Kitabı oku: «Die Gilde der Seelenlosen», sayfa 3

Yazı tipi:

Tornantha schäumte vor Wut und hätte sich am liebsten sofort auf den Hafenmeister gestürzt und mit den Fäusten auf ihn eingeschlagen. Seine straffen Muskeln verdeutlichten ihr jedoch, dass dies ein vergebliches Unterfangen gewesen wäre, bei dem sie den Kürzeren gezogen hätte. Daher keifte sie nur: „Sie sind nicht der Hochkönig!“

„Noch nicht“, gestand Lunalto ruhig mit unbewegtem Gesicht zu. „Aber bald. Und zwar dank Ihrer Hilfe.“

Tornanthas Menschenkenntnis sagte ihr, dass das Selbstbewusstsein des Hafenmeisters nicht von ungefähr kam. Er schien überzeugt von seiner Ankündigung. Und dafür musste es einen Grund geben.

Langsam begann sie, ihn mit anderen Augen zu betrachten. Es war kein Wunder, dass ihm scharenweise die Frauen zu Füßen lagen. Seine kräftige Gestalt harmonierte in idealer Weise mit den schönen, wenngleich auch etwas zu harten Gesichtszügen. Unbewusst kämpfte die Witwe Crescals gegen eine langsam einsetzende Schwäche an. Umgekehrt konnte sich auch Lunalto dem Reiz ihrer Erscheinung nicht völlig entziehen. Kataraxas hatte ihn ausführlich über die Gefangene aufgeklärt. Nun verstand der Hafenmeister auch, weshalb selbst junge Männer der Ausstrahlung dieser reifen Frau verfielen.

„Warum glauben Sie, dass ich Ihnen helfe, obgleich Sie mir das hier antun?“, fragte Tornantha und deutete mit einer entsprechenden Geste an, dass sie ihre Nacktheit meinte. Die Angriffslust war jedoch bereits weitgehend aus ihrer Stimme verschwunden.

„Sie sind eine außergewöhnlich schöne Frau“, schmeichelte Lunalto. „Es wäre eine Schande, diese Schönheit zu verhüllen.“ Nach einer kurzen Pause ergänzte er: „Ich will jedoch ehrlich zu Ihnen sein. Ein wichtiges Druckmittel ist das Schiff, mit dem Sie gereist sind, und das ich jederzeit mitsamt der Besatzung vernichten könnte. Außerdem haben wir die seltsame Ladung, die Sie transportiert haben. Ich nehme an, Sie wollen nicht, dass Ihren Leuten oder der Ladung etwas zustößt.“

„Und was wollen Sie?“, erkundigte sich Tornantha, der nun immer klarer wurde, dass sie sich völlig in der Hand des Hafenmeisters befand.

„Kommen Sie!“, forderte er sie auf und trat zu einem großen Fenster, von dem aus man einen Teil der riesigen Festungsanlage, die beiden Häfen und die westlichen Bezirke der Hafenstadt überblicken konnte. Wegen des klaren Wetters hatte man sogar freie Sicht über die Meerenge bis zu der großen Insel Ludoi. Es war ein herrliches Bild, voller landschaftlicher Schönheiten und beeindruckender Gebäude.

„Möchten Sie dazu beitragen, dass dies alles erhalten bleibt oder dass es zerstört wird?“, forschte Lunalto. Tornantha sah ihn fragend an, worauf er erklärte: „Ich weiß aus einer sicheren Quelle, dass eine Gruppe monströser Dämonen entfesselt wurde, um wesentliche Teile des Kontinents zu vernichten. Sie werden weder vor Obesien noch vor Sindra haltmachen. Wir brauchen eine mächtige Allianz, wenn wir das alles überstehen wollen. Nord-Obesien muss sich wieder mit dem Süden und mit uns verbünden. Sie sind die Einzige, die das bewerkstelligen kann.“

„Dann werde ich aber nach Modonos zurückkehren müssen“, hielt ihm die unbekleidete Witwe vor.

„Das sollen Sie auch“, bestätigte Lunalto. „Ich werde Ihnen sogar einen mächtigen Beschützer mitgeben, der Sie sicher in Ihr Land geleiten wird. Er heißt Kataraxas und weiß über die Monstren Bescheid, die als die „Gilde der Seelenlosen“ bezeichnet werden. Kataraxas wird Ihnen dabei helfen, die Allianz zu schmieden, die uns allen das Überleben sichern soll.“

Tornantha brauchte nicht lange nachzudenken. Der Ovaria durfte nichts geschehen. Und sie selbst konnte in Modonos mehr bewirken als in Sindra.

