Kitabı oku: «Prozess und Philosophie des Helfens», sayfa 3
Soziale Ökonomie: Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung
Alle Kulturen sind von den Regeln des Ausgleichs und der Gegenseitigkeit geprägt, die festlegen, welchen Wert wir uns in Beziehungen beimessen. Was aber sind die sozialen Währungen für diesen Austausch? Die Antwort lautet: Liebe, Aufmerksamkeit, Anerkennung, Akzeptanz, Lob und Hilfe. Hilfe im umfassenden Sinne des Wortes ist dabei eine der wichtigsten Währungen, weil sie besonders geeignet ist, Liebe und andere fürsorgliche Gefühle auszudrücken. Informelle Hilfe gilt häufig als so selbstverständlich, dass wir sie kaum bemerken und selten als solche erkennen. Sie fällt nur auf, wenn sie ausbleibt, und wir reagieren negativ auf die Person, die sie uns verweigert hat. Mit anderen Worten: Bittet jemand um Hilfe, sind wir verpflichtet zu helfen oder eine angemessene Entschuldigung vorzubringen. Und umgekehrt sind wir verpflichtet, ein Angebot zur Hilfe anzunehmen oder eine passende Entschuldigung vorzutragen. Die Bitte erfordert die Reaktion, das Angebot den Dank. Jemanden als nicht hilfsbereit zu bezeichnen, hat eindeutig negative Konnotationen und stellt die Zuverlässigkeit des Betreffenden als Mitglied der Gruppe infrage.
Der Wert, den wir uns und anderen zumessen, wird durch unser soziales Verhalten vermittelt, durch die Entscheidungen, die wir treffen, und das Image, das wir projizieren. Die ungeschriebenen ökonomischen Regeln, die festlegen, wie viel man beanspruchen kann und wie stark man das Image des Beanspruchenden wahren muss, unterscheiden sich je nach Kultur und Umständen, aber die Alltagssprache zeigt deutlich, dass es sich bei der sozialen Interaktion um ein ökonomisches Phänomen handelt.
Die Sprache, die wir alltäglich benutzen, ist verräterisch: Wir schenken Aufmerksamkeit, zollen Respekt, lösen gesellschaftliche Verpflichtungen ein, spenden Lob und zahlen die Zeche. Auch das Konzept von Kauf und Verkauf gehört zum Alltagsvokabular: Wir verkaufen uns unter Wert, kaufen jemandem eine Geschichte ab oder auch nicht und fragen uns sarkastisch, welche Meinung man uns wohl heute wieder verkaufen will. Zahllose Begriffe beziehen sich darauf, wie man gibt und nimmt und diese Transaktionen im Auge behält: Man verlangt, was einem gebührt oder fühlt sich übervorteilt, jemand ist einem die Antwort schuldig geblieben, und wer viel Zeit und Mühe aufgewandt hat, fühlt sich möglicherweise um die Gegenleistung betrogen. Und ganz unabhängig vom Geld leiht man jemandem sein Ohr oder bietet ihm die Schulter zum Ausweinen an. Es gibt zahllose Metaphern für den gesellschaftlichen Austausch: Auge um Auge, Zahn um Zahn, ich habe mit ihm noch eine Rechnung offen, er hat bekommen, was er verdient, eine Hand wäscht die andere, usw.
Wie sehr diese ökonomischen Prozesse verwurzelt und ritualisiert sind, zeigt sich noch in den trivialsten Alltagsinteraktionen. Wenn der Bettler die Münze, die man ihm gegeben hat, nicht anerkennt, fühlt man sich betrogen. Der soziale Ausgleich lässt sich dann entweder dadurch wiederherstellen, dass man psychologisch den eigenen Wert steigert – etwa durch die Bemerkung zu einem Begleiter: »War ich nicht mal wieder großzügig?« – oder den Wert des anderen herabsetzt – etwa mit der Bemerkung: »Was für ein undankbarer Kerl!« Solange die Situation nicht ausgeglichen ist, bleibt ein vages Unbehagen; man will sein Gesicht nicht verlieren, oder, allgemeiner gesagt: das Selbstwertgefühl basiert darauf, dass der andere die Berechtigung des eigenen Anspruchs akzeptiert. Das kann durch eine Körperhaltung geschehen, die Aufmerksamkeit vermittelt, oder auch nur durch ein bestätigendes Nicken.
