Kitabı oku: «Fräulein Rosa Herz», sayfa 4

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Siebentes Kapitel

Herrn Lanins Neuer war wirklich angelangt. In einer offenen Post-Chaise hielt er um sieben Uhr abends vor dem Laninschen Hause. Drei Koffer, elegant mit Leder überzogen, waren vor ihm aufgetürmt. Er selbst trug einen grauen Staubmantel. Ganz wie Herr Herz es seiner Tochter berichtet hatte.

Herr Lanin befand sich gerade in seinem Studierzimmer, dem geachtetsten Gemache des Hauses. Die Fenster, die auf den Hof hinausgingen, standen offen, und ein kräftiger Stallgeruch strömte herein. Das Gemach selbst hatte ein strenges, ernstes Aussehen. Die Wände waren mit blankem holzfarbenen Papier beklebt. Ein einziger Lehnsessel und ein einziges Rohrstühlchen befanden sich in dem Gemach, und beide standen vor dem Schreibtisch. Auf dem Lehnsessel saß Herr Lanin, auf dem Rohrstühlchen Conrad Lurch. Herr Lanin war eben dabei, Conrad Lurch zu kontrollieren. Er setzte einen Kneifer mit großen runden Gläsern auf die Nase und beugte sich über ein schmales Buch, langsam mit dem Finger die Zahlenreihe hinabfahrend. Lurch machte ein sehr freundliches Gesicht; er lachte sogar, aber diese Freundlichkeit war seltsam starr, dieses Lächeln unnatürlich stetig und gekniffen. Es schien, als sei dieses Lächeln, einst vielleicht lustig und gewöhnlich, alt geworden; man hatte vergessen, es fortzuwischen; nun stand es eingetrocknet und eingerostet auf dem gelben Gesicht.

»Schweizer Käse!« rief Herr Lanin und blickte auf. »Ja – Schweizer Käse«, erwiderte Lurch höflich. Der Prinzipal aber lehnte sich zurück und sah vor sich hin auf die Wand. An der Wand hing, in goldenem Rahmen, Herrn Lanins Bild. Dort trug er weiße Hosen und einen schwarzen Rock. in der einen Hand hielt er seinen Hut, die andere legte er wohlwollend auf ein Album, das neben ihm auf einem Tischchen lag. Rechts hing das Bild der Frau Lanin, auf dem der Glanz des schwarzen Seidenkleides auf dem runden Leibe der Dame vortrefflich wiedergegeben war. Neben ihr stand wiederum das Tischchen, und das Album lag unbeachtet darauf. Links hing das Bild von Fräulein Sally im weißen Kleide, mit nackten Schultern, die Hände hielt sie im Schoß gefaltet und schielte nach dem Album, das neben ihr auf dem Tischchen lag.

»Schweizer Käse!« fuhr Herr Lanin auf »Jetzt hab ich's. Vor vier Wochen kam der Vorrat. Genau! Können Sie das widerlegen, Lurch?«

»Nein, Herr Prinzipal – nein.«

»Gut! Warum sagen Sie denn, der Vorrat – der Vorrat, der vor vier Wochen ankam – seien Sie so gut und lassen Sie diesen Umstand nicht aus den Augen – dieser Vorrat also – sei zu Ende. Warum? Sagen Sie nur, warum?«

Herr Lanin lächelte und schaute Lurch scharf an.

»Ja, Herr Prinzipal, er ist aber doch zu Ende«, antwortete Lurch sentimental. Herr Lanin lachte wieder; er war seiner Sache zu gewiß. Er setzte sich zurecht, nahm den Kneifer von der Nase, drückte die Augen zusammen, als gelte es, scharf zu denken: »Sagen Sie das doch nicht! Gehen wir systematisch vor. Wollen Sie so gut sein und auf meine Fragen antworten, nur das, Lurch; so kommen wir am schnellsten ins reine. Eine Partie echten Schweizer Käses – eine Partie inländischen Käses niederer Qualität und eine erster Qualität langten vor vier Wochen an. Gut! Kann der echte Schweizer Käse jetzt schon alle sein? Darauf kommt es an!«

»Herr Prinzipal brauchen nur die Posten durchzusehen. Es stimmt«, entgegnete Lurch mit halsstarriger Freundlichkeit.

»Posten? Lassen Sie das. Meine Frage, Lurch; nichts weiter.«

»Der Käse ist alle, der Baron Poddor hat sehr viel holen lassen; bei Kollhardts hat man viel verbraucht. Überhaupt weiß ich nicht, was die Leute in letzter Zeit mit dem echten Schweizer Käse machen. Vom inländischen erster Qualität ist noch die ganze Partie da.«

»Zur Sache!« drängte Herr Lanin.