„Ich bin einverstanden“, stimmte sie zu.

„Gut!“, freute sich der Hafenmeister. „Dann werden wir jetzt unseren Pakt entsprechend dem alten Brauch der Hochkönige besiegeln.“ Er trat zu Tornantha, ergriff sie am Oberarm und führte sie zu einer Sitzgruppe in der Raumecke. Auf dem Tisch lag ein schwarzes Tuch. Lunalto faltete es zu einem handbreiten Streifen zusammen und schlang es der Obesierin über die Augen. Scheinbar willenlos ließ sie ihn gewähren. Ihm Widerstand zu leisten, wäre zwecklos gewesen. Vor allem war sie aber äußerst gespannt, was nun folgen würde.

Lunalto zwang sie, sich auf die Sitzfläche eines Sessels zu knien. Dann beugte er ihren Oberkörper nach vorn. Allmählich begriff Tornantha, was ihr bevorstand. Weil sie jedoch nur die halbe Wahrheit ahnte, leistete sie weiterhin keinen Widerstand. Das schwarze Tuch half ihr dabei, das Bild des muskulösen Körpers und des ausdrucksstarken Gesichts vor ihrem inneren Auge zu bewahren. Die alten Hochkönige hatten es verstanden, auch die feinsten Saiten der Vorstellungskraft zum Klingen zu bringen. Als Lunalto die Schenkel Tornanthas leicht auseinanderschob und sie zwischen den Beinen befühlte, stellte er fest, dass sie leicht zitterte und feucht geworden war.

Dann trat er lautlos drei Schritte zurück. Wie aus dem Nichts tauchte neben ihm eine große, hagere Gestalt auf. Inzwischen wusste der Hafenmeister, wie sie in den Raum gelangen konnte. Die offene Geheimtür in der Wandvertäfelung war nicht zu übersehen.

Mit wenigen schnellen, panthergleichen Schritten trat Kataraxas hinter Tornantha. Sein silbernes Gewand fiel geräuschlos zu Boden. Mit seinem hoch aufgerichteten, harten Glied drang er tief in die Witwe Crescals ein. Lustvoll stöhnte sie auf. Vor ihrem inneren Auge stand immer noch das Bild des kräftigen Hafenmeisters mit dem jugendhaften Gesicht. Vor dem inneren Auge des ehemaligen Gruftwächters zeichnete sich dagegen ein völlig anderes Wunschbild ab: ein kleines Wesen, das eine neue Dynastie begründen sollte.

*

Verwundert beobachtete der hochbetagte Mann den gänzlich in schwarz gekleideten Reiter, der sich ihm näherte. Längst fühlte er sich bereits viel zu alt, um Todesangst zu empfinden. Dennoch beschlich ihn ein leiser Schauder. Sowohl in den Augen des Reiters wie in den Augen seines pechschwarzen Pferdes schienen Flammen zu lodern. Der Fremde mit den langen, glänzenden Haaren trug über der Hose lediglich ein dünnes Hemd, das angesichts der bitterkalten Temperaturen im Spätherbst Gatyas völlig unpassend wirkte.

Der alte Mann fröstelte nun noch mehr und zog seinen ausgefransten Fellumhang enger um den Körper. Für kurze Zeit wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem riesigen Eisbaum zu, dessen Blätter in unterschiedlichen Rotschattierungen vom Herannahen des Winters kündeten. Der seltsame Reiter schien den Baum nicht zu beachten. Er hielt genau auf den alten Mann zu. Sein bleiches Gesicht blieb völlig ausdruckslos, und kein Wort kam über seine schmalen, zusammengepressten Lippen, als er unmittelbar vor dem Alten sein Pferd zum Stehen brachte. Er schwang sich aus dem Sattel und legte die wenigen Schritte bis zu dem einsamen Gatyer ohne Hast zurück. Seine Augen flackerten unruhig, gerade so, als ob das Feuer in ihnen den alten Mann verzehren wollte. Der aber stand völlig unbewegt, obgleich er das herannahende Unheil körperlich spürte. Was hätte er auch schon dagegen tun können?

Völlig übergangslos lag ein schwerer Streitkolben in der Hand des Fremden. Der greise Gatyer wunderte sich, wo die klobige Waffe plötzlich hergekommen und wie sie in die Hand des Schwarzgekleideten gelangt war. Es wirkte fast wie Zauberei. Seine Gedanken wurden jäh beendet. Der Hammer sauste herab und zermalmte den Schädel des alten Mannes.

