Kitabı oku: «Für ein Ende der Halbwahrheiten»

Yazı tipi:

Edelbert Richter

FÜR EIN ENDE
DER HALBWAHRHEITEN

Korrekturen an unserem Bild von Judentum

und Nationalsozialismus


INHALT

Vorwort

Zur Einleitung: »Enttäuschte Liebe« – Historische Hintergründe von Brexit und Trumps Präsidentschaft

EIN NÜCHTERNER BLICK AUF DIE JÜDISCHE GESCHICHTE

1. Das erwählte Volk

2. Was wir heute Völkermord nennen

3. Was wir heute Rassismus nennen

4. Vom »Segen der Geldleihe« im Mittelalter

5. Der Vorteil, keinen eigenen Staat zu haben

6. Inspiration für das moderne Nationalbewusstsein

7. Privilegierte Hofjuden im Absolutismus

8. Das einflussreichste Finanzhaus Europas

9. Einer der ersten Rassentheoretiker wird zum mächtigsten Mann der Welt

10. Weitere jüdische Vertreter der »Blutsgemeinschaft«

11. Der Zionismus: »typisch deutsch«

12. Der Frontenwechsel des Judentums im Ersten Weltkrieg

13. Zweierlei Boykott und das Haavara-Abkommen

14. Wie der Holocaust instrumentalisiert wird

15. Funktionen des Symbols »Holocaust« seit dem Umbruch der 1970er Jahre

16. Schluss

Exkurs: »In dem Wahne, über alle Maßen mild und mitleidig zu sein…« – Zur jüdischchristlichen Tradition des Heiligen Krieges