Dieser anhaltende Prozess wechselseitiger Verstärkung ist das Wesen der Gesellschaft . Was wir als gutes Benehmen oder Manieren bezeichnen, ist im Alltag eine kulturelle Notwendigkeit. Jeder kennt die Spannung, die entsteht, wenn man in einer fremden Kultur die Regeln der wechselseitigen Bestätigung nicht kennt. Regelbrüche, die nicht sofort zurückgenommen werden, führen zu einem Gefühl von Demütigung und Beleidigung. Wer bewusst das Image eines anderen verletzt, demütigt ihn, erregt Anstoß und wird in Zukunft gemieden. Wer ständig gegen diese sozialen Regeln verstößt, gilt als »geisteskrank« und wird eingesperrt. Anders ausgedrückt: Würden diese Regeln nicht mehr beachtet und die wechselseitige Anerkennung bliebe aus, käme es zu einem rasanten Anstieg von Individualismus, Konkurrenz und Brutalität, und die Angst in der Gesellschaft stiege ins Ungeheuerliche.
Um zu verstehen, wie stark diese Regeln sind, reicht ein kleines soziales Experiment: Versuchen Sie einmal, nicht zu reagieren, wenn Ihnen ein Freund oder Partner etwas erzählt – also kein Nicken, keine Mimik, kein Wort. Nach höchstens fünf bis zehn Sekunden wird Ihr Gegenüber Sie fragen, ob irgendetwas los sei, ob es Ihnen nicht gut gehe, ob Sie nicht zugehört hätten, oder Ihnen auf andere Weise zeigen, dass Ihr Benehmen nicht akzeptabel ist. Ihr Verhalten hat das soziale Gefüge zerrissen, und das bedarf einer Erklärung oder Entschuldigung, zum Beispiel: »Tut mir leid, ich habe gerade an etwas anderes gedacht.« Die sozialen Regeln verlangen eine legitime Entschuldigung, ob sie der Wahrheit entspricht oder nicht. Nicht legitim wäre zum Beispiel: »Es interessiert mich nicht, was du zu sagen hast.«
Wenn der soziale Austausch nicht richtig funktioniert, weil die Beteiligten die Situation unterschiedlich definieren und entsprechend unterschiedliche Währungen benutzen, führt das zu Angst, Spannung, Zorn, Unbehagen, Verlegenheit, Scham- und/oder Schuldgefühlen. Das Verhältnis von Geben und Nehmen wird von einem oder beiden Beteiligten als ungerecht empfunden: »Ich bin zu dem Berater gegangen, damit er mir hilft , aber er hat die ganze Zeit nur geredet und ich konnte ihm gar nicht sagen, was ich eigentlich wollte«, oder: »Ich habe eine Menge Geld für die Beratung bezahlt, aber die Beraterin hat mir nur zugehört und mir zurückgespiegelt, was ich gesagt habe – was hilft mir das?« Umgekehrt kann es genauso unangenehm sein, wenn Klienten einen Rat ignorieren oder die angebotene Hilfe ablehnen. Solche Spannungen lassen sich oft nur dann lösen, wenn einer oder beide Beteiligten das Ungleichgewicht bemerken und mit einer Erklärung, einer Entschuldigung oder einem verspäteten Dank für Ausgleich sorgen.
Nähe und Vertrauen
Obwohl die Regeln klar genug sind, hängt es auch von persönlichen Vorlieben ab, wann und wie Beziehungen aufgebaut oder umgangen werden. Wir kennen zwar die Grundregeln des guten Benehmens und halten sie meistens auch ein, treffen aber auch Entscheidungen und haben Präferenzen. Wer ein großes Bedürfnis nach Inklusion und/oder Freundschaft hat, neigt stärker dazu, das zu bestätigen, was andere beitragen, wer zur Dominanz neigt, wird auch in Beziehungen konkurrieren und seine Überlegenheit ausspielen, und wer Wert auf Autonomie legt, vermeidet helfende Situationen nach Möglichkeit. All das sind Varianten im Rahmen der kulturellen Regeln. Wissen muss man aber, dass der grundlegende Mechanismus, mit dem wir Beziehungen aufbauen, vertiefen und testen, aus der bewussten oder unbewussten Manipulation dieser Regeln besteht. In einer distanzierten, unpersönlichen Beziehung gibt es kaum die Möglichkeit, den Anspruch auf ein hohes Maß an Wert durchzusetzen. In intimen Freundschaften oder Paarbeziehungen steigt der Anspruch auf Wert durch die Enthüllung privater Gedanken und Gefühle, deren Anerkennung wir erwarten können. Wir bauen zum Teil auch deshalb intime Beziehungen auf, um Situationen zu schaffen, die durch die Anerkennung und Bestätigung des höheren Anspruchs auf Wert das Selbstwertgefühl steigern.