Völlig ungerührt drehte sich der schwarzgekleidete Fremde um und schritt zu dem Eisbaum. Der Streitkolben in seiner Hand verformte sich zu einer Schaufel. In der Nähe des Baumstamms begann er, die Erde aufzugraben. In einer Tiefe von zwei Metern stieß er auf einen kleinen, grauen Stein.

Im schwachen Licht der herbstlichen Sonne des Nordens glitzerten winzige Einschlüsse, die sich über die gesamte Oberfläche des Steins erstreckten und wie der Sternenhimmel an einem grauen Firmament anmuteten. Der schwarzhaarige Mann schob den Stein in den Mund und verschluckte ihn. Fast zwanzig Minuten lang stand er wie eine leblose Statue unter dem Eisbaum von Orondinur. Gelegentlich schwebten einige vertrocknete Blätter zu Boden, die ersten Vorboten des kommenden Winters. Der stumme Mann nahm sie genauso wenig wahr wie die zwölf Reiter, die zuerst am Horizont erschienen und sich nun bis auf Rufweite annäherten.

Das Feuer in den Augen des Fremden erlosch. Unversehens verspürte er Kälte. Etwas benommen ging er mit unsicheren Schritten zu dem erschlagenen Mann, dessen zertrümmerter Schädel den Boden in seiner unmittelbaren Umgebung mit Blut getränkt hatte. Er legte den Spaten zur Seite, wickelte die Leiche aus dem Fellmantel und zog sich den Mantel über. Danach ergriff er wieder den Spaten. Beim Aufstehen blickte er in ein Gesicht, das anscheinend aus dem Nichts aufgetaucht war.

„Du hast einen wehrlosen, alten Mann umgebracht“, lautete der Vorwurf. „Warum hast du das getan?“

Den Fremden überkam der Eindruck, aus einer geordneten, analytischen Welt herausgerissen zu werden. Die Aufgaben, die er zu erledigen hatte, lagen allerdings immer noch klar vor ihm. An seinem folgerichtigen Denken hatte sich nichts verändert. Aber plötzlich war da noch etwas anderes, ein verworrener Wust von Empfindungen, wo zuvor nur Leere geherrscht hatte. Er beschloss kurzerhand, dieses Chaos einfach außer Acht zu lassen.

Blitzartig ordnete er seine Kenntnisse. Die dunklen Augen, die gebogene Nase und die kurzen, schwarzen Haare verrieten ihm, dass es sich bei seinem Gegenüber um einen Pylax handelte, einen gefährlichen Krieger, der über einen außergewöhnlich schnellen Bewegungsablauf verfügte. Im gleichen Augenblick gewahrte er auch die Frau und die zehn weiteren Reiter. Sie hatten grüne Augen – Gatyer. Ohne dass ihm dies wirklich klar zu Bewusstsein kam, hatte er bereits die Vorgehensweise festgelegt: Der Pylax war am gefährlichsten. Er musste zuerst ausgeschaltet werden, dann die zehn bewaffneten Reiter und zuletzt die zierliche, harmlose Frau.

Der immer noch in seiner Hand liegende Spaten verwandelte sich in ein kurzes Rohr mit einigen sonderbaren, leuchtenden Ausbuchtungen.

Argo a Narga starrte in die Mündung des aus dem Spaten entstandenen Rohrs. Geistesgegenwärtig warf er sich zur Seite. Ein Lichtbündel zuckte auf und hinterließ ein hässliches, rundes Loch mit verkohlten Rändern in der Schulter des Pylax. Während er zu Boden stürzte, flammte die Waffe erneut in schneller Folge auf und erfasste mit tödlicher Präzision einen der Reiter nach dem anderen.

Dann geschah etwas Unvorhergesehenes.

Duotora hatte zunächst nicht begriffen, was vor ihren Augen ablief. Ein völlig in schwarz gekleideter Mann verharrte während ihrer Annäherung bewegungslos wie ein Standbild nahe dem Stamm des Eisbaums von Orondinur. Dann lief er mit einer Schaufel in der Hand wie ein Traumwandler zu einem leblosen Körper, der einige Meter abseits am Boden lag.