NOTIZEN ZUM NATIONALSOZIALISMUS – EIN VERSUCH, DAS UNVERZEIHLICHE ZU VERSTEHEN

A Die Wurzeln: Enttäuschungen, Kränkungen, Versagungen

1. Das Scheitern des proletarischen Internationalismus: nationaler Sozialismus

2. Die Kriegserfahrung: erhöhte Gewaltbereitschaft

3. Die Kriegspropaganda des Westens: Entfesselung des Unbewussten

4. Die unehrenhafte Niederlage: das Ende Deutschlands?

5. Der Versailler Vertrag: Sieger unschuldig, Verlierer schuldig

6. Der Boykott der deutschen Wissenschaft: der Geist als bloßes Mittel

7. Die Entwertung des Geldes: Aufwertung des persönlichen politischen Willens

8. Die weltanschauliche Verunsicherung: trügerischer Traditionalismus

9. Die Weltwirtschaftskrise: unentschiedener Hegemonialkampf und Naturzustand

10. Die Zwangslage zwischen Ost und West: Suche nach einem Dritten Weg

Bilanz der Enttäuschungen

B Bemerkenswertes am Nationalsozialismus

1. Modernismus: Pionier des »Goldenen Zeitalters«

2. Antimodernismus: Pionier des Umweltschutzes

3. Heidegger: das »Andenken an das Sein«

C Fragen zum Weltkrieg

1. Der Überfall auf Polen: Entfesselung des Weltkriegs?

2. Hitler-Stalin-Pakt und »Phoney War«

3. Die Blockade: Eskalation des Krieges

4. Keine willkürlichen Überfälle

5. Das »Unternehmen Barbarossa«: Ende des Rechts, Tiefpunkt des Naturzustands

6. Die USA: der lachende Dritte

D Überlegungen zur Schuldfrage

1. Rückblick

2. Bemerkungen zum Nürnberger Tribunal 1945/46

3. Paradoxien des deutschen Schuldbewusstseins

E Menschheitsverbrechen

1. Nachahmung der angelsächsischen Expansion und des Rassismus

2. Politische Religion und Mord an den Juden

2.1. Geistesgeschichtlich: durch Nietzsche vorbereitet?

2.2. Realgeschichtlich: aus Vernichtungsfurcht

Endnoten

Literatur

VORWORT

Nachdem ich so emphatisch von der deutschen Vernunft gesprochen habe1, drängte sich mir die Frage nach der abgründigen Unvernunft auf, die die Deutschen unter nationalsozialistischer Herrschaft demonstriert haben. Viele Geisteswissenschaftler sind gar der Meinung, durch diese Praxis sei die Vernunft insgesamt in Frage gestellt und im Grunde widerlegt, so dass man sich auf sie gar nicht mehr berufen könne. Angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen könne von einer »guten deutschen Geistestradition« gar keine Rede mehr sein. Diese Meinung ist jedoch schon deshalb unsinnig, weil man Unvernunft nun einmal nicht verurteilen kann, ohne die Vernunft als Maßstab vorauszusetzen. Gerade die deutsche Vernunfttradition des 18. und 19. Jahrhunderts war ja keineswegs nur »deutsch«, am wenigsten in einem national bornierten Sinne, sondern zutiefst universalistisch, die Stimmen anderer Völker und Kulturen »vernehmend«, ja für die Menschheit gedacht. Sie ist von anderen Nationen auch durchaus so verstanden und aufgegriffen worden. Soll das alles nur ein Missverständnis gewesen sein, gar eine Vorbereitung des Dritten Reichs? Wer so quasi-teleologisch argumentiert, gerät leicht selbst in die Nähe des Nationalsozialismus, der die Geschichte ja auch eindimensional auf sich hinzulaufen ließ. Folglich muss man bei der Verwunderung und dem Entsetzen darüber stehen bleiben und ausharren, dass eben genau das Land, von dem einst so bedeutende geistige Impulse ausgingen, im vergangenen Jahrhundert zu einer so brutalen Politik fähig war.

Diese Gefühle steigern sich noch, wenn man sich daran erinnert, dass die große Zeit des deutschen Geistes zugleich den Höhepunkt einer einzigartigen Symbiose mit dem Geist des Judentums darstellte! Man möchte im Boden versinken, wenn man daran denkt, was unsere damalige politische Elite jüdischen Menschen angetan oder an jüdischem Leid zugelassen hat.

Eine umfassende Erklärung ist ebenfalls unmöglich, denn alles zu verstehen, was vorgefallen ist, hieße ja bekanntlich, auch alles zu verzeihen. Oder es hieße, über die Ursachen genau Bescheid zu wissen, das Verbrechen gewissermaßen als Naturvorgang und die Schuldigen als bloße Objekte zu betrachten. Gleichwohl besteht das Bedürfnis nach Erklärung und Entlastung, wovon die Flut der Literatur zum Thema zeugt. Schon um die Schuld genau zu benennen, muss man ja ermitteln, was auf das Konto innerer und was auf das Konto äußerer Ursachen geht. Gegen sie könnte man dann heute etwas tun, um nicht wieder schuldig zu werden.

Auch ich folge diesem Bedürfnis und kann mich weder mit pauschaler Entlastung noch mit pauschaler Schuldzuweisung abfinden. Sich kurzerhand auf die Seite der »Gerechten« zu schlagen, wie es weithin geschieht, setzt aber erstens sehr viel an eigener moralischer Leistungsfähigkeit voraus. Zweitens hat dieses eilige Bekenntnis ja doch bemerkenswert geringe praktische Konsequenzen – es ist den Deutschen in vielerlei Hinsicht wohl noch nie so gut gegangen wie nach diesem Menschheitsverbrechen! Und drittens wird dabei offenbar angenommen, wir hätten nach 1945 in moralisch-rechtlicher Hinsicht gewaltige Fortschritte gemacht. Gewiss hat es zahlreiche Prozesse gegen einzelne Täter gegeben. Doch haben wir es im Kern mit einem Problem des Völkerrechts zu tun und wo wären die in dieser Sache autorisierten Richter? Die Nachfahren der Opfer können Kläger sein, aber nicht Richter, wenn es gerecht zugehen soll. Der heutige Staat Israel ist nicht dadurch gerecht, dass viele seiner Bürger Opfer waren. Der Schuld der Deutschen entspricht auf seiner Seite kein »Guthaben«, über das er verfügen könnte, denn Schuld und Unschuld sind keine Frage der Ökonomie. Kurz: Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind zwar geächtet, aber das Völkerrecht besitzt nicht die notwendige institutionelle Macht, um auch durchsetzbar zu sein. Nach wie vor kann dagegen verstoßen werden, ohne dass Sanktionen zu befürchten wären. Insbesondere die mächtigste Nation der Welt braucht sie nicht zu fürchten und hält den Internationalen Strafgerichtshof entsprechend für eine Farce.