Gelegentlich testet man Beziehungen, indem man einen hohen Wert beansprucht und die Angemessenheit der Reaktion überprüft . Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man beansprucht einen hohen Status (»Hallo, ich bin Professor Schein vom MIT«) oder man gibt etwas Persönliches, Bedeutungsvollen preis (»Mir geht’s heute wirklich nicht gut« oder: »Ich komme gerade aus der Th erapie«), um zu sehen, ob der Gesprächspartner dies durch verständnisvolles, mitfühlendes Verhalten bestätigt. Diese Bestätigung kommt oft in Form einer persönlichen Mitteilung des anderen. Durch solche Test- und Reaktionszyklen wird dann nach und nach das aufgebaut, was man als enge Beziehung bezeichnet.
Vertrauen heißt in diesem Kontext die Gewissheit, dass der andere die Offenbarung der eigenen Gefühle, Gedanken und Absichten nicht herabsetzt, lächerlich macht oder ausnutzt. Wie das im Alltag funktioniert, zeigen ganz gewöhnliche Unterhaltungen. Verhält sich jemand dabei unaufmerksam, spricht nebenher mit anderen und sucht erkennbar nach interessanteren Gesprächspartnern, gähnt er, unterbricht das Gespräch mit der Bemerkung, er wisse das doch längst, oder antwortet er in desinteressiertem Ton, stört er mit diesem Verhalten den Aufbau der Beziehung, gefährdet das Ansehen des Sprechers, bringt ihn in Verlegenheit und erweist sich als unhöflich oder doch wenigstens einer Beziehung nicht würdig. Diesem Menschen geht man in Zukunft besser aus dem Weg. Wer dagegen aufmerksam ist und auch in anderer Weise sein Interesse zeigt, baut eine Beziehung auf, auf die er später, wenn er selbst etwas zu erzählen hat und vom anderen aufmerksames Zuhören erwartet, Anspruch erheben kann.
Bei der Entscheidung, welche Beziehung wir fördern wollen und welche nicht, greifen wir auf die Kenntnis der Regeln und die eigenen frühen Erfahrungen zurück. Wenn man wiederholt die Erfahrung gemacht hat, dass mit einem bestimmten Menschen ein ausgeglichenes Gespräch nicht möglich ist, baut man keine Beziehung zu ihm auf, sondern vermeidet das Unbehagen, indem man ihm aus dem Weg geht. Ist das aus beruflichen oder anderen Gründen nicht möglich, hält man sich an die kulturellen Regeln für höfliches, aber förmliches Verhalten. Jeder hat gelernt, wie man den Wunsch nach Förmlichkeit und Distanz bzw. nach größerer Nähe signalisiert. In jedem Fall entscheiden, ob bewusst oder unbewusst, Gleichheit und Fairness darüber, wie man sich in der Beziehung fühlt und ob und wie weit man sie vertiefen will.
Die Tiefe einer Beziehung definiert sich also danach, wie viel Wert man gefahrlos beanspruchen kann, wenn man sich öffnet. In diesem Kontext bedeutet Vertrauen den Schutz des Selbstwertgefühls, denn in einer tiefen Beziehung ist die Gefahr größer, ausgenutzt, ignoriert, herabgesetzt oder in anderer Weise nicht bestätigt zu werden.