Für die Eisgräfin hatte es zunächst den Anschein, als ob ein in Trauer versunkener Mensch einen geliebten Toten bestatten wollte. Argo a Narga hatte sich dagegen nicht von Mutmaßungen leiten lassen. Ihm klangen immer noch die warnenden Worte des Bewachers der Gruft im Ohr nach. Er stürmte sofort zu der Stelle, wo der Tote am Boden lag. Duotora konnte die Worte des Pylax nicht hören. Dann warf sich Argo a Narga zur Seite. Aus einem seltsamen Gerät in der Hand des Fremden blitzten Lichtstrahlen auf. Die Schaufel war verschwunden. Erst als weitere Blitze aufzuckten, und die Stadtgardisten aus Orondinur von ihren Pferden stürzten, begriff die Eisgräfin, dass der Fremde eine ihr völlig unbekannte Waffe betätigte.

Die Mündung dieser Waffe zeigte nun auf Duotora. Der Lichtstrahl, der sich daraus löste, wurde jedoch in einer zuerst wabernden, dann grell aufleuchtenden Blase erstickt. Duotora hatte den „vernichtenden Blick“ zur gleichen Zeit eingesetzt, als der Fremde den Abzug seiner Waffe erneut betätigte. Ein heftiger Schreck durchzuckte den Schwarzgekleideten. Die Waffe in seiner Hand zerfiel plötzlich zu Staub. Aber letztlich war es nicht dieser Vorgang, der ihn sekundenlang lähmte. Das Gefühl des Erschreckens selbst hatte ihn überwältigt, denn er hatte noch nie zuvor irgendetwas empfunden.

Ein nicht minder großer Schock fuhr der Eisgräfin in die Glieder. Ihre besondere Gabe hatte zwar die Waffe des Fremden zerstört; an ihm selbst perlten die Wellen des „vernichtenden Blicks“ dagegen wie Wasser ab. Dass Duotoras gesamtes Leben wie dasjenige aller anderen Menschen von einer Abfolge aus vertrauten Gefühlen begleitet wurde, zu denen auch das Erschrecken gehörte, verschaffte ihr den entscheidenden Vorsprung. Noch im gleichen Augenblick hatte sie verstanden, dass den Fremden etwas umgab, das sie auch mit dem „vernichtenden Blick“ nicht zu zerstören vermochte.

Während der Schwarzhaarige die von ihm fälschlicherweise als harmlos eingestufte Frau noch betroffen anstarrte, wendete die Eisgräfin bereits ihr Pferd ab und stob davon. Der Fremde sah sich demgegenüber nicht zu einer sinnvollen Reaktion imstande. Zuerst musste er den logischen Grund für seine Fehleinschätzung finden und daraus das weitere Vorgehen ableiten.

Von einer Anhöhe in einer knappen Meile Entfernung beobachtete ein einsamer Reiter den Ablauf der Geschehnisse. Zerknirscht musste er sich eingestehen, dass er zu spät gekommen war, um das Verderben noch aufhalten zu können. Unschlüssig wartete er ab.

Der Fremde mit dem bleichen Gesicht und den schwarzen Haaren hob langsam den Kopf. Er hatte nun Klarheit. Die zierliche Frau musste eine Eisgräfin sein. Damit gehörte sie als eine Helferin des Geflechts der alten Wesenheiten zu den Personen, die es zu beseitigen galt. Er hielt Ausschau nach seinem Pferd. In diesem Moment blendete ihn ein kurzer Lichtreflex von der entfernten Anhöhe. Der Blick des Fremden fiel auf die Kuppe, und er erspähte den Reiter, dessen goldene Rüstung weithin sichtbar in der Sonne schimmerte. Der goldene Ritter bemerkte, dass er entdeckt worden war. Hastig ritt er nach Osten davon.

Die Denkabläufe des Schwarzhaarigen gerieten erneut ins Stocken. Den Ritter mit der goldenen Rüstung durfte es auf dieser Welt nicht mehr geben! Wieso standen seine Beobachtungen im Gegensatz zu den unumstößlichen Tatsachen? Mit ungewohnter Verzögerung entschied er, diesem unerklärbaren Phänomen auf den Grund zu gehen. Die Beseitigung der Eisgräfin konnte warten. Der Eisbaum von Orondinur war dem Tod geweiht. Dadurch würde die ehemalige Königin zweier Länder sowieso ihre besondere Fähigkeit verlieren. Sie stellte keine Bedrohung mehr dar.

Das Schicksal des schwer verwundeten Pylax kümmerte den bleichen Mann nicht. Mit neu erwachtem Elan nahm er die Verfolgung des Ritters mit der goldenen Rüstung auf. Während auch er im Osten verschwand, brach Duotora zornig ihre Flucht ab und kehrte an den Ort des Geschehens zurück.