Angesichts dieser Situation ist es gewiss lobenswert, wenn die Deutschen aus eigener Initiative versuchen, für ihre Schuld zu haften, indem sie Israel unterstützen und den Antisemitismus bekämpfen. Das Dumme ist nur, dass Israel es sich als Verbündeter der USA leisten kann, ebenfalls das Völkerrecht zu missachten. Zudem bekämpft es den Antisemitismus in einer Weise, die selbst rassistische Züge trägt. Indem wir Deutschen etwas gegen das vergangene Unrecht tun wollen, sorgen wir also dafür, dass neues Unrecht gedeihen kann. Und indem wir den Antisemitismus bekämpfen, fördern wir zugleich den neuen Rassismus, der in Israel seit den 1970er Jahren zu registrieren ist. So werden wir, gerade indem wir Schuld abtragen wollen, erneut schuldig.

Das ist das Dilemma, in dem wir uns befinden. Da wir uns aus Gründen der »Staatsräson« dieses Dilemma aber nicht eingestehen dürfen, verkünden wir meistens nur Halbwahrheiten über Israel und die jüdische Geschichte und lassen Irritationen unter den Tisch fallen. Diese selektive Wahrnehmung ist zwar auch bei anderen Themen eine verbreitete Methode und wahrscheinlich ist es überhaupt unvermeidlich, dass wir immer nur Ausschnitte der Realität sehen und vieles ausblenden. Hier jedoch ist die selektive Erfassung so offensichtlich und so forciert, dass sie nicht als naiv und zufällig gelten kann.

Im Folgenden möchte ich daher versuchen, den Blick zu erweitern und so der ganzen Wahrheit wenigstens auf die Spur zu kommen. Weil dabei vorwiegend unerfreuliche Seiten der jüdischen Geschichte benannt werden, ziehe ich mir wahrscheinlich den Vorwurf des Antisemitismus zu. Dagegen wird meine Beteuerung, dass ich um ihre erfreulichen Seiten sehr wohl weiß und dass es nur um eine ergänzende Korrektur des offiziellen Geschichtsbilds gehe, wohl nicht helfen. Vielleicht hilft aber der Hinweis, dass der heute vorherrschende Umgang mit dieser Geschichte nun wirklich nichts mit dem nüchtern-kritischen Geist zu tun hat, aus dem heraus im Alten Testament Geschichte dargestellt wird und auch heutige jüdische Autoren schreiben! Auf sie habe ich mich daher auch oft stützen können.

Zudem habe ich mir schon mit meinem letzten Buch den Vorwurf des Nationalismus eingehandelt und er dürfte dieses Mal noch lauter erhoben werden. Aber man kommt als Person wie als Nation aus einer Verfehlung nicht dadurch heraus, dass man kurzerhand behauptet, gar nicht mehr da zu sein, oder gar bekundet, nicht mehr existieren zu wollen. Vielmehr muss eine inhaltliche Umorientierung erfolgen, und die deutsche Tradition ist Gott sei Dank so reich, dass dies auch gelingen kann. Wir sollten also nicht abstrakt von Nation reden, sondern inhaltlich bestimmt: Wozu können und wollen wir uns bekennen und wozu nicht? Damit ist auch schon gesagt, dass nationale Identität nicht als Gegebenheit, sondern besser als Aufgabe zu verstehen ist. Ohne gemeinsame Aufgaben und Ziele lässt man sich treiben, von den jeweiligen Umständen oder von anderen bestimmen. Wer nicht weiß, was er will, dem wird man vorschreiben, was er zu wollen hat, oder er wird zum Spielball irgendeines »Schicksals«.

