Kitabı oku: «Splitter einer vergangenen Zukunft», sayfa 3
„Keiner von uns hat den Bäumen etwas zuleide getan“, warf Septimor ein. Eine Stille der Ratlosigkeit breitete sich aus.
Dann sagte Telimur plötzlich: „Wenn ich Quartor richtig verstanden habe, geht es nicht darum, dass ihr etwas Falsches getan habt. Offenbar fühlt sich das Geflecht der alten Wesenheiten durch jemand anderen bedroht.“
„Aber was hat das mit uns zu tun?“, wollte Quintora wissen.
„Die meines Erachtens einzig denkbare Erklärung wäre, dass das Geflecht befürchtet, ihr könntet euch auf die Seite dieses Wesens stellen, das der Baum den „Kettenhund“ genannt hat“, mutmaßte Telimur, hielt jedoch plötzlich mitten in der Bewegung inne und wurde leichenblass.
„Was ist los?“, fragte Quintora ihren Gatten.
„Ich habe die ganze Zeit von euch geredet“, murmelte der Priester des Wissens stockend. „Aber ich befürchte, dass ich auch selbst betroffen bin. Schließlich bin ich ein Spiritant. Wir Spiritanten haben letztlich die gleiche Beziehung zu alten Riesenbäumen wie ihr zu euren Eisbäumen. Und es kommt noch schlimmer: Ich glaube zu wissen, wer der „Kettenhund“ ist.“
Alle Eisgrafen sahen ihn bestürzt an.
Daher erklärte Telimur weiter: „Das Geflecht der alten Wesenheiten ist augenscheinlich nicht in der Lage, Fehlentwicklungen selbst zu berichtigen und Dinge ins Gleichgewicht zu bringen. Es muss sich dazu eines menschlichen Vollstreckers bedienen.“
Nun erbleichte auch Unitor.
„Du meinst den Meister der Todeszeremonie?“
Telimur nickte.
„Wenn es sich tatsächlich um Roxolay handelt, kann ich jedenfalls für meine Person nicht gewährleisten, auf wessen Seite ich stehe. Vor allen Dingen solange ich nicht weiß, worum es bei dieser Auseinandersetzung überhaupt geht. Das bedeutet aber zugleich, dass die Befürchtungen des Geflechts möglicherweise nicht unbegründet sind.“
„Du meinst also, wir sollten uns von den Eisbäumen fernhalten bis wir wissen, was der Grund für diese Auseinandersetzung ist“, fasste Quintora zusammen.
„Ich meine, dass wir das selbst herausfinden müssen“, stellte Telimur klar.
„Und wie sollen wir dabei vorgehen?“, wollte Quartor wissen.
„Falls Roxolay tatsächlich in diese Vorgänge verwickelt ist, wäre es wohl naheliegend, dass ich ihn in Rabenstein aufsuche“, meinte der Priester des Wissens.
„Wir sind Eisgrafen“, meldete sich Königin Octora zu Wort. „Wir werden nicht untätig hier herumsitzen und abwarten, ob du in Rabenstein etwas in Erfahrung bringen kannst. Ich schlage vor, dass jeder von uns für sich selbst überlegt, auf welche Weise er bei der Lösung dieses Rätsels mithelfen kann.“
Alle Anwesenden hielten dies für einen guten Vorschlag. Keiner von ihnen bedachte jedoch, dass Sestor nicht gewarnt worden war.
„Die Bäume selbst können uns nichts anhaben“, fuhr Octora fort. „Ich werde nach Knoist zurückkehren. Ich will herausfinden, ob auch mein Baum mir etwas zu sagen hat.“
„Ich werde ebenfalls zu meinem Baum gehen“, stimmte Septimor, der Älteste der Eisgrafen, zu. Dann wandte er sich an die beiden Paare: „Ihr vier seid frisch vermählt. Ich halte es nicht für erforderlich, dass ihr euch jetzt gleich schon wieder trennt. Warum sollte jeder zu seinem Baum reisen und sich unterwegs in Gefahr begeben? Das gilt auch für dich, Telimur, und deine geplante Reise nach Rabenstein. Es dürfte wohl reichen, wenn Octora und ich unsere Bäume aufsuchen. Wir werden euch benachrichtigen, wenn sich daraus irgendwelche Erkenntnisse ergeben. Denkt daran, dass ja nicht der Norden bedroht wird, sondern ihr selbst. Hier im Palast und in den Höhlen von Zogh ist es am sichersten. Bitte genießt mir zuliebe wenigstens noch ein paar Wochen eure Zweisamkeit!“
„Septimor hat völlig recht“, bekräftigte Octora.