Seit ihrer Reise von Sindra nach Oot vor vielen Jahren stand Argo a Narga schützend an ihrer Seite. Und jetzt, da er ein einziges Mal ihre Hilfe benötigt hätte, war sie geflohen. Dass sie einem offenbar übermächtigen Gegner gegenübergestanden hatte, entschuldigte Duotoras Verhalten in ihren eigenen Augen nicht.

Die Umgebung des sterbenden Eisbaums wirkte verlassen. Elf Leichen lagen verstreut umher, ferner ein schwerverletzter Pylax. Den elf Toten konnte niemand mehr helfen, wohl aber dem Krieger aus Zitaxon mit der rätselhaften Brandwunde.


Kapitel 2 – Die Mitteilung des letzten Überlebenden

Jalbik Gisildawain sah sich gehetzt um.

„Fürs Erste sind wir den Häschern des Hafenmeisters entkommen“, beruhigte ihn Stilpin.

Die Kutsche stand nun abseits der ohnehin unbelebten Straße auf einer Lichtung in einem nur schwer zugänglichen Waldstück. Der Kutscher hatte all seine Fertigkeiten aufbieten müssen, um diese von Stilpin ausgekundschaftete Stelle zu erreichen.

Mittlerweile hatten sie auch längst die Hauptverkehrsader zwischen Dukhul und Zitaxon verlassen. Dort schien die Entdeckungsgefahr einfach zu groß. Ein weiterer Grund lag darin, dass Stilpin und der Freibeuter beschlossen hatten, nach Borthul zu fliehen. Zwar widerstrebte ihnen der Gedanke, dorthin zurückzukehren, wo sie erst unlängst hergekommen waren; andererseits bot sich aber voraussichtlich nur in Lodumon oder Flagant die Gelegenheit, mit Hilfe eines Schiffes die Ovaria an einen möglichst sicheren Ort zu bringen. Insgeheim schwebte Stilpin das Paradies der Küste in Oot als Zielort vor. Dort würde er sich endlich auch seinen eigenen Traum erfüllen können.

„Wir können uns nicht ewig hier verstecken“, nörgelte Jalbik Gisildawain.

„Das habe ich auch nicht vor“, entgegnete der Priester des Wissens. „Ich werde den weiteren Verlauf des Weges erkunden. Danach können wir aufbrechen.“

Ohne die Zustimmung seiner beiden Reisegefährten abzuwarten, ging Stilpin zu einem der ausgeschirrten Kutschpferde und legte ihm einen Sattel auf. Sodann schwang er sich auf den Rücken des Pferdes und verschwand zwischen den dicht stehenden Bäumen am Rande der Lichtung.

Jalbik Gisildawain und der Kutscher harrten unschlüssig neben der Kutsche aus und hingen ihren Gedanken nach. Mit einer schwebenden Leichtigkeit entfernten sich diese Gedanken von ihrer derzeit misslichen Lage. Immerhin waren die Beschützer des Raupenwesens in einem feindlichen Land gestrandet und einer gnadenlosen Verfolgung ausgesetzt. Die Ausstrahlung der Ovaria ließ sie diese bedrohliche Lage aber vorübergehend vergessen.

Zwei Stunden mussten seit dem Aufbruch Stilpins bereits vergangen sein. Zunehmend begann eine körperliche Unruhe, die heitere Stimmung der beiden Männer zu verdrängen. In Wahrheit näherte sich ein Schatten, der den Einfluss der Ovaria überlagerte. Zwischen den Bäumen standen unvermittelt zwei Gestalten.

Das ist doch nicht möglich!, dachte der Freibeuter und sprang entsetzt auf. Bei dem größeren der beiden Ankömmlinge handelte es sich augenscheinlich um den Fremden, den er im Privatkerker seines Landsitzes auf der Insel Borgoi gefangen gehalten und später gegen den Höchsten Priester ausgetauscht hatte. War er gekommen, um sich zu rächen? Die furchterregende, sensenartige Waffe in seiner Hand mutete wie eine aus Stahl geschmiedete Bestätigung dieser Befürchtung an.

Jalbik Gisildawain riss das Schwert aus seinem Gürtel. Der Kutscher, der während der ganzen Zeit das Verhalten des Freibeuters beobachtet hatte, tat es ihm gleich. Völlig unbeeindruckt näherten sich die beiden Ankömmlinge. Die Männer aus Borgoi und Obesien konnten nun deutlich die gelben Augen mit den schwarzen Sehschlitzen erkennen. Obwohl die äußere Erscheinung der beiden Fremden ansonsten kaum unterschiedlicher hätte sein können, hatten sie die gleichen Augen.