Das vorliegende Buch formuliert in diesem Sinn auch eine Kritik an der Abhängigkeit des Denkens und politischen Handelns der Deutschen von den USA. Vielleicht trägt der neue amerikanische Präsident dazu bei, dass uns ihre Fragwürdigkeit stärker bewußt wird! Ich erinnere nur an den Kosovo-Krieg, an Afghanistan, aber auch an den NSA-Skandal. Aber diese Kritik ist wiederum keineswegs nationalistisch gefärbt, sondern internationalistisch, da sie von vielen geteilt wird und gegen einen übermächtigen Nationalismus gerichtet ist. Die globale Hegemonie der USA kann nicht ernsthaft mit einer globalen Rechtsordnung verwechselt werden. Um diese aber geht es, für sie sollten die Deutschen sich einsetzen. Denn es ist ein böser Widerspruch, wenn der am meisten Gerüstete und Kriegsbereite den Frieden sichert; wenn der einst entschiedenste und erfolgreichste Protektionist für den freien Handel eintritt; oder wenn das Land mit der stärksten rassistischen Tradition die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte auf seine Fahne geschrieben hat. Zwar mögen manche es als normal ansehen, dass die Macht der Staaten in ihrem Widerstreit nun einmal nur durch eine überlegene Macht gebändigt werden kann. Das ist ja auch der Weg des Herrschaftsvertrags, den Hobbes zu Beginn der Neuzeit gewiesen hat. Aber haben jene, die so denken, sich die Tragweite dessen hinlänglich bewusst gemacht? So heißt es bei Hobbes zunächst auf die Innenpolitik bezogen: »Der Souverän eines Gemeinwesens (…) ist den staatlichen Gesetzen nicht unterworfen. Denn da er die Macht besitzt, Gesetze zu erlassen und aufzuheben, so kann er auch nach Gutdünken sich von der Unterwerfung durch Aufhebung der ihm unangenehmen Gesetze und durch Erlass neuer befreien. (…) Es ist auch nicht möglich, gegen sich selbst verpflichtet zu sein, denn wer verpflichten kann, kann die Verpflichtung aufheben, und deshalb ist einer, der nur gegen sich selbst verpflichtet ist, nicht verpflichtet.«2

Der Souverän darf also morden, stehlen und lügen, d.h. genau das tun, was er seinen Untertanen per Gesetz verbietet, was in seinem Fall aber natürlich einen höheren Sinn hat. So kommt es, dass man die kleinen Verbrecher hängt, die ganz großen dagegen nicht nur laufen lässt, sondern sogar ehrt. Der Souverän muss nicht der gute und weise Richter sein, den wir erwarten, die Hauptsache ist, dass er alle Übeltäter an willkürlicher Gewalt übertrifft. Wenn wir das auf die außenpolitische Ebene übertragen, so brauchen wir uns über das, was die USA sich immer wieder erlauben, also gar nicht zu wundern. Auch die globale Führungsmacht muss nicht glaubwürdig sein und ihrem Missbrauch der Macht sind letztlich keine Grenzen gesetzt.

Es ist das alte Problem der Begrenzung und der Verrechtlichung von Herrschaft, das sich heute in globaler Dimension stellt. Es steht hinter meinen Erörterungen zum Nationalsozialismus, denn der Sieg über den Nationalsozialismus fiel bekanntlich mit dem Aufstieg der USA zum globalen Hegemon zusammen. Wenn dieser Aufstieg aber die Hoffnungen, die sich an ihn knüpften, nicht erfüllt hat, man denke nur an die Vereinten Nationen, so erscheint zunächst das Dritte Reich in einem anderen Licht. Darüber hinaus drängt sich aber die Frage auf, ob der Staat, der über eine historisch so unvergleichliche Macht verfügt wie die USA, nicht auch unser Denken und unser Urteilsvermögen sehr weitgehend prägen kann. Es gibt meines Erachtens kaum eine größere Herausforderung für die Philosophie, als diesem Verdacht nachzugehen.

Ein weiteres, sehr elementares Motiv für dieses Buch besteht darin, nicht dumm sterben zu wollen. Ich weile nun schon fast ein dreiviertel Jahrhundert auf dieser Erde und bevor ich von ihr abtrete, wollte ich doch noch etwas Klarheit darüber haben, was es mit der Schuld des Volkes, dem ich angehöre, auf sich hat. Denn es ist ja ausgerechnet das Volk, von dem die ersten beiden »Weltkriege« ausgegangen sind, Kriege, die wirklich die Menschheit als ganze betrafen und erschüttert haben.

Dass ich kein Fachhistoriker bin, habe ich dabei als Nachteil und als Vorteil zugleich empfunden. Ich musste mich auf die Darstellungen der Fachleute stützen, konnte meist nicht zu den Quellen vorstoßen, sondern hatte schon genug damit zu tun, im Meer der Literatur nicht unterzugehen. Andererseits habe ich von diesen fleißigen Leuten viel gelernt – nicht zuletzt aus den Widersprüchen zwischen ihren Deutungen – und hätte mir ohne ihre Hilfe gar kein eigenes Urteil bilden können.

Zur Einleitung: »Enttäuschte Liebe« – Historische Hintergründe von Brexit und Trumps Präsidentschaft

Es hat sich wohl inzwischen herumgesprochen, dass sowohl der Brexit wie auch Trumps Präsidentschaft mehr bedeuten als einen kleinen geschichtlichen Unfall, dass es sich vielmehr um einen Epochenumbruch handelt. Der Spiegel sprach schon im Januar 2017 von einer »Zeitenwende«, vom »Ende des Westens, wie wir ihn kennen«.3 Die Bundeskanzlerin kam, weil die deutschamerikanische Freundschaft ihr ein »Herzensanliegen« ist, erst Ende Mai zu dem Ergebnis: »Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, sind ein Stück vorbei, das habe ich in den letzten Tagen erlebt.«4 Wobei die charakteristische Formulierung »ein Stück (weit)«, die die Aussage abmildern sollte, leider nicht ins Englische übersetzt werden kann, weshalb die Aufregung darüber in den USA groß war. Joschka Fischer hat dann Ende Juli noch einmal in dieselbe Kerbe gehauen: »Wir sind auf uns gestellt.«5 Er hat darauf hingewiesen, dass es ausgerechnet die Gründungs- und Garantiemächte des Westens seien, die diesen Westen und seine Einheit jetzt infrage stellen.6 Ein zwingender Grund für diese »Selbstzerstörung des Westens« sei ihm bisher nicht eingefallen.

Nun wird es einen zwingenden Grund wohl auch nicht geben, weil in der menschlichen Geschichte nun einmal Entscheidungen eine große Rolle spielen. Aber nach den Gründen oder zumindest Hintergründen müssen wir natürlich fragen, das ist sogar sehr dringlich, wenn wir selbst die richtigen Entscheidungen treffen wollen.

Bevor ich darauf komme, möchte ich zunächst noch an andere Umbrüche erinnern, um die Bedeutung des derzeitigen zu verdeutlichen. Wir können durchaus an die Wende von 1989/90 denken, also das Ende des sogenannten realen Sozialismus und die Wiedervereinigung. Damals traf die Umwälzung den Osten, jetzt trifft sie den Westen, aber als wir Ostdeutsche Revolution machten und dann unseren großen Bruder verloren, waren wir durchaus nicht betrübt. Dagegen scheinen die armen Westdeutschen jetzt irgendwie traurig und ratlos zu sein, weil sie gar keine Veränderung wollen und ihren noch größeren Bruder tatsächlich geliebt haben! Diese Liebe wird von ihm nun enttäuscht. Wie hatte Habermas gesagt? »Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte.«7 Was soll aber nur aus dieser Leistung werden, wenn die politische Kultur des Westens verfällt?

Nach 1989 ging es um die Verwestlichung des Ostens, um die Einführung von Marktwirtschaft und Demokratie. Geht es jetzt etwa umgekehrt um eine Veröstlichung des Westens, um mehr staatlichen Schutz und Autorität? Das ist durchaus möglich. Denn offensichtlich ist die totale Verwestlichung des Ostens nicht gelungen, und selbst wenn sie gelungen wäre, es also gar keinen »richtigen« Osten mehr gäbe, gäbe es ja auch keinen Westen mehr, weil West und Ost in ihrem alten Gegensatz nun einmal aufeinander bezogen sind.