Ein nicht gleichberechtigtes Gespräch kann beleidigend wirken. Man ist beleidigt, weil der beanspruchte Wert nicht anerkannt wurde; der Gesprächspartner hat nicht begriffen, wer man ist und wie wichtig (jedenfalls nach eigener Einschätzung) die Botschaft war. Bei neuen Beziehungen ist deshalb Vorsicht geboten; die Regeln der Gegenseitigkeit und Ausgeglichenheit müssen geklärt und eingehalten werden. Die förmlichste Annäherung ist deshalb in der Regel auch die sicherste. Das erklärt auch das extreme Maß an Förmlichkeit in der internationalen Diplomatie – das Risiko einer Beleidigung zwischen Staaten ist einfach zu groß. Förmlichkeit schützt beide Parteien vor Affronts. Allerdings hängt auch das von der Situation ab. Wenn ich mich einem alten Bekannten gegenüber sehr förmlich verhalten, weil mir sein Name nicht mehr einfällt, wird er beleidigt sein, weil ich ihn vergessen habe. Die Erinnerungslücke könnte also sehr peinlich werden. Wer Hilfe anbietet, erwartet eine von zwei Reaktionen: Annahme mit anschließender angemessener Belohnung oder dankende Ablehnung. Nicht zu reagieren ist nicht erlaubt – ein Hilfsangebot muss entweder dankbar angenommen oder sofort mit einem höflichen Dankeschön bzw. einer Erklärung abgelehnt werden. In beiden Fällen muss damit umgegangen werden. Jeder hat zu beurteilen gelernt, welche Reaktion in einer bestimmten Situation angemessen und fair ist. Selbst wenn ich keine Hilfe brauche, kann ich sie von meinem Chef annehmen, wenn andere dabei sind und die Situation das verlangt. Bin ich aber mit ihm in der Kneipe und er signalisiert, dass Förmlichkeit nicht verlangt ist, kann ich das Angebot mit einem schlichten »Nein, danke« ablehnen. In der japanischen Kultur ist es üblich, dass Angestellte ihrem Chef in der Bar all das sagen können, was im nüchternen Zustand oder am Arbeitsplatz eine Beleidigung und ein Angriffauf das Image wäre, hier aber als Feedback gewertet wird.
Fassen wir zusammen: Vertrauen hat zwei Komponenten, die sich aus der sozialen Ökonomie ableiten. Jemandem zu vertrauen, heißt erstens, dass der Wert, den man in Interaktionen mit diesem Menschen beansprucht, verstanden und akzeptiert wird, und zweitens, dass man vom anderen nicht übervorteilt und ausgenutzt wird. In allen Beziehungen spiegelt das Niveau der Intimität das Vertrauen, dass die Beteiligten über ihre Mitteilungen erworben haben. Diese wechselseitige Prüfung setzt sich fort, bis einer oder beide erkennen, dass alles, was sie über das aktuelle Niveau hinaus mitteilen, wohl nicht mehr verstanden und akzeptiert würde. Verstößt einer der Beteiligten gegen die zweite Komponente und nutzt das ihm Anvertraute dazu, den anderen in Verlegenheit zu bringen oder aus dem Wissen Profit zu schlagen, ist das Vertrauen verloren; entweder ist die Beziehung zu Ende oder die Kommunikationsebene kehrt zur Oberflächlichkeit des Anfangs zurück.
Ich habe zum Beispiel erlebt, dass ein Freund, dem ich sehr persönliche Dinge anvertraut hatte, eine meiner Geschichten in ausgesprochen herabsetzender Weise anderen erzählte. Danach war mir die Ebene der Intimität, die wir vorher erreicht hatten, nie mehr möglich. Und ich weiß von einer Consultingfirma, die den Auftrag einer Schule, in der sie sehr erfolgreich gearbeitet hatte, verlor, weil ein Lehrer gehört hatte, wie einer der Berater zum anderen sagte: »Ein interessantes Projekt, aber die Lehrer sind ja wirklich ziemliche Dummbeutel.«
Soziales Theater
Die oben beschriebene soziale Ökonomie spiegelt das kontinuierliche Schauspiel des Lebens. Schauspiel deshalb, weil die Situationen durch Regeln bestimmt werden, die Schauspieler und Zuschauer als angemessen empfinden. Die Skripten für Rollenbeziehungen werden sehr früh festgelegt, und das Alltagsleben lässt sich als Set von Szenen verstehen, in denen wir das angemessene Verhalten durchspielen. Wir zeigen durch unser Spiel, wie viel Wert wir für uns in Anspruch nehmen und dass wir unsere Rollen, ob als Schauspieler oder Zuschauer, im alltäglichen Fluss sozialer Aktionen beherrschen. Auch hier zeigt die Alltagssprache, wie weit die Metapher des Theaters unser Denken prägt.