»Ja – mehr – Herr Prinzipal – –«

»Sancta simplicitas! Sie verstehen mich nicht. Warten Sie, ich will es aus Ihnen heraus entwickeln. Sie sprechen von Kollhardt, vom Poddor – was will das sagen. Merken Sie auf. Ich nehme an: Verlangt wird x und z – verstehen Sie, nur x und z. Ich lasse gleiche Quantitäten von x, von z und noch von y kommen, das fast so gut wie z ist. Also – sagen Sie mir, warum lasse ich auch y – immer noch die Annahme – kommen?«

Lurch blickte vor sich nieder.

»x, y und z –« wiederholte der Prinzipal und lächelte. – »Nehmen Sie sich Zeit.«

»z?« fragte Lurch.

»Ja; x, y und z.«

Lurch bewegte lautlos die Lippen; endlich stieß er ein heiseres »Ja« aus.

»Haben Sie's?« fragte Herr Lanin.

»Ja – ich meine«, begann Lurch vorsichtig. »Wenn jemand käme und verlangte y – –«

»Ei, ei!« unterbrach ihn Herr Lanin. »Was machen Sie für Sachen! Es ist nicht zu glauben.«

Lurch senkte wieder den Kopf und rechnete. Er hätte die Lösung schwerlich gefunden, und es war ihm lieb, daß die Türe stürmisch aufgerissen wurde und Fräulein Sally in sehr hoher Stimmlage in das Zimmer hineinrief: »Papa! Er ist da.«

»Wer?« fragte Herr Lanin verstimmt.

»Komische Frage! Der Neue natürlich«, erwiderte seine Tochter.

»Ah!« Herr Lanin erhob sich.

»Gehen Sie, Lurch. Ich muß fort. Sie werden nie rechnen lernen.«

Mit diesen Worten eilte er auf den Flur hinaus. Dort fand er seinen Neffen, der dem kleinen Dienstmädchen mit sehr lauter Stimme Befehle wegen des Hereinschaffens der Koffer gab. Als er Herrn Lanin erblickte, ging er auf ihn zu und rief, ein wenig durch die Nase: »Ah! Sie sind wohl der Onkel?«

»Allerdings! Allerdings!« erwiderte Herr Lanin und streckte dem jungen Mann mit einem feinen, geistreichen Lächeln beide Hände hin: »Du erkennst mich nicht? Natürlich! Es ist lange her, seit ich bei euch war. Warte! – Es sind fünfzehn Jahre – ganz recht – fünfzehn Jahre. Ha ha! Eine hübsche Zeit. Wie geht es zu Hause?«

»Ich danke, der Alte hat mir Grüße für Sie und die Frau Tante aufgetragen. Mütterchen kränkelt ein wenig.«

»So – so! Lege nur ab , dann stelle ich dich meiner Familie vor.«

Die Familie stand an der halb angelehnten Türe und musterte den Ankömmling. Als Ambrosius Tellerat und Herr Lanin sich anschickten, in das Wohnzimmer einzutreten, stürzte die Familie an das andere Ende des Gemaches und griff nach gleichgültigen Dingen.

»Da bringe ich euch den neuen Vetter«, sagte Herr Lanin und schlug seinem Neffen jovial auf den Rücken.

»Willkommen, willkommen«, rief Frau Lanin, und das breite, weiche Gesicht, der zahnlose, elastische Mund drückten viel süße Freundlichkeit aus.

»Hm – Frau Tante – viele Grüße«, begann der junge Mann, aber Herr Lanin unterbrach ihn: »Meine Tochter«, sagte er und deutete auf Fräulein Sally, die mit gesenkten Wimpern an ihrem Arbeitstische stand. Ambrosius stieß wiederum ein heftiges »Hm« aus, wippte zweimal auf seinen Füßen auf und ab und machte eine tiefe Verbeugung. Fräulein Sally verbeugte sich auch ihrerseits, schlug die Augen auf und sagte: »Mein Herr« – ganz wie die Salondame im Lustspiel für Liebhabertheater.

»So!« versetzte Herr Lanin. »Also – nochmals willkommen!« Onkel und Neffe schüttelten sich verbindlich die Hände; dann meinte Herr Lanin, die Damen würden dem Reisenden wohl eine Erfrischung anbieten wollen. Fräulein Sally ergriff auch, in netter Wirtschaftlichkeit, eine weiße Schürze und suchte nach Schlüsseln. Die andern setzten sich an einen runden Tisch, mit dem Entschluß, sich zu unterhalten. Ambrosius legte ein Bein über das andere, räusperte sich und beugte sich leicht vor, als wollte er etwas Angenehmes sagen. Obgleich er nichts Ungewöhnliches tat, so hatten seine Bewegungen doch etwas Gesuchtes, aber gewiß nichts vergeblich Gesuchtes. Ambrosius war ein hübscher junger Mann mit einer schlanken, gutgebauten Gestalt, der ein dunkler Anzug nach der letzten Mode gut ließ. Seine Züge waren regelmäßig, die Nase scharf geschnitten, die Lippen leuchtend rot und zu einem angenehm jugendlichen Lächeln bereit, die Augen hart braun und sehr glänzend. Über der hohen Stirn türmte sich gelocktes, dunkelblondes Haar, sorgfältig über den ganzen Kopf gescheitelt und wohlriechend.