Gehen wir noch 10 Jahre weiter zurück, so kommen wir zur neoliberalen Wende von 1979/80. Mit ihr wurde zwar der Grund gelegt für den Sieg von 1989/90, man sollte aber nicht vergessen, dass ihr die tiefste Krise des Westens seit der Großen Depression vorausging, das Ende der »Goldenen« Nachkriegszeit, während die Sowjetunion sich in den 1970er Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ihres Einflusses in der Welt befand, weshalb in dieser Zeit auch niemand ihren Zerfall für möglich gehalten hätte. Es ist bemerkenswert, dass auch damals England und die USA gemeinsam diese Wende eingeleitet haben, und zwar unter Rückgriff auf ihre spezifisch liberale Tradition und in Abwendung von der europäischen sozialstaatlichen Tradition. Es wird viel zu wenig beachtet, dass auch dieser Prozess bereits eine Distanzierung von Europa war, eine Art Liebesentzug, verbunden mit der Verschärfung des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion, gegen das »Reich des Bösen« (Reagan). Die Europäer hatten damals kein Interesse an dieser Zuspitzung, und die beiden deutschen Staaten schon gar nicht, weil sie im Falle eines begrenzten Atomkriegs zum Schlachtfeld geworden wären. Das ist von Margaret Thatcher auch ganz offen gesagt worden, und zwar mit derselben Begründung, die später von Linken gegen die Wiedervereinigung vorgebracht wurde, mit der ganz und gar illiberalen Kollektivschuldthese: Die Deutschen hätten ja den Zweiten Weltkrieg verschuldet. Der Westen war somit bereit, das »Land der Mitte« um des Sieges über den Osten willen zu opfern. Das entspricht wiederum sehr genau der neoliberalen Doktrin, denn bei Hayek gibt es in Bezug auf die innere Ordnung keine mittlere Position, nur ein Entweder-Oder.

Damit zurück zur Frage nach dem Grund für die Selbstabdankung des Westens, die Joschka Fischer offengelassen hat. Vielleicht kann Fischer den Bruch deshalb nicht erklären, weil er wie viele westdeutsche Intellektuelle auf die Gemeinsamkeiten zwischen Angelsachsen und Deutschen fixiert ist und so die Differenzen gar nicht sehen kann. Liebe macht blind!

Schauen wir auf die unmittelbaren Gründe für den Brexit, so ist doch klar, dass es für viele Engländer schwer zu ertragen ist, einer EU anzugehören, in der Deutschland einen derart maßgebenden Einfluss hat. Man spricht inzwischen wieder von einer deutschen »Halbhegemonie«, ein Begriff, den Ludwig Dehio schon auf das Wilhelminische Reich angewandt hatte.8 Dem Land, das die Briten in zwei Weltkriegen besiegt haben, sollen sie sich jetzt mehr oder weniger unterordnen? Genau deshalb haben sie es doch bekämpft, weil es eine Hegemonie über Europa anstrebte! Ganz abgesehen davon, dass Deutschland durch die Weltkriege dazu beigetragen hat, dass sie ihr Empire verloren. Man kann verstehen, wie schwer das zu verkraften ist, auch wenn die Briten als Pragmatiker gelten. Schon als Großbritannien noch gar nicht der Europäischen Gemeinschaft angehörte und von einer deutschen Dominanz in ihr noch keine Rede sein konnte, hieß es im Evening Standard vom 20.1.1962: »Es gibt eine Verschwörung des Schweigens (…), die die Menschen vergessen machen will, wie der wirkliche Boss in Brüssel heißt, mit seinem ingoutablen Namen, der sich weder weich noch angenehm noch französisch spricht, der vielmehr deutsch ist – kein anderer als Dr. Adenauers vertrauter Kumpan, Professor Walter Hallstein. (…) Was Hitler im Krieg nicht gelang, will Hallstein im Frieden schaffen. (…) Für Adenauer und Hallstein ist kein wirtschaftliches Opfer groß genug, wenn es auf dem Weg zu einer deutsch-kontrollierten politischen Herrschaft über Europa weiterhilft.«9 Der Londoner Historiker John Ramsden urteilt dann über Thatcher, dass zu deren Amtszeit England »mehr offen antideutsche Vorurteile unter den Regierenden erlebte als zu jeder anderen Zeit seit 1945«. Ramsden kommt zu dem Schluss, dass der Sieg über Deutschland »noch immer wesentlich für die Identität der Briten ist und definiert, wer sie sind und wie sie es wurden«.10

Bekanntlich leistete Margaret Thatcher 1990 auch den stärksten Widerstand gegen die deutsche Wiedervereinigung. Gegen Kohls Bemühung, Deutschland fest in die Europäische Gemeinschaft zu integrieren, war ihr Einwand, dabei werde das Gegenteil herauskommen: »Manche Leute meinen, man müsse Deutschland nur in Europa verankern, um zu verhindern, dass sich die Charakterzüge seines politischen Übergewichts wieder durchsetzen. Statt aber Deutschland in Europa zu verankern, haben wir Europa an ein neuerdings dominantes Deutschland gebunden.«11