„Willst du mich töten, obgleich ich dir das Leben gerettet habe?“, fragte der Freibeuter den weitaus größeren der beiden Männer. Unverkennbar schwangen Angst und Unsicherheit in seiner Stimme mit. Dennoch übersah er nicht den kurzen, erstaunten Blick, den sich die beiden Fremden zuwarfen.

„Ich bin nicht der, den du wiederzuerkennen glaubst“, antwortete der Mann mit der sensenartigen Waffe. Jalbik Gisildawain wusste in seiner Verwirrtheit gar nicht, was er glauben sollte. Der hässliche, sägende Klang der Worte war ihm durchaus vertraut. Genau so hatte sich die Stimme des Unbekannten angehört, mit dem er stundenlange Gespräche geführt hatte, nachdem er ihn aus dem tosenden Meer vor der Tasche von Derkh gefischt und anschließend in seinem Kerker auf dem Hügel Karadastak gefangen gehalten hatte.

„Steckt die Waffen weg!“, verlangte nun der Kleinere der beiden Fremden, ein zierlicher Mann mit schneeweißer Haut und goldenen Locken. „Wir wollen euch nicht töten. Aber wenn es sein muss, werden wir es tun.“

Er bückte sich und hob einen schweren Felsbrocken wie eine Feder empor. Der Freibeuter aus Borgoi wäre nicht in der Lage gewesen, diesen Felsen auch nur um Haaresbreite zu bewegen. Der zierliche, weiße Mann brach den Stein jedoch wie ein morsches Stück Holz in der Mitte entzwei und ließ die beiden Stücke zu Boden fallen. Zögernd steckten Jalbik Gisildawain und der Obesier nach dieser Machtdemonstration ihre Schwerter wieder weg.

„Mein Name ist Dorothon“, erklärte der Weiße Mann. „Und das ist mein Sohn Quosimanga. Wir werden die Ovaria an einen sicheren Ort bringen.“

*

Der Eisgraf atmete auf. Offensichtlich kam er nicht zu spät. Die Blätter des Eisbaums leuchteten in ihrer herbstlichen Farbenpracht. Mit einer unglaublichen Kaskade von Rottönen verabschiedete sich der Baum von dem allmählich zu Ende gehenden Jahr. In Kürze würde in diesem Teil Gatyas der bitterkalte Winter des Nordens Einzug halten, und alles Leben würde vorübergehend unter einer dicken Schneedecke versinken. Septimor hatte das Gefühl, an der Wiege der Menschheit zu stehen. Hier in Bregunzides kündeten die ältesten Zeugen des Kontinents vom frühesten Zusammenleben in einer Ansiedlung: die dicken Mauern dieser Anlage waren lange Zeit vor dem Beginn geschichtlicher Überlieferungen entstanden. Ihre Errichtung wurde den Ur-Sterzen zugeschrieben, einem Volk, dessen Herkunft sich im Dunkel der Vorgeschichte verlor.

Die Schnurrbartenden des Eisgrafen wippten in einer leichten Brise, die von Gatas herüberwehte, der Hauptstadt des nordwestlichsten Landes. Das leise Rascheln der angetrockneten Blätter zeigte Septimor, dass sich der Lebenssaft des Baumes bereits auf dem Rückzug befand. Dies entsprach jedoch der regelmäßigen Entwicklung im Ablauf der Jahreszeiten. Sollte Grakinovs Sorge unbegründet gewesen sein? Septimor konnte nichts erkennen, was das ruhige und friedliche Bild an diesem ältesten Ort der Zivilisation zu trüben vermochte. Selbst der mäßige Wind war wieder vollständig abgeflaut. Der Eisgraf setzte sich auf eine der ungewöhnlich dicken Mauern, die den mutmaßlichen Hof der vorzeitlichen Festungsanlage begrenzten. Er wartete, ohne zu wissen worauf.

Wie den meisten Menschen bereitete das Warten auch dem Mann aus Kerdaris keine Freude. Zu ereignisreich war sein Leben verlaufen, als dass er am Müßiggang hätte Gefallen finden können. An einem Ort wie Bregunzides galten jedoch andere Gesetzmäßigkeiten.

In unmittelbarer Nähe von Eisbäumen wurden die Eisgrafen stets von einer ganz besonderen Stimmung ergriffen. Es fühlte sich an, als ob die Seele auf einer Woge in einem Meer unbeschwerter Empfindungen dahintreiben würde. Die Zeit wurde bedeutungslos bei diesem Bad in der Glückseligkeit.