«Ambrosius wird sich hier hoffentlich glücklich fühlen«, begann Frau Lanin, »hoffentlich.« Sie blickte dabei ihren Gemahl, dann Ambrosius an. Die ganze gewichtige Gestalt der alten Dame, die langsamen Bewegungen, die Augen, die Nase, der Mund, die Fülle weichen, schlaffen Fleisches, die leise Stimme – alles atmete Milde, alles an ihr war sanft wie Fett, süß wie Honig.

»Gewiß, o gewiß!« erwiderte Herr Lanin und zerteilte die Luft mit der Hand in gleichmäßige Stücke. »Wenn das Leben hier auch ein wenig still, das heißt ernst ist, so ist es doch mit Arbeit und Wissenschaft angefüllt.«

»Hm – ja«, meinte Ambrosius, »dem Fleißigen wird die Zeit nie lang.«

»Es gibt doch auch kleine Zerstreuungen«, schaltete die Hausfrau ein, »hübsche junge Mädchen; das ist ja auch angenehm. In den Freistunden natürlich.«

»Natürlich«, bestätigte Herr Lanin.

»Natürlich!« sagte auch Ambrosius. »Damen – Damen – sind – hm – die Zierde des Lebens.«

Onkel und Tante lachten; dann hub Herr Lanin ganz unerwartet an, einen juristischen Fall, der sich just im Magistrat zugetragen, zu erzählen. Diese Sachen seien seine Leidenschaft. Je mehr analytische Anstrengung ein Fall erheische, um so lieber sei es ihm. – Ambrosius schaltete zuweilen ein »Sehr fein! – Interessanter Fall! Ah – ein Kreuzverhör!« ein; Frau Lanin aber meinte, die stete Verstandesarbeit reibe ihren Mann auf. Herr Lanin wollte davon nichts hören, das sei die würdigste Beschäftigung eines Mannes. – Endlich kam Fräulein Sally mit Tee und Butterbrot. Sie schenkte den Tee selbst ein; dann saß sie neben ihrer Mutter und nahm an der Unterhaltung teil; sie wandte sich jedoch nur an ihre Eltern. »Ach!« rief sie, »erzählt Papa wieder von dem garstigen Menschen, der betrogen hat? Ich kann es gar nicht begreifen, daß es so garstige Menschen geben kann!« Worauf Ambrosius erwiderte, daß auch – sozusagen – Welten zwischen ihr und jenen Menschen lägen.

Ambrosius sollte den heutigen Tag natürlich nur den Damen und der Unterhaltung widmen. Von Geschäften sollte nicht die Rede sein. Dennoch wünschte er den Schauplatz seiner künftigen Wirksamkeit zu sehen, und sein Onkel führte ihn in das Heiligtum ein.

»Du siehst, mein Lieber«, sagte er und klopfte mit der flachen Hand zärtlich auf eine Heringstonne, »du siehst, hier ist alles einfach, praktisch; nichts von unnützem Luxus; kein Blendwerk – kein Schwindel. Solid, mein Lieber, solid, das ist die Losung!«

»Hm – ja«, meinte Ambrosius, »das ist das Wahre. Es sieht hier allerdings sehr reell aus.«

Aus einer finstern Ecke fuhr Lurch hervor – scheu, bleich und fadenscheinig; die staubige Nymphe dieser staubigen Grotte.

»Dieses«, sagte Herr Lanin und wies auf seinen Kommis mit dem Zeigefinger, als wäre er nur eine große Konserve, »dieses ist Lurch.«

Die beiden jungen Leute verbeugten sich gegeneinander. Ambrosius steif und hochmütig, Lurch äußerst gelenkig und hastig.

»Lurch ist mein Gehilfe«, erklärte Herr Lanin. Lurch ergriff verwirrt ein Paket Lichte und rieb sich damit die Nase, bis sein Prinzipal trocken bemerkte: »Was wollen Sie mit den Lichten? Es ist ja niemand da.«

»Ich dachte – –«, stotterte Lurch, Herr Lanin aber schenkte ihm keine Beachtung weiter, sondern begann die Anordnung der verschiedenen Gegenstände zu erklären; er setzte auseinander, daß er bei Aufstellung der Artikel ein bestimmtes, sozusagen mathematisches System befolge: »Die Nachfrage bestimmt jeder Sache ihren Platz. Gewöhnliche Dinge, Dinge des täglichen Lebens, wie Seife, Kerzen – stehen niedrig, leicht erreichbar, andere, wie Orangen, teure Zigarren – höher, weiter fort. So entsteht ein quasi architektonisches Ganzes, indem Orangen, Seife, Heringe quasi Bausteine sind, die ihren bestimmten Platz haben und, nach der Berechnung eines jeden denkenden Menschen, keinen anderen Platz haben können.«

Ambrosius billigte dieses Verfahren; er nannte es weise und zweckmäßig. Sein Onkel fügte noch eingehendere Erörterungen hinzu, führte Beispiele an. Er nahm an, Ambrosius wolle grüne Seife kaufen – nur eine Annahme »substituierte« das. Gut! Sogleich sprang Herr Lanin an ein Schubfach, hob eine sehr unreine Büchse empor und lachte. Wollte dagegen Ambrosius eine feine Havanna rauchen, wiederum nur Annahme, dann mußte Herr Lanin eine kleine Leiter hinanklimmen, um eine Zigarrenkiste vorzuzeigen. Ambrosius folgte dem allen mit Aufmerksamkeit, lachte, wenn die Seife oder die Zigarren wirklich zum Vorschein kamen, und sagte unzählige Mal »Ja!« – Ab und zu kam Fräulein Sally herein. Sie war jedesmal überrascht, die Herren hier zu finden. Befahl Lurch unter beständigem Lachen, Tee und ein Stück Käse herzugeben, schrie auf, weil sie den Käse nicht anfassen mochte, und verschwand wieder wie ein netter kleiner Brausewind, der sie war.

Die Herren traten auf die niedrige Treppe des Ladens hinaus und schauten auf den Marktplatz hinab. Die Vorübergehenden blieben stehen und musterten Lanins Neuen, der dann seine schöne Gestalt reckte, einige abgerundete Bewegungen mit den Armen machte oder auch wohl, auf das Rathaus deutend, mit lauter Stimme sagte: »Der Bau ist gut – der sogenannte Renaissance-Stil.«

Es war schon spät abends. Herr Lanin blinzelte heftig mit den Augenlidern, gähnte einige Mal diskret und zog sich dann in sein Studierzimmer zurück, um noch einen juristischen Fall zu überdenken. Frau Lanin wurde in ihrem großen Sessel sehr schweigsam. Fräulein Sally aber und Ambrosius saßen noch am Fenster beieinander und lernten sich kennen. Die Lampe war nicht angezündet worden. Ein graues Zwielicht waltete im Gemach. Die Tische, die Sessel, die Hausfrau lagen wie dunkle Schattenmassen im Hintergrunde. Im helleren Rahmen des geöffneten Fensters zeichneten sich die Profile der beiden jungen Leute scharf ab. Diese Profile bewegten sich, näherten sich, fuhren wieder auseinander, beugten sich dann wieder gemessen und höflich vor. Die Unterhaltung ward halblaut geführt; mit gewisser Regelmäßigkeit wechselte der Diskant mit dem Baß.

»O ja, ich habe eine Freundin«, sagte Fräulein Sally weich.

»Wirklich? Doch natürlich!«

Ambrosius' Stimme klang, als müsse er beständig das Lachen unterdrücken. »Natürlich! Eine jede junge Dame hat eine Freundin. Natürlich!«

»Natürlich?« meinte Fräulein Sally und neigte ihren Kopf melancholisch zur Seite. »Es ist nicht so natürlich. Nicht eine jede hat das Glück, eine Seele zu finden, die sie versteht. Mir – mir fällt es besonders schwer, denn, sehen Sie, Cousin, ich verlange viel – sehr viel.«

»Aber Sie haben gefunden?«

»Ja! Vielleicht! Das heißt, wir lieben uns; aber – verstehen Sie, ich werde mehr geliebt. Es ist vielleicht nicht recht, aber – – –« Fräulein Sally schwieg und sann in das Dämmerlicht hinein.

»Ich verstehe – hm –« versetzte Ambrosius, »Sie sind, sozusagen, mehr empfangend; das Fräulein Freundin mehr gebend – hm – hingebend. Sie, Cousine, sind dann wohl auch mehr herrschend?«

»Vielleicht.«

»Oh, gewiß, gewiß!« neckte Ambrosius.