Im März 1990, wenige Tage vor einem Zusammentreffen mit Kohl, veranstaltete sie sogar ein Seminar mit Historikern, das der Premierministerin Klarheit über den deutschen Nationalcharakter verschaffen sollte. Im Memorandum des Seminars stand als zusammenfassende Einschätzung, dass die Deutschen ängstlich, aggressiv, anmaßend, tyrannisch, egoistisch und sentimental seien und außerdem unter Minderwertigkeitskomplexen litten. Auch Nicholas Ridley, Kabinettsmitglied und ein enger Vertrauter Thatchers, trug nicht gerade zu einer Verbesserung der Beziehungen bei, als er in einem Interview die Währungsunion »als deutschen Schwindel zur Übernahme ganz Europas« bezeichnete.12

Damals gab es also eine Differenz zwischen England und den USA, denn entgegen der britischen Haltung haben die USA die deutsche Einheit durchgesetzt. Für sie hatte der Sieg über die Sowjetunion offensichtlich den Vorrang, für die Briten dagegen das europäische Gleichgewicht.

Nun ist der Brexit durch eine Volksabstimmung beschlossen worden, folglich muss es auch in der Bevölkerung entsprechende Stimmungen geben. Zwar werden wir die Engländer im Allgemeinen als recht freundliche Leute erlebt haben, aber das ist wohl die knappe Hälfte, die gegen die Trennung von Europa gestimmt hat. Daneben gibt es jedoch eine traditionelle Fremdenfeindlichkeit und eine besondere Arroganz gegenüber den Kontinentaleuropäern, von denen Kenner der britischen Szene berichten.13 Ich beschränke mich wieder auf das Verhältnis zu den Deutschen, das der Bundesregierung und der deutschen Botschaft lange schon zu schaffen gemacht hat, ohne dass dies an die große Glocke gehängt wurde. Als die Briten 1977 gefragt worden waren, ob »der Nazismus oder etwas dieser Art« in Deutschland noch einmal Auftrieb bekommen könnte, hatten 23 % mit Ja geantwortet, 61 % mit Nein. 1992 hatte sich das Verhältnis hingegen fast umgekehrt! 53 % antworteten mit Ja, 31 % mit Nein. Ein Leitartikler des Daily Telegraph kam im Mai 2005 zu dem Schluss, dass Großbritannien sechzig Jahre nach dem Tag des Sieges in Europa »eine auf den Zweiten Weltkrieg fixierte Nation ist und immer mehr wird«. Im Juli 2003 veranstaltete das Goethe-Institut in London eine Konferenz, auf der diskutiert werden sollte, wie man das Ansehen der Bundesrepublik aufpolieren könnte. Eine Studie der Programmzeitschrift Radio Times, die in der Woche vor dem Beginn dieser Konferenz veröffentlicht worden war, hatte ergeben, dass im Lauf von nur sechs Tagen nicht weniger als dreizehn Sendungen zu »Themen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg« ausgestrahlt worden waren. 2004 wurden zehn bis sechzehnjährige englische Schüler befragt, was sie mit Deutschland verbinden: 78 % nannten den Zweiten Weltkrieg, 50 % Hitler. Ein Grund dafür wurde erkennbar, als die »Qualification and Curriculum Authority« (QCA) Ende 2005 in ihrem Jahresbericht zu dem Schluss kam, dass der Geschichtsunterricht an höheren Schulen »nach wie vor von Hitler dominiert wird. (…) Es ist zu einer schrittweisen Einengung und Hitlerisierung des Geschichtsunterrichts für Schüler über 14 gekommen«.14 Es scheint also tatsächlich eine latente Abneigung gegenüber Deutschland zu geben, die wir diplomatisch vornehm überspielt haben.

Nicht so ausgeprägt und verbissen wie in England, gab es gleichwohl auch in den USA eine ähnliche Tendenz, die Deutschen auf ihre NS-Vergangenheit festzulegen. Ich erinnere nur an den Bestseller von William L. Shirerüber die angeblich von Hitler geplante Invasion in den USA (1961), an die Holocaust-Serie (1978) oder an Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker (1996). Der Vorwurf ging seit der Wiedervereinigung aber eher dahin, die Deutschen benutzten jene böse Vergangenheit als Vorwand, um sich vor den harten NATO-Aufgaben zu drücken.