Das Licht und vor allem die Wärme der herbstlichen Sonne büßten auf ihrem Weg zum Horizont rasch an Kraft ein. Septimors entrücktes Bewusstsein kehrte jäh in die raue Wirklichkeit zurück. Das lag jedoch weniger an der allmählich einsetzenden Kälte. Vielmehr zeichnete sich im Westen gegen den Abendhimmel ein Reiter ab, der genau auf die vorgeschichtliche Sterzenfestung zuhielt. Es handelte sich um einen Mann mit langen, glatten, schwarz glänzenden Haaren und schwarzer Kleidung auf einem pechschwarzen Rappen. Selbst der Älteste und Erfahrenste der Eisgrafen konnte sich eines Gefühls der Beklemmung nicht erwehren, als er die flammenden Augen des Reiters und seines Pferdes gewahrte. Das waren unverkennbar keine Wesen, die der Kontinent hervorgebracht hatte!

Mit einem Satz schwang sich der schwarz gekleidete Mann aus dem Sattel und landete federnd auf dem Boden. Wortlos setzte er sich in Richtung des Eisgrafen in Bewegung. Septimor spürte körperlich die Bedrohung, die von dem Fremden ausging. Unwillkürlich, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu werden, setzte er den „vernichtenden Blick“ ein. Die wabernde Blase erfasste den Fremden, erlosch aber sogleich wieder. Der schwarzhaarige Mann setzte seinen Weg unbeirrt fort.

Septimors Hand krampfte sich um den Schwertgriff an seiner Seite, obwohl er bereits ahnte, dass auch diese Waffe der unheimlichen Gestalt keinen Einhalt gebieten konnte. Dann lösten sich jedoch schlagartig die feurigen Augen vom Gesicht des Eisgrafen und schauten nun in eine andere Richtung. Der Fremde schritt unmittelbar an Septimor vorbei, durch eine eingefallene Bresche im Verteidigungswall des Innenhofs zu den Überresten eines dahinter gelegenen Gebäudes. Der Eisgraf folgte ihm mit seinen Blicken und erstarrte. Zwischen den breiten Pfosten einer ehemaligen Türöffnung stand eine riesenhafte Gestalt in einer goldenen Rüstung.

„Halt!“, dröhnte die Stimme des goldenen Ritters. „Keinen Schritt weiter!“

Der Fremde blieb abrupt stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Der Ritter mit der goldenen Rüstung trat zwei Schritte zur Seite und öffnete seine zur Faust geballte Hand. Sie hatte einen kleinen Metallwürfel umschlossen, aus dem ein kurzer Stift herausragte. Nun legte er diesen Würfel auf den Sockel einer abgebrochenen Säule und ging anschließend mehrere Schritte rückwärts.

Das Feuer in den Augen des Schwarzhaarigen loderte beim Anblick des seltsamen Gegenstandes noch stärker auf. Wie von einem Zwang getrieben trat er an den Würfel heran und griff danach. Das war der Augenblick, in dem er den Mann mit der goldenen Rüstung nicht im Blick behalten konnte. Der Ritter riss mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung sein riesiges, reich verziertes Schwert aus der Scheide, holte blitzartig aus und ließ es auf den Fremden herabsausen. Noch bevor die Klinge den Schwarzgekleideten berührte, schien sie sich in eine Flammenzunge zu verwandeln. Als sie auftraf, wurde sie von einem Mantel hüpfender Funken eingehüllt.

„Jetzt, Septimor!“, donnerte die Stimme des Ritters mit der goldenen Rüstung.

Der Eisgraf hatte sofort begriffen, was von ihm erwartet wurde. Ein leichtes Prickeln breitete sich in seinem Genick aus, während er von seiner besonderen Gabe erneut Gebrauch machte. Eine wabernde Blase erstickte die tanzenden Funken schlagartig. Dieses Mal entfaltete der „vernichtende Blick“ tatsächlich seine vernichtende Wirkung. Als die Blase in sich zusammenfiel, verschwand auch der unheimliche Fremde. Ein wenig Staub rieselte vor dem Sockel der abgebrochenen Säule zu Boden. Der goldene Ritter schritt achtlos über den verwehenden Staub hinweg, ergriff den eigenartigen Metallwürfel und ließ ihn wieder in dem Panzerhandschuh verschwinden, der seine mächtige Faust umschloss.