„Ihr seid wirklich gute Freunde“, stellte Unitor gerührt fest.
„Wir alle sind gute Freunde“, berichtigte ihn Septimor.
Quartor runzelte die Stirn: „Dabei stellt sich nur die Frage: wie lange noch?“
Die anderen Eisgrafen sahen ihn erstaunt an. Diese Art von Niedergeschlagenheit passte in keiner Weise zu dem sonst so lebenslustigen Mann aus Tanaria. Hatte er bereits eine schreckliche Vorahnung?
Kapitel 2 – Die Suche nach der Wahrheit
Die beiden alten Priester saßen in einem verborgenen Raum des Inneren Zirkels der Akademie von Modonos. Dieser war bisher nicht einmal dem Höchsten Priester bekannt gewesen.
„Als Meister der Todeszeremonie hat man so seine Geheimnisse“, lächelte Roxolay. „Wir befinden uns hier in meinem einstigen Gastzimmer, wie es jedem Mitglied des Inneren Zirkels zusteht. Ich habe allerdings durch einige kleinere Umbauten dafür gesorgt, dass es in Vergessenheit gerät.“
„Warum hast du es mir gezeigt?“, erkundigte sich Ulban.
„Es geht nur darum, dass wir hier ungestört sind“, erwiderte der ehemalige Meister der Todeszeremonie. „Außerdem ist es der ideale Ausgangspunkt für mein Vorhaben.“
„Welches Vorhaben?“, wollte der Höchste Priester wissen.
„Murbolts Aufzeichnungen sind nicht das einzige Dokument, das gefälscht wurde“, antwortete Roxolay. „In Rabenstein befindet sich das „Buch der Vorzeit“. Ich bin sicher, dass sogar an diesem Buch Veränderungen vorgenommen wurden.“
Ulban starrte ihn ungläubig an: „Wie kommst du darauf?“
Roxolay spielte geistesabwesend mit einem Federkiel, der vor ihm auf dem Tisch lag, und erzählte: „Einige der alten Geschichten berichten von den Kriegen zwischen den Sterzen und dem Volk von Dunstein. In einer dieser Geschichten wird am Rande erwähnt, dass es in Derfat Timbris und in Tirk Modon bereits bei den Ur-Sterzen Heiligtümer gegeben habe, die nur von wenigen Auserwählten betreten werden durften. Bei Derfat Timbris weiß ich nicht, um welche Gebäude es sich gehandelt haben soll. Aber bei Modonos bin ich mir ziemlich sicher.“ Er hielt inne und sah den Höchsten Priester erwartungsvoll an. Der hatte sofort verstanden: „Die Rotunde?“
„Genau“, bestätigte Roxolay. „Manche Hinweise erlangen erst dann Bedeutung, wenn es sie nicht mehr gibt. Kürzlich habe ich an der besagten Geschichte gearbeitet. Dabei ist mir aufgefallen, dass der Hinweis auf den heiligen Status fehlt, den diese Orte bei den Ur-Sterzen hatten. Das Gleiche gilt auch für die anderen Heiligtümer wie beispielsweise Loxoterantos oder Kijanduk. Wenn sich jemand derart viel Mühe gibt, ein Buch zu verfälschen, muss es sich um eine Sache von überragender Wichtigkeit handeln.“
„Deswegen willst du, dass ich dir die Rotunde öffne“, stellte Ulban fest, der als Einziger den Schlüssel zu diesem unscheinbaren, aber geschichtsträchtigen Bauwerk besaß. Es war bei der Errichtung des „Inneren Zirkels“ nicht angetastet und sogar als Mittelpunkt gewählt worden.
„Möchtest du etwa nicht wissen, warum das „Buch der Vorzeit“ verfälscht wurde?“, fragte Roxolay zurück.
„Gewiss“, murmelte der Höchste Priester zerknirscht. „Manchmal bin ich wohl etwas zerstreut.“
Roxolay erhob sich und ging zu der Wandvertäfelung. Dort klappte er eine der Zierkassetten nach außen. Mit Hilfe des darunter angebrachten Griffelements schob er ein türgroßes Teil der Trennwand zur Seite. Durch die Öffnung betraten die beiden Priester einen Raum, der große Ähnlichkeit mit dem Zimmer hatte, das sie gerade verließen. Nur befanden sich dort auch tatsächlich Bücher in den deckenhohen Regalen.