Zahlreiche Wörter und Wendungen verweisen auf das Theaterspiel. Man gibt jemandem ein Stichwort, hat bei einer Konferenz seine Rolle gut gespielt, mag die Rolle nicht, in die man auf einer Party gedrängt wird, oder entwirft ein Szenarium. Weit weg von jedem Schauspielhaus bewundern wir einen perfekten Auftritt, loben die perfekte Gastgeberrolle und sind verstimmt, wenn wir merken, dass uns jemand Theater vorspielt. Wir finden, jemand habe eine ziemliche Schau abgezogen oder einem anderen die Schau gestohlen, fallen selbst aber auf das Th eater nicht herein. Und wir setzen uns in Szene, bewundern die gelungene Inszenierung eines politischen Coups und brauchen mal wieder Szenenwechsel, wollen aber keinesfalls eine Szene machen. Wir soufflieren einem Freund, übernehmen bei der Konferenz die Regie – und fragen uns, was sich wohl hinter den Kulissen abspielt.
Die erste und wichtigste Rollenbeziehung ist die zwischen Eltern und Kind. Wir lernen früh, wie man sich unterordnet, sich durchsetzt, obwohl man weder Macht noch Autorität besitzt, und, was am wichtigsten ist, wie man Autoritätspersonen gibt, was sie für eine ausgeglichene Beziehung brauchen. Das üben wir unser Leben lang, weil es immer Menschen gibt, die uns überlegen sind. Beim Heranwachsen lernen wir den richtigen Umgang mit Gleichaltrigen und Unterlegenen, und wenn wir erwachsen sind, werden wir selbst Eltern. Der Soziologe Erving Goffman (1967) hat das als Regeln für »Ehrerbietung und Benehmen« bezeichnet. Als Kinder und Untergebene lernen wir Ehrerbietung, als Eltern und Chefs, wie wir auft reten müssen, um den Respekt der Untergebenen zu gewinnen und zu bewahren. Die Regel zum Beispiel, dass Angestellte einen Vorgesetzten nie unterbrechen sollten, gilt umgekehrt nicht. Von einem Mitarbeiter wird im Gespräch mit dem Vorgesetzten erwartet, dass er sein Interesse durch aufmerksame Haltung und sein Verständnis durch bestätigendes Nicken zeigt, von einem Vorgesetzte erwartet man, dass er sich durch autoritatives und klares Verhalten den Respekt der Untergebenen sichert.
Mehrdeutige oder missverständliche kulturelle Regeln können tragische Folgen haben. In den südafrikanischen Goldminen zum Beispiel bestraft en weiße Manager schwarze Arbeiter, die ihnen »nie in die Augen sehen konnten«, wegen Aufsässigkeit und Unzuverlässigkeit, weil sie nicht wussten, dass es in den Stämmen, aus denen die Arbeiter stammten, als Zeichen der Respektlosigkeit und völlig unannehmbar galt, Blickkontakt zu einer Person mit höherem Status aufzunehmen.
Ein anderes Beispiel sind Dresscodes: Angestellte können sich relativ formlos, Chefs müssen sich relativ förmlich anziehen – sie sind einer Art Uniformzwang unterworfen. Aber bei einer Konferenz, bei der der Chef anwesend ist, gebietet es der Anstand, sich ebenfalls förmlich zu kleiden. Es zählt zu den wichtigsten Bereichen des sozialen Lernens, wann und wie man Respekt zeigen muss. Wir lernen auch, dass ein Chef, der sich nicht förmlich kleidet, die formelle Status-Distanz verringern will. Wird das nicht durch andere egalitäre Verhaltensweisen, ergänzt, sind meist Spannungen die Folge, weil die Mitarbeiter glauben, der Chef wolle die größere Nähe irgendwie ausnutzen. Die öffentliche Diskussion über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz hat diesen Aspekt der Regeln für Ehrerbietung und Benehmen sichtbar gemacht. Ein Klaps auf den Hintern, eine Umarmung oder ein schmutziger Witz über die Geschlechter- und Statusgrenzen hinweg führen oft dazu, dass sich die Betroffenen nichtgleichberechtigt und ausgebeutet fühlen.
Je höher der Status, desto förmlicher und starrer die Verhaltensregeln. Führungskräft e haben zum Beispiel auch deshalb ihre eigene Toilette, weil ihnen das einen Ort gibt, um sich vor der Begegnung mit ihren Untergebenen zu sammeln. Zudem unterstreicht dieses Privileg die Vorstellung vom sozialen Wert, der mit dem Status verbunden ist – je höher der Wert, desto sakrosankter die Person. Heute, zu einer Zeit, in der Managern klischeehaft fast schon übermenschliche Eigenschaft en zugeschrieben werden, erwartet man einfach nicht, Superman auf der Angestelltentoilette zu treffen.
Über die größere Förmlichkeit hinaus sind Autoritätspersonen weiteren Regeln unterworfen. Bei Kindern ist der Spielraum dessen, was als angemessenes Verhalten gilt, sehr viel größer als bei Eltern und Vorgesetzten. Man ist zum Beispiel häufig schockiert, wenn ein Würdenträger in einer informellen Situation aus der Rolle fällt und zum Beispiel flucht oder Dummheiten macht.
Harris (1967) hat in seinem klugen Buch Ich bin ok, du bist ok darauf hingewiesen, dass wir uns im Erwachsenenalter in bestimmten Situationen zwischen den Rollen »Kind«, »Erwachsener« oder »Eltern« entscheiden können, weil wir all diese Rollen im Leben gelernt haben. Wir wissen, wie man sich »kindlich«, »autoritär« oder »altersgerecht« verhält. Für welche Rolle wir uns entscheiden, hängt oft von vorgefassten Meinungen über die Beteiligten, ihre Persönlichkeitsmerkmale und ihren Status ab. Reagiert jemand zum Beispiel väterlich und spricht von oben herab zu mir, scheint mir vielleicht ein kindliches, das heißt passiv-aggressives Verhalten angebracht, auch wenn rückblickend ein erwachsener Umgang mit der Situation für beide Seiten effektiver gewesen wäre.
Müsste dann Helfen – echtes bewusstes Helfen – im besten Fall nicht eine Aktivität zwischen Erwachsenen sein, das heißt eine a priori ausgeglichene Beziehung, ungeachtet aller formellen Rang- und Statusunterschiede? Wer in der Rolle des Kindes bzw. des Erwachsenen hilft, begibt sich in eine überlegene bzw. unterlegene Position, und das kann den Prozess in vieler Hinsicht verzerren. Hilft ein Elternteil einem Kind, spricht man normalerweise nicht von helfendem, sondern von »väterlichem« bzw. »mütterlichem« Verhalten. Vielleicht sollte man sich einmal fragen, ob »erwachsenes« Helfen nicht andere und möglicherweise bessere Ergebnisse brächte. Mit anderen Worten: Die Eltern könnten auf die Bitte eines Kindes um Hilfe bei den Schulaufgaben (in der Rolle des Erwachsenen) mit der Frage reagieren: »Was macht dir Probleme?«, statt eine Variante der Elternrolle zu spielen und zu sagen: »Lass mal sehen – aha, das geht so.« Und wie nennt man es eigentlich, wenn ein Kind den Eltern hilft? Es gibt wunderbare Geschichten von Kindern, die sich um ältere Verwandte kümmern, aber wir betrachten ein solches Verhalten meist als Ausnahme und erwarten es nicht. Wir sagen einfach, diese Kinder seien sehr reif (mit anderen Worten: erwachsen).
Allgemein gilt: Agiert der Helfer in der Elternrolle, empfindet der Klient das als herablassend, agiert der Helfer in der Rolle des Kindes, wird der Klient verwirrt und fragt sich, ob die Rollen nicht vertauscht worden sind. Es gibt im situationsabhängigen Verhalten auch kulturelle Varianten, auf die ich in der Beschreibung dieser Dynamik noch nicht eingegangen bin. Ich habe zum Beispiel bei einem Beratungsprojekt in einer europäischen Niederlassung von Exxon beobachtet, dass die Manager bei Reisen in die USA regelmäßig zwei verschiedene Outfits dabei hatten – den formellen dunklen Anzug für die Mutterfirma in New York und Jeans, Stiefel und offenes Hemd für die Filiale in Texas. In Start-ups im Hightech-Bereich hat man oft den Eindruck, es gebe in diesen neuen Firmen gar keine formellen Regeln für Ehrerbietung und Benehmen; tatsächlich sind sie aber nur anders. Ich weiß von einem Start-up, in dem der Status dadurch bestimmt wurde, wie weit jemand seine Ärmel aufk rempelte. Die Kommunikation wirkt in diesen Unternehmen oft ausgesprochen lässig, aber auch hier müssen neue Mitarbeiter lernen, was im Gespräch mit den höherrangigen Ingenieuren oder Soft wareprogrammierern erlaubt ist und was nicht.