Hier knüpft nun Trump an und spitzt die Argumentation zu: Wir sollen mehr für die Rüstung ausgeben und für unsere Sicherheit selber sorgen. Auch die Polemik gegen die deutschen Exportüberschüsse ist nicht neu. Neu ist nur, dass Trump tatsächlich zum Protektionismus zurückkehren will, dass er darüber hinaus den Brexit begrüßt und wie viele Briten folgender Meinung ist: »Im Grunde ist die EU ein Mittel zum Zweck für Deutschland (…). Wenn Sie mich fragen, es werden weitere Länder austreten.«15 Vergleicht man diese Einstellung mit Großbritannien, so erfolgt die Distanzierung der USA von Europa aus einer ohnehin schon größeren Distanz und Überlegenheit. Die USA haben Europa zunächst gegen die Sowjetunion unterstützt, sich aber schon unter Reagan über europäische Interessen hinweggesetzt, unter Bush Jr. dann an der EU vorbei gehandelt und gegen sie polemisiert,16 und sie wollen jetzt die Verpflichtungen, die sich aus ihrer Machtstellung ergeben, möglichst ganz lösen und wieder freie Hand haben.

Das führt uns nun zu den tieferen historischen Gründen bzw. Hintergründen des gegenwärtigen Abschieds der Angelsachsen vom Kontinent und Deutschland. Wenn wir sie ausfindig machen wollen, so sollten wir bis zum Siebenjährigen Krieg (1756–63) zurückgehen, denn in ihm hat sich bekanntlich der Keim des deutschen Nationalstaats herausgebildet, und zwar schon damals in der Mitte zwischen den Flügelmächten in West und Ost. Das Preußen Friedrichs war sozusagen ein Kind der Liebe, zuerst Englands und dann Russlands. Denn mit dem Beginn des Krieges erfasste die Briten eine Begeisterung für Preußen, wie man sie sich heute gar nicht mehr vorstellen kann.17 Im ganzen Land wurden die ersten Siege Friedrichs enthusiastisch gefeiert, besonders der über die Franzosen bei Roßbach Anfang November 1757. Aus Anlass seines Geburtstags im Januar 1758 huldigte man im Parlament und in den Kirchen, in den Kneipen und auf den Straßen dem »preußischen Helden«. Dass er überhaupt »der Große« genannt wird, verdankt er den Briten! Auf Teekannen und Bierkrügen war sein Kopf zu sehen. Die Schiffe schossen Salut, das Militär paradierte zu seinen Ehren, und es gab sogar Freiwilligenverbände, die sich in der »preußischen Disziplin« übten! Die Solidarität mit Friedrich hatte auch Hand und Fuß, denn er wurde finanziell kräftig unterstützt. Was war aber der Grund dieser überschwänglichen Liebe der Engländer? Dass Preußen ihren großen Gegner Frankreich in Europa festhielt und beschäftigte, so dass sie ihn in Indien und Nordamerika besiegen konnten! Preußen diente also als Assistent bzw. Instrument des britischen Weltmachtstrebens, was William Pitt, der damals leitende Minister, recht treffend in die Worte fasste, Amerika sei in Deutschland erobert worden. Entsprechend zahlten die Briten 1761, als der Krieg in Amerika im Grunde entschieden war, an Preußen auch keine Subsidien mehr – obwohl es sich gerade in einer ganz verzweifelten Lage befand. Das war der plötzliche Liebesentzug, der den vorangegangenen Überschwang als trügerisch erwies. Das müssten unsere heutigen Westler eigentlich gut nachempfinden können, auch wenn sie mit Preußen nichts mehr zu tun haben wollen. Preußen wurde nur gerettet, weil 1762 völlig überraschend der neue russische Zar Peter III., ein glühender Verehrer Friedrichs, aus der Koalition gegen Preußen ausbrach und mit Friedrich Frieden schloss. Wir können an Gorbatschow denken, der in den 1980er Jahren als Retter begrüßt wurde – zwar nicht aus einem tatsächlichen Krieg, aber aus der Gefahr eines Atomkriegs, der Deutschland wahrscheinlich vernichtet hätte.

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