Roxolay schob die getarnte Tür in der Wandvertäfelung wieder in ihre Ausgangsposition zurück. Dann verließen sie auch den zweiten Raum, dieses Mal jedoch durch eine normale Tür, an deren Außenseite sich der Name Roxolays befand. Die mondänen Korridore, denen sie anschließend folgten, waren menschenleer. Tiefe, blaue Teppiche dämpften ihre Schritte. Nach wenigen Minuten erreichten sie die Rotunde, die durch ihre schmucklosen Steinwände wie ein Fremdkörper innerhalb des „Inneren Zirkels“ wirkte. Ulban fischte einen Schlüsselbund aus seinem Gewand und öffnete die schwere Rundbogentür. Er sah sich noch einmal kurz um. Dann betrat er gemeinsam mit Roxolay den karg ausgestatteten Raum mit der schmucklosen Kuppel.
„Wonach suchen wir?“, fragte der Höchste Priester.
„Das weiß ich auch noch nicht so ganz genau“, gestand Roxolay und ließ seinen Blick über die Decke, die Wände und schließlich den Boden schweifen. Dabei stutzte er. Das durch schmale Einlässe unterhalb der Kuppel einfallende Licht zeichnete eine kreisrunde Fläche in der Mitte des Raumes in einem unmerklich abweichenden Farbton. Das Rot des Sandsteins wirkte dort geringfügig heller.
„Das ist das Licht“, bemerkte Ulban, der dem Blick des Mannes aus Rabenstein gefolgt war. Anstelle einer Antwort hielt dieser seinen Arm über die runde Fläche. Eine Veränderung war nicht feststellbar.
„Es ist nicht das Licht“, staunte der Höchste Priester.
„Der Farbunterschied wird durch den Hohlraum bewirkt, der sich darunter befindet“, bestätigte Roxolay. „Das ist eine Abdeckplatte. Wir müssen die Vorrichtung finden, mit deren Hilfe wir sie bewegen können.“
„Wenn es überhaupt eine gibt“, zweifelte Ulban und deutete mit einer raumgreifenden Geste auf die kahlen, glatten Wände. „Ich glaube nicht, dass es eine gibt. Wahrscheinlich sollte mit der Platte der darunter liegende Schacht endgültig verschlossen werden.“
Roxolay nickte nachdenklich.
„Da muss ich dir zustimmen. Die Platte wurde völlig fugenlos eingesetzt. Das legt den Schluss nahe, dass sie nicht als Abdeckung erkannt werden sollte. Wir müssen sie wohl zerstören wenn wir den Schacht öffnen wollen.“
Ulban starrte ihn entgeistert an.
„Das ist ein Heiligtum. Es wurde selbst beim Bau des Inneren Zirkels nicht angetastet“, stammelte er.
Roxolay verschränkte die Arme vor der Brust.
„Jemand hat das wichtigste Buch der Menschheit und damit unsere Geschichte verfälscht“, rief er in Erinnerung. „Man kann es auch anders ausdrücken: Wir sollen in die Irre geführt werden. Ich betrachte das zugleich als Bedrohung. Glaubst du wirklich, ich ließe mich von einer lächerlichen Steinplatte davon abhalten, die Wahrheit herauszufinden?“ In diesem Augenblick ging von dem ehemaligen Meister der Todeszeremonie etwas Bedrohliches aus. Der Höchste Priester wich einen Schritt zurück.
„Besorge das notwendige Werkzeug!“, forderte Roxolay ihn in einem Ton auf, der keinen Widerspruch duldete.
Ulban wandte sich der Tür zu, aber Roxolay rief ihn noch einmal zurück: „Lass den Schlüssel hier!“
Ohne Widerspruch händigte der Höchste Priester dem Mann aus Rabenstein den Schlüssel zur Rotunde aus, den dieser eigentlich nicht besitzen durfte. Dann verließ er den uralten Kuppelbau, um eine Spitzhacke und einen schweren Hammer zu besorgen.
Nachdem es ganz still im Inneren der Rotunde geworden war, kniete sich Roxolay auf die kreisförmige Platte. Dabei fand er bestätigt, was er bisher eher geahnt als gefühlt hatte. Nur er als Spiritant konnte die feinen, für andere Menschen nicht wahrnehmbaren Schwingungen spüren, die offensichtlich aus der Tiefe des Schachts kamen und die Abdeckplatte durchdrangen.
Roxolay wartete zwei Stunden. Der Höchste Priester hätte längst zurück sein müssen. Schließlich fand sich der ehemalige Meister der Todeszeremonie mit den nicht mehr zu leugnenden Tatsachen ab: Ulban würde nicht mehr kommen; ihm war etwas zugestoßen.
Roxolay verließ die Rotunde und verschloss sie. Er begab sich zu seinem verborgenen Zimmer und von dort aus durch den Geheimgang zu der unscheinbaren Scheune auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Vorerst waren seine Nachforschungen gescheitert.
*
Die schwarzhaarige Frau in dem braun gestreiften Gewand kam Ulban gerade recht.
„Würden Sie mir bitte eine Spitzhacke und einen schweren Hammer besorgen?“, bat er sie.
Die nette Dame mit der schlimmen Narbe im Gesicht nickte freundlich und entfernte sich mit einem „Gerne, Eminenz“, obwohl ein gewisses Erstaunen in ihrem Gesichtsausdruck nicht zu übersehen war.
Ulban öffnete die für den Höchsten Priester bestimmte, jedoch lange Zeit unbewohnte Zimmerflucht. Sein Vorgänger, Saradur, hatte nach seiner Beförderung weiterhin die Räume des Ordenssprechers beibehalten, und dessen Vorgänger, Berion, hatte sich fast nie mehr als ein paar Stunden in Modonos aufgehalten.
Auf dem Tisch stand ein Becher mit klarem Mineralwasser, das noch leicht perlte.
Gedankenverloren trank der Höchste Priester einen Schluck und setzte sich dann an seinen Arbeitsplatz. Kurz darauf klopfte es an der Tür. Ulban verwarf seinen ersten Gedanken, dass die Frau mit den von ihm angeforderten Gerätschaften bereits zurückgekehrt sein könnte. Tatsächlich handelte es sich um einen Mann, welcher in der braun gestreiften Kleidung der Hilfskräfte vor der Tür stand.
„Darf ich eintreten, Eminenz?“, fragte er respektvoll. „Ich habe eine Nachricht für Sie.“
„Kommen Sie herein!“, forderte Ulban ihn auf. „Ich habe jedoch nur wenig Zeit.“
Beim Eintreten warf der Mann einen kurzen Blick auf das Glas mit dem Wasser. Der Höchste Priester bemerkte, dass sein Besucher irgendetwas kaute.
„Mein Name ist Brinngulf Sterndek“, stellte sich der Mann vor. „Ich muss Sie bitten, mich auf einer langen Reise zu begleiten.“
Der Höchste Priester sah ihn an, als zweifle er an seiner geistigen Gesundheit.
„Sie haben wohl den Verstand verloren“, herrschte er den drahtigen Mann mit dem wettergegerbten Gesicht an. „Ich habe hier wichtige Aufgaben zu erfüllen. Verschwinden Sie jetzt!“
Brinngulf Sterndek rührte sich jedoch nicht von der Stelle. „Ich bitte Sie inständig, Ihre Entscheidung nochmals in aller Ruhe zu überdenken“, insistierte er und deutete auf den Wasserbecher. „Geriadis ist das heimtückischste aller Gifte. Seine Wirkung setzt erst nach zehn Stunden ein, aber dann löst es fürchterliche Qualen aus, bevor es zum Tod führt. Wenn es einmal in den Körper gelangt ist, kann man es nie mehr beseitigen. Es gibt lediglich ein Gegenmittel, mit dem die Wirkung immer wieder um zehn Stunden hinausgeschoben werden kann. Ich besitze eine große Menge dieses Gegenmittels.“
Voller Entsetzen blickte Ulban zu dem Becher, aus dem er kurz zuvor getrunken hatte. Die Tür, die einen Spaltbreit offengeblieben war, wurde aufgeschoben. Die schwarzhaarige Frau mit der auffälligen Narbe trat ein. Sie hatte jedoch nicht die Werkzeuge bei sich, die sie besorgen sollte.
„Wir können jetzt gehen“, sagte sie.
„Er ist noch unentschlossen“, erwiderte Brinngulf Sterndek.
Langsam verstand Ulban. „Sie haben das Wasser vergiftet“, warf er der Frau anklagend vor.
„Das ist richtig“, entgegnete sie ungerührt, trat zu dem Tisch und leerte den restlichen Inhalt des Bechers in einem Zug. Dann trocknete sie ihn mit einem Zipfel ihres Gewandes aus und stellte ihn zurück.
„Ich bin immun gegen Gifte aller Art“, erklärte sie. „Ihnen rate ich dagegen dringend, das Angebot meines Bruders anzunehmen.“
Obgleich Ulban zweifelte, folgte er dem sonderbaren Geschwisterpaar. Er war nicht bereit, ein tödliches Risiko einzugehen, noch nicht.
*
Sein langer, blauer Mantel umwehte den Herold, als er mit zwei Pferden am Zügel den Besucher aus Mithrien vor dem Höhleneingang von Sylabit erwartete.
Auch Sestors schwarze Haare wurden beim Verlassen der Höhle vom Sturm erfasst und flatterten wie ein Banner um seinen Kopf. Der Wind heulte so laut, dass der Eisgraf schreien musste, um sich verständlich zu machen.
„Ich bin Sestor“, rief er. „Ich liebe die Stürme von Zogh.“
„Mein Name ist Prandorak“, tönte der Herold und hielt dem Eisgrafen die Zügel eines der beiden Pferde entgegen. „Jetzt bin ich tatsächlich dem ersten Menschen begegnet, der die Stürme von Zogh liebt.“
Trotz der widrigen Witterung lachten beide, während sie auf die Pferde aufstiegen.
„Haben Sie schon etwas in Erfahrung bringen können?“, wollte Sestor wissen.
„Nachdem ich gehört habe, worum es geht, war ich nicht untätig“, antwortete Prandorak. „Ich werde Ihnen unterwegs alles erzählen, Graf Sestor.“
„Nenne mich einfach „Sestor“!“, verlangte der Eisgraf. „Wir werden wohl längere Zeit zusammen reiten. Da sollten wir uns nicht mit Förmlichkeiten aufhalten.“
„Einverstanden“, gab der Herold bereitwillig zurück und trieb sein Pferd an. „Zuerst reiten wir zum Zyggdal-Gebirge. Dort gibt es eine Frau, die als Kind eine Replica gesehen haben will.“
Die erste Rast legten der Eisgraf und der Herold nach drei Stunden ein. Prandorak packte seinen Proviantsack aus und reichte Sestor ein großes Stück dunkel gebackenen Brotes, geräucherte Fleischstreifen und getrocknete Früchte.
„Ich habe mich so sehr nach diesem wundervollen Brot gesehnt“, schwärmte Sestor mit leuchtenden Augen. „Ich hoffe, du hast noch jede Menge davon.“
„Da kannst du beruhigt sein“, erwiderte Prandorak. „Außerdem bekommen wir es auch in den Höhlen. Wenn ich dich so höre, solltest du dir überlegen, nach Zogh umzusiedeln.“
Sestor grinste: „Es würde mir aber schwerfallen, mich zu entscheiden, wo ich hier am liebsten leben würde.“
„Du hast ja jetzt ausreichend Gelegenheit, die Höhlen kennenzulernen“, versprach der Herold. „Aber erzähle mir: Worum geht es eigentlich bei der Suche nach dieser Weißen Frau?“
„Telimur und Königin Quintora glauben, dass diese Frau namens Larradana die Stammmutter der Pylax und deshalb vor den anderen Replicas geflohen ist. So steht es jedenfalls in einer alten Schrift, die nach der Meinung des Königspaars gefälscht wurde“, berichtete Sestor. „In dem Buch steht jetzt, Larradana sei getötet worden. Telimur will beweisen, dass dies eine Fälschung ist, und vor allem will er den Grund für diese Fälschung herausfinden.“
Prandorak schüttelte verständnislos den Kopf: „Wegen eines Buches jagen wir ein Phantom?“
„Ich finde das ziemlich spannend“, grinste Sestor. „Wenn die Geschichte allerdings stimmt, kann es ganz schnell sehr gefährlich werden. Die Weiße Frau soll über ungeheure Kräfte verfügen, wohingegen angeblich meine besonderen Fähigkeiten als Eisgraf in ihrer Gegenwart versagen. Das glaubt jedenfalls Quintora.“
Prandorak wusste, dass Sestor damit den „vernichtenden Blick“ meinte.
„Meine Boten haben die Frau überwacht, die angeblich als Kind von einer Replica gerettet wurde“, berichtete er. „Sie bringt regelmäßig Opfergaben in eine Höhle.“
„Opfergaben?“, sinnierte Sestor. Ein Blick in Prandoraks Augen bestätigte ihm, dass der Herold das Gleiche dachte wie er. Bereits nach einem dreistündigen Ritt hatten sie jahrhundertealte Barrieren durchbrochen und ein wechselseitiges Verständnis entwickelt, das oft keiner Worte bedurfte. Sie bestiegen wieder ihre Pferde und ritten den restlichen Weg durch den „Saum“, die Hügellandschaft in den Ausläufern des Aralt. Am frühen Abend erreichten sie eine kleine Ortschaft am Fuß des Toipengeh, wo ihr Aufstieg in das Hochgebirge beginnen sollte. Dort kehrten sie in einer kleinen Herberge ein. Bei Höhlenbier und einer deftigen Mahlzeit scherzten und lachten die beiden Männer bis tief in die Nacht hinein. Bei ihrem Anblick hätte niemand vermutet, dass sie im Begriff standen, eine Katastrophe auszulösen.