Auch die Persönlichkeit, und hier vor allem das Abhängigkeitsbedürfnis, bestimmt, zu welchen Rollen man in bestimmten Situationen neigt und wie sie gespielt werden. Für einen abhängigen Menschen kann zum Beispiel eine Beziehung gleichberechtigt sein, in der andere die Führungsrolle übernehmen, während jemand, der auf Unabhängigkeit Wert legt, sie nur dann als gleichberechtigt betrachtet, wenn seine Opposition akzeptiert und respektiert wird. Es ist wichtig, sich und seine Neigungen zu kennen, denn sie legen fest, ob man eine entstehende Beziehung als fair und gleichberechtigt empfindet.
Und nicht zuletzt hängt die Spielart der Regeln auch von der gesellschaft lichen Funktion ab, die eine Beziehung in einer bestimmten Situation hat. Es gibt viele kommerzielle Aktivitäten, bei denen die Beziehung zum anderen – meist ein Verkäufer oder Sachbearbeiter – formal, unpersönlich, emotional neutral und sehr spezifisch auf den Hauptzweck der Interaktion ausgerichtet ist. Hier erwartet niemand Nähe, wohl aber spielt Vertrauen eine Rolle, denn die Interaktion bietet wenig Hinweise auf die Zuverlässigkeit des anderen. Die Frage: »Kann ich Ihnen helfen?« signalisiert im Laden den Versuch, den Kunden vom Verkäufer abhängig zu machen, der wiederum selbst von dessen Entscheidungen über Kauf bzw. Kaufverzicht abhängig ist. Die meisten kennen die Gesprächseröffnung beim Autokauf – es handelt sich oft um eine Art rituellen Tanz, bei dem entschieden wird, wer von wem abhängig ist. Effektives Verkaufen basiert darauf, Bedürfnisse oder Wünsche des Kunden herauszufinden, die durch das zu verkaufende Produkt befriedigt werden können. In diesem Sinne wird aus dem Verkauf tatsächlich eine Hilfe; die Rolle des Verkäufers besteht darin, den Käufer zur Kundenrolle zu verführen.
Anders ist es bei Dienstleistungen: jemand braucht einen Haarschnitt, eine Maniküre, eine Massage oder sonst eine Leistung, die einen physischen Kontakt erfordert. Der Kunde hat ein spezifisches Bedürfnis, die Rolle des Helfers ist klar definiert, aber begrenzt. Die Beziehung bleibt in gegenseitigem Einverständnis formal und emotional distanziert, weil dem Helfer der physische Kontakt zum Körper des Klienten gestattet ist, ohne dass eine intime Beziehung existiert. Ist die Leistung zufriedenstellend, kann sich eine weniger förmliche Beziehung entwickeln, etwa zu einem Lieblingsfriseur oder dem persönlichem Trainer.
Komplexer wird es in einer Situation, in der es um spezifischere oder sehr persönliche Bedürfnisse geht, etwa wenn man den Rat eines Anwalts, Arztes, Finanzberaters, Priesters oder Th erapeuten braucht. Sie ist zunächst formal, aber man macht sich verletzbar, weil man dem Helfer umfassendere Sachkenntnis zuschreibt. In der Verkaufs- oder Dienstleistungsbeziehung hat der Kunde den höheren Status, denn er kann die Situation problemlos beenden; in der vom Kunden initiierten formellen helfenden Beziehung hat der Helfer aufgrund seiner Sachkenntnis höheren Status und mehr Macht. Deshalb brauchen solche Helfer nicht nur eine gründliche Ausbildung, sondern auch eine Zulassung oder Approbation und sind an professionelle Standards und Ethik gebunden. Weil professionelle Helfer in einer Position sind, in der sie den Klienten ausnutzen und übervorteilen könnten, unterliegen sie formellen Regeln und eigenen inneren Standards. Wie wir noch sehen werden, klammern sich Klienten deshalb oft an die Illusion, sie hätten den gleichen oder sogar einen höheren Status als der Helfer, weil sie ihn ja bezahlen. Sie leugnen ihre Verletzlichkeit, um das Gesicht zu wahren.
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