noch am Leben gewesen wäre. »Woher soll ich wissen, wer ihn umgebracht haben könnte?«, sagte ich und dachte darüber nach, was während unserer Abwesenheit geschehen sein mochte. Es kam mir beinahe so vor, als würde ich mir die Handlung für einen Kriminalcomic überlegen, den ich zeichnen wollte. »Vielleicht war es ein Komplize oder sein Auftraggeber. Immerhin hatte er die Sache vermasselt und seinen Auftrag nicht ausgeführt. Darüber hinaus kannten wir sein Gesicht und hätten der Polizei eine gute Beschreibung liefern können. Ich glaube nämlich nicht, dass hier momentan allzu viele Typen mit so einer Gangstervisage herumlaufen. Vermutlich wollte der Komplize oder der Mann, der hinter dem Mordauftrag steckt, nicht riskieren, dass die Polizei ihm über die Identität des Killers auf die Spur kommt.«

Alessia runzelte die Stirn, während sie zuhörte, als würde sie intensiv darüber nachdenken. Nachdem ich geendet hatte, nickte sie langsam. »Vermutlich hast du recht, Rex. Es muss so oder ganz ähnlich gewesen sein, denn eine andere Möglichkeit sehe ich momentan auch nicht.«

Ich nickte, sagte allerdings nichts, denn mir war noch eine weitere Möglichkeit eingefallen. Allerdings hätte diese Alternative das Eingreifen einer weiteren, bislang unbekannten Partei bedeutet, die vollkommen andere Ziele als der Killer und sein Auftraggeber verfolgte und den Mann getötet hatte. Allerdings hätte das unsere ohnehin schon nicht ganz einfache Situation nur unnötig verkompliziert, und darauf hatte ich jetzt überhaupt keine Lust, nachdem ich erst vor wenigen Minuten die Leiche eines mutmaßlichen Berufskillers gefunden hatte. Ich behielt die Option einer dritten Partei im Hinterkopf, allerdings nicht als echte Alternative, sondern nur als Handlungsidee für einen Comic, den ich vielleicht demnächst, inspiriert durch die Realität, zeichnen würde.

Jäh fiel mir wieder ein, weswegen ich überhaupt ins Bad gegangen war. »Hast du wenigstens meine Arbeitsmappe gefunden?«

Alessia hatte mit nachdenklicher Miene die Leiche angesehen, wandte nun den Kopf und sah mich verwirrt an, als wüsste sie nicht, wovon ich sprach. Dann hellte sich ihre Miene auf, als ihr dämmerte, was ich meinte. Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir wirklich leid, Rex, aber ich hab die Mappe nirgends gefunden. Hast du schon im Wohnzimmer und auf der Toilette nachgesehen?«

Ich nickte zuerst, schüttelte dann aber den Kopf, als mir einfiel, dass ich meine Suche gar nicht beendet hatte, nachdem ich die Pistole entdeckt hatte. »Im Klo hab ich noch nicht nachgesehen. Aber ich glaube nicht, dass meine Mappe dort ist.«

Alessia nickte. »Wir sehen trotzdem nach, bevor wir gehen.«

»Gehen?« Ich sah sie irritiert an.

»Natürlich. Ich packe ein paar Sachen zusammen, und dann verschwinden wir schleunigst von hier. Oder glaubst du etwa, ich bleibe hier und leiste dem da Gesellschaft?« Sie deutete auf den toten Killer, sodass ich ihn unwillkürlich ansah. Er sah beleidigt aus, als hätte sie ihn mit ihren Worten gekränkt, aber das war natürlich Blödsinn. Wahrscheinlich war er nur zum Zeitpunkt seines Todes stocksauer und überrascht darüber gewesen, dass ihn, den Killer, jemand anderes gekillt hatte. Und dieser Gesichtsausdruck würde ihm jetzt erhalten bleiben, bis er vollständig verwest war. »Außerdem werde ich nicht hierbleiben und darauf warten, dass derjenige, der das getan hat, zurückkommt, den vermasselten Job zu Ende bringt und mich ebenfalls mit in die Badewanne packt.«

Ich runzelte die Stirn. Komisch, wie schnell wir es doch als Tatsache akzeptiert hatten, dass jemand Alessia umbringen wollte und dafür einen Killer engagiert hatte, obwohl wir uns nicht einmal erklären konnten, wieso. Eigentlich geschahen solche Dinge nur in Filmen oder erfundenen Geschichten und nicht in der Realität gewöhnlicher Menschen. Doch irgendwie war ich heute, ohne es zu bemerken, aus meiner Realität in exakt so eine Geschichte gepurzelt, in der sich derartige Dinge ereigneten und anscheinend völlig normal waren, zumindest in Alessias Augen. Andererseits war ich aufgrund meiner Gabe vermutlich alles andere als gewöhnlich und hatte in den letzten Monaten schon mehr Todesfälle als üblich miterlebt. Ich beendete den Gedanken, denn wenn ich zu lange darüber nachdachte und mir erst so richtig bewusst machte, in welcher Gefahr ich geschwebt hatte und mich augenscheinlich noch immer befand, würde ich vermutlich nur verrückt werden.

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