*
Aus dem Bewacher war ein Mann geworden, der nun seinerseits bewacht wurde. Seit vielen Monaten wurde Xaranth in einem geräumigen Kellerraum gefangen gehalten. Dieser Raum gehörte zum herrschaftlichen Landsitz des freien Kapitäns Jalbik Gisildawain auf einem idyllisch gelegenen Hügel der Insel Borgoi. Fenster und Türen des privaten Kerkers waren mit dicken Eisenstäben vergittert. Für den Bewacher der Gruft wären dies keine Hindernisse gewesen, wenn er noch über seine Salastra hätte verfügen können. Er hatte diese schreckliche Waffe jedoch geopfert, um sich selbst zu retten. Xaranth erinnerte sich noch haargenau an die Sekunden bevor der tosende Orkan sein Schiff zerfetzt und ihn über Bord gefegt hatte. In dem Augenblick, als er die Salastra ins Meer fallen ließ, brach er den Jahrtausende alten Schwur. Aber gleichzeitig rettete er damit sein Leben. Nur – was war das nun für ein Leben?
Der Freibeuterkapitän hatte ihn aus dem südlichen Ozean gefischt und hielt ihn seitdem gefangen. Jalbik Gisildawain ahnte, dass der außergewöhnlich große, hagere Mann mit den fremdartigen, gelben Augen etwas Besonderes darstellte. Allerdings war es ihm bisher immer noch nicht gelungen, herauszufinden, wer bereit sein könnte, für seinen unfreiwilligen Gast ein stattliches Lösegeld zu zahlen.
Wenngleich der Kapitän auch nicht die gefährliche Aura spürte, die den Gefangenen umgab, so hatte er sich doch stets bemüht, ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Er besorgte ihm alle gewünschten Speisen und Getränke, soweit dies in seiner Macht stand. Wenn er nicht gerade zur See fuhr, leistete er ihm oft stundenlang Gesellschaft. Dennoch kam es nie zu einem wirklich tiefgründigen Gespräch – nicht bis zu diesem Abend.
„Es geht Ihnen nicht um ein Lösegeld“, behauptete Xaranth. „Das erzählen Sie nur, weil Ihre Mannschaft das hören will.“
„Wie kommen Sie auf diese Idee?“, fragte Jalbik Gisildawain, scheinbar verwundert.
„Nur Menschen streben nach Reichtum“, erwiderte der Bewacher der Gruft. „Sie sind aber keine menschliche Lebensform. In all den Monaten meiner Gefangenschaft und unserer Begegnungen habe ich Ihr Verhalten sorgfältig studiert. Sogar Ihre Augen sind anders als diejenigen der Menschen.“
Es trat eine lange Pause ein. Dann sagte Jalbik Gisildawain: „Sie irren sich zumindest in einem Punkt. Vor Ihnen steht tatsächlich ein Mensch. Nur spricht nicht er zu Ihnen, sondern ich.“
Aus der Brusttasche des Freibeuters krabbelte ein kleines, schwarzes, raupenartiges Wesen. „Die Obesier nennen uns Mon’ghale“, fuhr der Kapitän fort. „Ich nehme an, Sie wollen mir einen Handel vorschlagen.“
„Dazu müsste ich zuerst einmal wissen, womit ich Ihnen überhaupt helfen kann“, belehrte Xaranth mit seiner unangenehm sägenden Stimme den Mon’ghal.
„Für die Fortpflanzung unseres Volkes ist eine Ovaria erforderlich, eine Stammmutter“, erklärte der Mon’ghal durch den Mund des Kapitäns. „Die Gute Mutter in Obesien wurde von einer Eisgräfin getötet. Jetzt gibt es nur noch eine schlummernde Ovaria. Sie ist die Einzige, die den Fortbestand meines Volkes sichern könnte. In Obesien befindet sie sich jedoch in großer Gefahr. Sie muss in Sicherheit gebracht werden.“
Xaranth steckte in einem Dilemma. Solange er die Salastra trug, war es ihm verboten gewesen, Tätigkeiten zu übernehmen, die nicht mit der Bewachung der Gruft und der Goldenen Pforte in Zusammenhang standen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, ob sich daran nun etwas geändert hatte. Dagegen wusste er mit tödlicher Sicherheit, dass er auf keinen Fall einen Fehler begehen durfte. Es gab Mächte in dieser Welt, gegen die selbst ein Bewacher der Gruft völlig hilflos war. Durch seinen Schwur hatte er sich diesen Mächten ausgeliefert, auch wenn er diesen Schwur gebrochen hatte. Es gab weitaus Schlimmeres als dieses Gefängnis.
„Ich brauche drei Tage Bedenkzeit“, sagte er ungewöhnlich leise.
Er wusste nicht, wie seine Entscheidung aussehen würde, und dies erfuhr er auch nie. Die Entscheidung wurde ihm kurz vor Ablauf der selbst gesetzten Frist abgenommen.
*
Die Erregung des Rektors steigerte sich noch mehr als er den Eindruck gewann, dass bei diesem Angriff die Waffen einer Frau sehr gezielt eingesetzt wurden. Und das auch noch von zwei Frauen. Es fiel ihm schwer, seinen Blick von den lasziv übergeschlagenen Beinen seiner beiden Besucherinnen loszureißen. Die ohnehin kurzen Kittel waren im Verlauf des Gesprächs bis zum Ansatz der Oberschenkel hochgerutscht. Was als harmloser Versuch begonnen hatte, die Überzeugungsbildung des Gesprächspartners zu beeinflussen, schien nun in einen Wettbewerb zu münden. Spätestens als auf den markant männlichen Zügen des ebenso charmanten wie gebildeten Rektors dieses gewinnende Lächeln erschien, statt eines lüsternen Grinsens, wurde den Zwillingen erstmals in ihrem Leben bewusst, dass dieses eine Exemplar nicht für zwei Frauen ausreichen würde.
Den Rektor seinerseits plagte das gegenteilige Problem. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, sich auf einen Teil dieses äußerst attraktiven Duos festzulegen.
„Man hat mich gegen meinen Willen zu einer Symbolfigur erhoben“, erklärte er zaudernd. „Wenn ich jetzt nach Modonos ginge, könnte dies den zerbrechlichen Frieden im Osten und auch den Zusammenhalt des Ordens gefährden.“
Die Zwillinge verständigten sich durch einen kurzen Blick. Dann sprach Teralura.
„Es wäre ja nur vorübergehend“, sagte sie mit einschmeichelnder Stimme. „Bis Sie zu einem Abschluss Ihrer Studien gekommen sind.“
„Wenn Roxolays Annahmen zutreffen, werden aber sehr gründliche und langwierige Studien erforderlich sein“, gab Zyrkol zu bedenken. „Man müsste dann versuchen, sämtliche Stellen aufzuspüren, die in den alten Schriften verändert wurden. Die Nachforschungen sollten sich vielleicht nicht nur auf das „Buch der Vorzeit“ beschränken.“
„Aber wer außer Ihnen sollte hierzu imstande sein?“, hielt Orhalura ihm vor. „Sie sind der belesenste Mann des Ordens. Nachdem die Originale verschwunden sind, könnte folglich keiner so viele Ungereimtheiten feststellen wie Sie.“
„Haben Sie auch daran gedacht, dass man versuchen wird, mich in die internen Auseinandersetzungen des Ordens hineinzuziehen?“, fragte Zyrkol. „Wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass Ulban tot oder verschwunden ist, wird es ein Gerangel um das Amt des Höchsten Priesters geben. Ich bin nicht bereit, mich an solchen Auseinandersetzungen zu beteiligen.“ Tief in seinem Inneren wusste der Rektor jedoch, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Er, der immer nach einer Erneuerung des Ordens gestrebt hatte, würde nur allzu gerne bereit sein, eine tragende Rolle in diesen Intrigen zu übernehmen.
„Wir werden Sie abschirmen“, beteuerten die Zwillinge wie aus einem Mund und setzten ihr süßestes und verführerischstes Lächeln auf. Zyrkol atmete tief durch: „Glauben Sie wirklich, dass ich mich dann noch mit der notwendigen Aufmerksamkeit der Aufgabe widmen könnte, die Roxolay mir zugedacht hat?“
Zur gleichen Zeit, als sein Name in Dunculbur ausgesprochen wurde, fasste der Meister der Todeszeremonie in seinem kleinen, unscheinbaren Haus am nördlichen Stadtrand von Modonos einen folgenschweren Entschluss. Er war kein Mann, der tatenlos herumsitzen und warten konnte. Ein erneutes Eindringen in die Rotunde schien derzeit nicht denkbar. Nach dem Verschwinden Ulbans herrschte auf den Gängen des Inneren Zirkels ein hektisches Treiben. Verschiedene Interessengruppen hatten bereits begonnen, über Bündnisse zur Besetzung seines angeblich vakanten Postens zu verhandeln. Gerade Roxolay hätte sich nicht auf den Korridoren um die Rotunde herumtreiben können, ohne bemerkt und ständig angesprochen zu werden. Deshalb beschloss er, sich zu einem anderen Ort zu begeben, einem Ort, dessen frühere Bedeutung ebenso wie diejenige der Rotunde durch eine Fälschung aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit gelöscht werden sollte: Derfat Timbris.
*
Trotz seiner beträchtlichen Leibesfülle und Körpermasse bewegte sich der Ureinwohner wie ein schlanker, pfeilschneller Fisch unterhalb der Wasseroberfläche des gewaltigen Lumbur-Stromes auf das gegenüberliegende Ufer zu. Seitlich versetzt zu den Brücken, die die Inseln miteinander verbanden, schwamm Mulmok bis er die letzte Insel erreicht hatte. Von dieser Insel aus konnte man deutlich das „Tor zu Lumburia“ sehen, zwei Felsnadeln, die selbst die hohen Bäume des umliegenden Regenwaldes überragten.
Er wusste, dass jetzt der schwierigste Teil seines Vorhabens begonnen hatte. Von der letzten Insel aus gab es keine Brücke zum lumburischen Ufer. Früher konnte man dieses Ufer durch eine Fähre erreichen. Diese war jedoch inzwischen längst stillgelegt worden. Obwohl sich die Fähre nicht mehr in Betrieb befand, zweifelte Mulmok nicht daran, dass irgendwo in der Nähe der ehemaligen Anlegestelle der Fährmann lauerte. Sicherlich übte er nunmehr die Tätigkeit eines Wächters aus.
Jedes ungewohnte Geräusch, jede außergewöhnliche Wellenbewegung, konnte verräterisch sein. Mit äußerster Vorsicht näherte sich Mulmok der Rückseite der kleinen Insel, die von der Anlegestelle aus nicht einsehbar war. Behutsam, jeden unnötigen Schwung vermeidend, ließ er sich mehr auf die Sandbank gleiten, als dass er seinen Körper gezielt bewegte.
Mulmok befand sich im Klaren darüber, dass er einen Tabubruch beging, dessen Notwendigkeit er selbst verschuldet hatte. Wieso hatte er nicht bemerkt oder sogar unwissentlich zugelassen, dass Korvinag den Wanderstab Qaromars nach Lumburia zurückgebracht hatte? Während des Kampfes gegen die Weiße Frau in Rabenstein war der Einsiedler klammheimlich verschwunden, um ein törichtes Versprechen einzulösen. Nun musste Mulmok in ein Land eindringen, zu dem man ihm den Zutritt verboten hatte, ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass es als sein Heimatland galt.
Erst als sicher schien, dass der Fährmann seine Ankunft nicht bemerkt hatte, robbte er zu der Anhöhe hinauf, die ihm einen Blick auf die andere Seite des breiten Stroms ermöglichte. Lange Zeit verharrte er völlig regungslos. Auch im Bereich der Anlegestelle war nicht die geringste Bewegung erkennbar. Ein winziger, für menschliche Augen nicht erkennbarer Reflex genügte. Die Augenpaare zweier Ureinwohner hatten ihn sofort erfasst. Eine nur handtellergroße Scheibe, die zwanzig Meter oberhalb des lumburischen Ufers in der Luft mit irrwitziger Geschwindigkeit rotierte, schien in nebelhafter Weise eine Flüssigkeit zu versprühen. Der Fährmann tauchte blitzartig zwischen den Büschen am oberen Rand der Uferböschung hinter dem schmalen Sandstreifen auf. An seinen Lippen lag ein Blasrohr. Mulmok brauchte nicht genauer hinzusehen, um zu wissen, dass er giftige Pfeile auf die kleine Scheibe abschoss. Diese entfernte sich jedoch unglaublich schnell ins Landesinnere. Als Mulmok den Blick von der Stelle löste, an der sie soeben entschwunden war, konnte er auch den Fährmann nicht mehr sehen.