»Aber ich liebe sie dennoch sehr.«

»Haben Sie keine Geheimnisse voreinander?«

»Sie hat keines, nein; aber ich« – Fräulein Sally seufzte und legte die Hand auf diejenige Stelle des schwarzen Kleides, unter der das geheimnisvolle Herz schlug. Ambrosius lachte heftig und drohte mit dem kleinen Finger. Er fand das köstlich. »Also, Sie haben doch Ihre Geheimnisse. Damen haben immer Geheimnisse, immer.«

»Herren nicht?« fragte Sally schelmisch.

»Nein! Das ist Sache der Damen. Ich wüßte gern diese Geheimnisse.«

»Oh, die Herren sind immer so neugierig.«

»Es ist Wißbegierde. Neugierig sind ja – hm – spezifisch die Damen. Streiten Sie nie mit Ihrer Freundin?«

»Nie!« sagte Sally fest.

»Damen streiten ja sonst so gern.«

»Ich dächte, das kommt auch bei den Herren vor.«

»Nun – und wie heißt denn diese Freundin?«

»Rosa Herz.«

»Herz – hm – ein guter Name. Ist sie hübsch?«

Ambrosius lächelte dabei ein leichtfertiges Lächeln, als wäre seine Frage sehr kühn und gottlos.

»Hübsch?« erwiderte Sally sinnend, »eigentlich nicht, das heißt, die Herren finden sie nicht hübsch, glaube ich. Mir gefällt ihr Gesicht. Die Herren urteilen auch immer so streng.« Ambrosius lachte; dann ward er ernst, blickte melancholisch auf den Marktplatz hinab und meinte: »Ach nein! Die Damen sind hart und grausam.« So ging die Unterhaltung fort, als plötzlich ein lautes Stöhnen aus der Ecke, in der Frau Lanin saß, erscholl.

»Was ist dir, Mama?« rief Fräulein Sally.

»Ach Gott!« wimmerte Frau Lanin, »wie bin ich erschrocken! Mein Gott!«

»Was gibt's denn? Sage!«

»Mir träumte, ich zerschlug die große Lampe. Pfui! Mein Gott!«

»Wie kann man so etwas träumen!« meinte Fräulein Sally verächtlich, und Ambrosius fügte tröstend hinzu: »Träume sind ja nur Schäume.«

»Gott sei Dank, ja! Aber ein Schreck war das!« klagte die alte Dame, »nun ist's vorüber. Gehen wir zu Bett. Gute Nacht, Ambrosius.«

Auch Fräulein Sally reichte ihrem Vetter die Hand und sagte: »Denken Sie daran, was ich Ihnen sagte.« – »Gewiß, ganz gewiß! Das vergesse ich nicht«, versicherte er und drückte zart die kleine Hand, obgleich er nicht sicher war, welchen der Ausfälle gegen »die Herren« er sich merken sollte.

Achtes Kapitel

Beim nächsten Zusammentreffen in der Schule schenkte Fräulein Sally ihrer Freundin keine Beachtung. Sie hatte für Rosa nur flüchtige Mitleidsblicke. Sie tat ihr leid, das arme Geschöpf, das keinen Vetter hatte, mit dem sie sich geistreich necken konnte. Noch wollte sie ihr aber nichts von diesem Vetter erzählen, der Verrat an der Freundschaft mußte bestraft werden. Fräulein Sally ließ sich nur herbei, gegen Marianne Schulz leichthin zu bemerken: »Gott, ich bin müde! Ich habe mich gestern bis spät in die Nacht hinein mit meinem Cousin unterhalten.«

Marianne riß die Augen auf und fragte: »Haben Sie denn einen Cousin?«

Fräulein Sally lachte und stieß ihre Nachbarin mit dem Ellenbogen: »Hören Sie doch! Marianne weiß nicht einmal, daß gestern mein Cousin angekommen ist.«

»Aber Marianne!« meinte die Nachbarin verächtlich.

Allzulange vermochte Fräulein Sally jedoch nicht zu zürnen.

Als Rosa am Nachmittage über den Marktplatz ging, winkte Fräulein Sally ihr freundlich zu und rief: »Rosa, mein Herz! Wohin?«

Rosa trat an das Fenster und berichtete: Zu Hause sei es zu schwül gewesen, darum sei sie spazierengegangen.

Fräulein Sally saß am Fenster und hielt einen Roman in der Hand. Es war noch jemand im Gemach und rauchte. Rosa vermochte ihn nicht deutlich zu sehen, da er seitab vom Fenster stand, sie zweifelte jedoch nicht daran, daß es der Neue sei.

»Kommst du nicht herein, liebe Rosa? Es sitzt sich hier ganz allerliebst.«

Rosa fand ihre Freundin heute ungewöhnlich sanft; auch bemerkte sie an ihr einige feine Handbewegungen, die sie noch nicht kannte. Sie wunderte sich nicht darüber, denn die Zigarette, die im Hintergrunde des Gemaches leuchtete, übte auch auf Rosa ihren Einfluß aus und machte, daß sie manches tat und sagte., was ihr nicht ganz natürlich war.

Rosa wollte der Einladung ihrer Freundin nicht Folge leisten, sie hatte sich vorgenommen, spazierenzugehen, und Sally wußte ja, wenn sie sich etwas vornahm...

»Oh, der kleine Eigensinn!« rief Fräulein Sally. »Aber ich begleite dich, mein Herz.« Leiser fügte sie hinzu: »Vielleicht kommt er mit. Cousin«, sprach sie dann in das Zimmer hinein, »Sie machen wohl auch eine Promenade?«

»Unmöglich«, verlautete die Stimme aus dem Hintergrunde. »Unmöglich – bei dieser Hitze! Sie scherzen, Cousine!«

»Durchaus nicht«, erwiderte Fräulein Sally. »Gott, was die Herren verwöhnt sind!«

»Nicht doch«, rief Ambrosius und trat an das Fenster. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, es geht nicht; ich muß ins Geschäft. Sonst – oh!«

Fräulein Sally erhob sich mit einem so ernsten Gesicht als wollte sie ein Vaterunser sprechen, und sagte: »Mein Cousin Tellerat – meine Freundin Rosa Herz.«

»Ah – es freut mich.« Ambrosius verbeugte sich. »Es tut mir leid, die Damen nicht begleiten zu können – in der Tat. Oh, meine Damen, Sie wissen nicht, was das heißt: Geschäfte im August.«

Fräulein Sally drohte neckisch mit dem Finger und hielt es für Trägheit, er aber legte die Hand auf das Herz und beteuerte das Gegenteil.

»Gut, wir gehen also allein. Ich hole meinen Hut.« Mit diesen Worten hüpfte Fräulein Sally davon.

Während ihrer Abwesenheit entspann sich eine höfliche Unterhaltung zwischen Rosa und Ambrosius; sie mit aufmerksam ernstem Gesicht und stetem Erröten, er, die Schulter leicht gegen den Fensterrahmen gelehnt – sehr gerade, mit ausgebogener Taille und beständigem Räuspern, wobei er den Rauch der Zigarette durch die Nasenlöcher trieb, denn, weiß es Gott warum, dieser junge Mann hielt einen beständigen Katarrh für weltmännisch und vornehm.

Sie sprachen über das Städtchen. Ambrosius meinte, es gefalle ihm, es sei nett; nett sei das rechte Wort dafür, worauf Rosa erwiderte, es sei recht freundlich. Ja, er gab das zu, zog jedoch den Ausdruck nett vor. Ein wenig still, wandte Rosa ein, sie fand es sogar zuweilen langweilig. Ein wenig kleinstädtisch, Gott, ja – Ambrosius hatte es nicht anders erwartet. Eine ruhige, gemütliche Geselligkeit war ihm gerade recht. Das bunte Treiben einer großen Stadt wird man auch müde, nicht wahr? Ah gewiß! Zur Erholung war es der rechte Ort. – Rosa verstand das wohl.

Dann kam Fräulein Sally zurück und rief ihrem Vetter scherzhafte Abschiedsworte zu, die dunkel genug waren. Beide lachten jedoch, zum Zeichen, daß sie sich verstanden.

Arm in Arm wanderten die beiden Mädchen dem Stadtgarten zu. Von dem gestrigen Streit war keine Rede mehr, sondern Fräulein Sally begann sogleich den Charakter ihres Vetters zu besprechen. Sie hatte einiges über die Kunstreiterin – denn eine Kunstreiterin war sie, das stand jetzt fest – in Erfahrung gebracht. Sie war der Ansicht, es sei nur eine momentane Verirrung gewesen, die von keinen Folgen sein dürfte.

»Er tut mir leid!« seufzte das gute Mädchen. »Siehst du, er hat ein gutes, sozusagen ein goldenes Herz. Heute morgen versuchte ich den zarten Punkt zu berühren. Du verstehst? Ich wollte andeuten, daß ich um die Sache weiß und ihn verstehe. Er wurde ganz ernst und sagte: ›Das ist vorüber, Cousine Sally.‹ Das klang im höchsten Grade beweglich. Dabei fuhr er sich mit der Hand über die Stirn: Das ist vorüber, Cousine Sally! Ist's nicht rührend?«

»Sehr rührend«, bestätigte Rosa sachverständig.

»Nun«, fuhr Fräulein Sally fort, »da sah ich ihn – so – an.« Fräulein Sally riß die Augen weit auf und sagte ernst: »Weißt du – ganz ernst: ›Ist es auch vorüber?‹«

»Sehr gut!« schaltete Rosa ein.

»Also ist es auch vorüber? Da lächelte er – weißt du – so tief melancholisch und sagte: ›Ja nun, wie eben so etwas vorüber sein kann.‹ Auch sehr gut, nicht wahr?«

»Ja, ja«, meinte Rosa, »er glaubt, solche Wunden heilen nie ganz.«

»Natürlich! – Nun – ich nickte und fragte kurz und sanft: ›Der Name?‹ – Da seufzte er tief und sagte: – ›Rosina.‹ Aber wie er das Wort ›Rosina‹ sagte – das kannst du dir nicht denken.«

»Ich kann es mir denken«, versetzte Rosa gerührt.

»Nein – nein! Das kannst du dir nicht denken! – Rosina – Rosina.« Fräulein Sally legte in diesen Namen alle Andacht, über die sie gebot, daß er wie ein Gebet klang; es war aber doch nicht das Rechte: »Ich kann es dir eben nicht wiedergeben. ›Sprechen wir von etwas anderem‹, sagte er dann. Oh, er ist so sanguinisch, fast leichtfertig. So brach ich denn ab.«

Rosa ward nachdenklich. Dieser Ambrosius mit der Liebe zur schlechten Rosina erschien ihr anziehend. Das hübsche Gesicht, die schwungvollen Bewegungen; gewiß! Er hatte viel Einnehmendes. »Ich wüßte gern mehr hierüber«, sagte sie sinnend.

»Ja!« erwiderte Fräulein Sally und zuckte die Achseln: »Es läßt sich auch nicht alles weitersagen, was er seinen Verwandten anvertraut.« Dabei machte sie eine geheimnisvolle Miene und kniff die Lippen zusammen, um ostentativ zu schweigen.

Ambrosius hatte sich, wie er es den Damen gesagt hatte, in das Geschäft begeben. Dieses war jedoch so unerträglich heiß und voll starker, dumpfer Gerüche, daß es ihn im höchsten Grade verstimmte. Er setzte sich mitten auf den Ladentisch, trommelte mit den Absätzen auf die morschen Bretter und schaukelte träumerisch mit seinem Stöckchen eine Wurst, die über ihm an der Decke hing. Hinter ihm stand Conrad Lurch, maßloses Staunen in den Mienen. Er hatte es nie versucht, sich auf den Ladentisch zu setzen; nie war ihm der Gedanke gekommen, man könne das tun. Sein Kollege beachtete ihn jedoch gar nicht, schaukelte die Wurst, gähnte und starrte auf die trüben Fensterscheiben. Eine große, unklare Mißstimmung hatte sich seiner bemächtigt. Noch war es kein ganzer Tag, daß er sich in der Stellung eines ersten Kommis der Firma Lanin befand, und doch war ihm diese Stellung schon gänzlich zuwider. Er langweilte sich, und Langeweile hielt er für ein Unglück. Ein unüberwindlicher Durst nach lauten, ungeordneten Vergnügungen erfüllte diesen jungen Mann. Von jeher hatte er ohne zu zaudern nach allem gegriffen, was ihn reizte, was nur im Entferntesten einen Genuß versprach. Als sechsjähriger Bube bemächtigte er sich jedes Kuchens, dessen er habhaft werden konnte, war es auch noch so streng verboten. War der Kuchen verzehrt, dann erst gedachte der kleine Ambrosius der Strafe und weinte. Als zwanzigähriger Junge war er ebenso achtlos und gedankenlos seinen Eltern davongelaufen, um einer Kunstreitertruppe zu folgen, nur weil ihm diese Welt der Tressen und Flitter in die Augen stach und weil eine alternde Kunstreiterin für vieles Geld sich herabließ, ihn zu lieben. Um einen Wunsch zu erfüllen konnte er Entschlossenheit und Tatkraft zeigen, wuchsen aber aus seinem Leichtsinne Schwierigkeiten und Mühsal, dann war er ohnmächtig.

Sein weiches, nervöses Gemüt ließ sich von dem geringsten Unfall, von der kleinsten Widerwärtigkeit niederdrücken. Ja, fehlte es seiner Umgebung auch nur an besonderer Heiterkeit, umgab ihn ein gewöhnliches ruhiges Leben, so fühlte er sich schon melancholisch und klagte über Weltschmerz. Der enge Laden, die schwere Luft und die trüben Fensterscheiben waren denn auch nicht geeignet, gegen diesen Weltschmerz anzukämpfen. So versank Ambrosius immer tiefer in sein übellauniges Brüten. Plötzlich ließ sich Lurchs sanfte Stimme vernehmen: »Dieses ist eine Pariser Wurst.«

»Wie?« fuhr Ambrosius auf, der vergessen hatte, daß er nicht allein sei.

»Ich meinte, Herr Tellerat...« wiederholte Lurch. –

»Von Tellerat«, unterbrach ihn Ambrosius. »Von – es ist italienischer Adel; di – heißt es – eigentlich di Tellarda, daraus Tellerardo, und so...«

»So hat sich das herausgebildet«, ergänzte Lurch aufmerksam.

»Natürlich«, entgegnete Ambrosius und begann leise vor sich hin zu pfeifen, bis Lurch wieder das Wort nahm: »Ich meinte vorhin, Herr von Tellerat, daß diese Wurst eine sogenannte Pariser Wurst sei.«

»He, diese?« Ambrosius schlug mit dem Stöckchen auf die Wurst und bemerkte dann: »Hart.«

Lurch folgte mit besorgtem Blick den Schwingungen der Wurst: »Glauben Sie nicht«, fragte er und errötete, »daß es ihr schaden kann, wenn man sie schlägt und schaukelt?«

»Die da?« Ambrosius holte wieder mit dem Stöckchen aus, aber Lurch rief angstvoll: »Schlagen Sie sie nicht! Es kann ihr nicht gut sein.« Er blickte innig zur Wurst auf; er hatte um sie gelitten; die alte, ehrwürdige Wurst, die ganze Familie liebte sie. War sie nicht schon lange im Geschäft? Natürlich kaufte sie niemand; sie war zu gut für das Städtchen. Aber ein großes Geschäft muß eine echte Pariser Wurst haben. Sie repräsentierte die Firma und war fast ein Glied der Familie. Nein, es war Sünde, sie zu schlagen.

Endlich brach Ambrosius sein düsteres Schweigen und bemerkte, daß er noch keinen Kunden im Laden gesehen habe.

»Am Nachmittag kommen sie nicht«, erklärte Lurch. »Am Abend pflegen die Herrschaften die Dienstmägde herzuschicken, um Kerzen, Käse, Petroleum...«

»Hübsche?« unterbrach ihn Ambrosius.

»Je nun, mein Gott! Hübsch sind sie nicht besonders. Eine vielleicht. Ja, die Käthe – die ist hübsch. Oh, ja! Die hat eine hübsche Nase, eine hübsche große Nase.«

»Ah! Aber womit vertreibt man sich hier denn die Zeit? An so etwas denkt hier niemand.«

»Doch«, erwiderte Lurch verlegen, obgleich er es nicht scheinen wollte. »Man unterhält sich hier recht gut. Ich – ja sehen Sie – an den Wochentagen bin ich hier beschäftigt. Aber Samstagabend – dann geh ich aus.«

»Wohin denn?«

»Wir haben nämlich«, Lurch dämpfte seine Stimme, »wir haben nämlich ein Kränzchen.«

»Kränzchen? Was für ein Kränzchen? Es gibt vielerlei Kränzchen!« rief Ambrosius.

»O bitte, sprechen Sie nicht so laut!« flehte Lurch. »Es ist eigentlich ein Geheimnis, obgleich nichts Böses daran ist.«

»Gut, gut! Ich sag's nicht weiter.«

»Also bei Steining, dem Konditor.« Lurch sprach dieses Wort sehr gepflegt und die Anfangssilbe ganz französisch aus. »Dort versammeln wir uns im hintern Zimmer. Kennen Sie dieses Zimmer? Nicht? – Oh, ein wunderbares, einziges Zimmer! So traulich! Grüne Tapeten hat es und einen Kronleuchter. Recht elegant ist es. Alle möglichen Bequemlichkeiten finden Sie dort – drei Spucknäpfe, massiv von Messing.«

»Wer versammelt sich dort?«

»Wir sind unserer sechs. Da ist der Tomascher vom Advokaten Krug, dann Silt, Apfelbaum...«

»Was trinken Sie?«

»Bier, sehr feines Bier.«

»Hm –« warf Ambrosius vornehm und kühl hin, »Sie führen mich dort einmal ein.« – Lurch floß über von Dankbarkeit und Begeisterung: »Sie werden sich gut unterhalten. Gewiß! Es wird Ihnen gefallen. Es geht dort sehr heiter zu. Silt ist ein gar zu witziger Mensch. Sie können sich so etwas gar nicht vorstellen.« Lurch mußte lachen, wenn er nur an Silt dachte: »Auch Apfelbaum wird Ihnen zusagen. Er ist ein wenig wüst, aber er erzählt sehr gut seine Raufereien mit den Metzgerburschen. Oh, und dann Waumer! Ein prächtiger Mensch. Was für Arme der hat! Den Armbrechen zu sehen, ist der höchste Genuß.«

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