Dann sagte er zu Septimor: „Du hast den letzten Eisbaum Gatyas gerettet, vorläufig. Das Wesen, das du getötet hast, gehörte zur Gilde der Seelenlosen. Es war jedoch noch unfertig. Der Seelenlose hingegen, der den Eisbaum von Orondinur vernichtet hat, kann nicht mehr besiegt werden. Dennoch müssen wir den Kampf fortsetzen, wenn wir uns nicht feige in unser Schicksal ergeben wollen. Gehe nach Rabenstein und sage Unitor, dass er sofort seinen Eisbaum in Drinh aufsuchen soll. Die Gilde der Seelenlosen wird versuchen, auch diesen Baum zu zerstören. Helfe Unitor, ihn zu verteidigen! Mit dem Schwert von Umbursk könnt ihr den Feind besiegen, solange er den Baum noch nicht erreicht hat.“

Septimor erkannte schon an der Stimme, die keinen Widerspruch duldete, dass es keines weiteren Wortes bedurfte. Obgleich ihn bohrende Fragen beschäftigten, hob er die Hand für einen kurzen Abschiedsgruß. Er ahnte, dass er den Mann mit der goldenen Rüstung wiedersehen würde. Und ebenso ahnte er, dass er ihm zuvor schon einmal begegnet war, wenngleich auch in anderer Gestalt.

Der Eisgraf wandte sich ab und ging zu seinem Pferd, das auf einer nahegelegenen Wiese friedlich graste. Er musste schnellstens Rabenstein erreichen, um den Tod eines weiteren Eisbaums zu verhindern. Während er in der Ferne verschwand, begab sich der Ritter mit der goldenen Rüstung zu dem geretteten Eisbaum.

„Das Geflecht der alten Wesenheiten muss sofort den Krieg gegen seine Beschützer und Verbündeten einstellen“, verlangte er. „Andernfalls wird die Gilde der Seelenlosen alles, was auf die Schöpfer hindeutet, vom Angesicht dieser Welt tilgen. Sorge dafür, dass diese Kunde alle erreicht, die hiervon betroffen sind. Es gibt bereits einen Seelenlosen, der zum Seelenträger geworden und im Kampf selbst mit meiner Hilfe nicht mehr zu besiegen ist.“

Anschließend lief er zu dem rabenschwarzen Pferd des Seelenlosen, das immer noch wie angewurzelt an der gleichen Stelle stand, wo sein getöteter Besitzer es abgestellt hatte. Er schwang sich auf den Rücken des Rappen. Ohne den geringsten Widerstand gehorchte das Pferd seinem neuen Besitzer. Dessen eigenes Pferd schloss sich ihnen wenig später an. Der goldene Ritter ritt einige Meilen in westlicher Richtung. Dann wendete er nach Süden ab und ließ ein paar Stunden später sein eigenes Pferd frei. So konnte er sicher sein, den Seelenträger, der ihn verfolgte, in die Irre zu führen. Er würde seine Spur verlieren und auch nicht nach Bregunzides reiten.

*

Sicherlich entsprang die Entscheidung, den „Elefantenbuckel“ zu erklimmen, einem Gefühl der Hilflosigkeit. Von dieser Anhöhe am nordöstlichen Zipfel der Ebene von Pleeth hatte man einen der am weitesten reichenden Panoramablicke auf dem gesamten Kontinent. Dennoch durfte die kleine Gruppe natürlich nicht die Hoffnung hegen, das fieberhaft gesuchte Gefährt zu sichten. Außer Chrinodilh wusste niemand, wie die Nachricht übermittelt worden war. Trotzdem zweifelte keine der vier anderen Personen ernsthaft daran, dass sie zutraf. Eine Flotte des Hafenmeisters von Dukhul hatte das Schiff des Freibeuters Jalbik Gisildawain auf seinem Weg durch die Straße von Ludoi zum Anlanden gezwungen. Danach verlor sich die Spur der Kutsche mit der Ovaria in Sindra.

Dass selbst Larradana, von der die Mitteilung stammte, über den Aufenthaltsort der „Schlummernden“ nichts Näheres wusste, gab Chrinodilh zu denken. Noch bedenklicher erschien ihr aber die Tatsache, dass sich die Weiße Frau an der Suche nicht beteiligte, sondern stattdessen in Zitaxon ausharrte, um den Hochkönig zu beschützen. Es musste sich schon um äußerst gefährliche Bedrohungen handeln, wenn die Mutter der Pylax glaubte, in der Hauptstadt unentbehrlich zu sein.

Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Hacim:
364 s. 8 illüstrasyon
ISBN:
9783947721238
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip