Kitabı oku: «Bunte Herzen»
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Über den Autor
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Eduard Graf von Keyserling (1855 - 1918), auf Schloss Paddern bei Hasenpoth (Aizpute) in Kurland geboren, wuchs als zehntes von zwölf Geschwistern in der patriarchalischen Adelsgesellschaft der elterlichen Güter auf. Das 1874 begonnene Studium (Jura, Philosophie und Kunstgeschichte) in Dorpat musste er 1877 „wegen einer Inkorrektheit“ abbrechen und war damit in seiner Gesellschaft geächtet. In Wien setzte er das Studium fort und lernte dort Ludwig Anzengruber kennen. Bis 1895 verwaltete der gesellschaftlich isolierte Keyserling die mütterlichen Güter Paddern und Telsen. Nach dem Tod der Mutter und der Übergabe der Güter an die Majoratsherren zog er mit zwei Schwestern nach München. Durch eine Syphilisinfektion erkrankte er 1897 an einem Rückenmarksleiden und erblindete mit 45 Jahren.
Zum Buch
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Der aus einer alten baltischen Adelsfamilie stammende Eduard Graf von Keyserling hat Romane und Erzählungen geschrieben, die zum Schönsten gehören, was die deutsche Literatur hervorgebracht hat. Nicht umsonst hat man ihn einen baltischen Fontane genannt. In traumhaft schönen Bildern porträtiert Keyserling die Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts – dabei sind Licht, Glanz und Farbenreichtum seiner Geschichten umso erstaunlicher, als der Autor bei Abfassung der späten Werke bereits erblindet war. Durch seinen symbolischen und auch ironischen Impressionismus gebührt ihm ein Platz zwischen Theodor Fontane und Thomas Mann.
Haupttitel
Eduard von Keyserling
Bunte Herzen
Dumala · Fürstinnen
Impressum
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Inhalt
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Über den Autor
Zum Buch
Dumala
(1908)
Bunte Herzen
(1909)
Fürstinnen
(Erstdruck 1917)
Kontakt zum Verlag
Dumala
(1908)
Der Pastor von Dumala, Erwin Werner, stand an seinem Klavier und sang:
»Der Nebel stieg, das Wasser schwoll,
Die Möwe flog hin und wied-e-r«
Er richtete seine mächtige Gestalt auf. Sein schöner Bariton erfüllte ihn selbst ganz mit Kraft und süßem Gefühl. Es war angenehm zu spüren, wie die Brust sich weitete, wie die Töne in ihr schwollen.
»Aus deinen Augen liebevoll
Fielen – die Tränen – nie-ie-der.«
Er zog die Töne, ließ sie ausklingen, weich hinschmelzen. Seine Frau saß am Klavier, sehr hübsch mit dem runden rosa Gesicht unter dem krausen aschblonden Haar, hellbeleuchtet von den zwei Kerzen, die kurzsichtigen blauen Augen mit den blonden Wimpern ganz nah dem Notenblatt. Die kleinen roten Hände stolperten aufgeregt über die Tasten. Dennoch, wenn ein längeres Tremolo ihr einen Augenblick Zeit ließ, wagte sie es, von den Noten fort zu ihrem Mann aufzusehen, mit einem verzückten Blick der Bewunderung.
Es war zu schön, wie der Mann, von der Musik hingerissen, sich wiegte, wie er wuchs, größer und breiter wurde, wie all das Süße und Starke, all die Leidenschaft herausströmten. Das gab ihr einen köstlichen Rausch. Tränen schnürten ihr die Kehle zusammen, und um das Herz wurde es ihr seltsam beklommen.
»Seit jener Stunde verzehrt sich mein Leib,
Die Seele stirbt vor Seh-nen –«
Die Stimme füllte das ganze Pastorat mit ihren schwülen Leidenschaftsrufen. Die alte Tija hielt im Eßzimmer mit dem Tischdecken inne, faltete ihre Hände über dem Bauch, schloß ihr eines, blindes Auge und schaute mit dem anderen starr vor sich hin. Dabei legte sich ihr blankes, gelbes Gesicht in andächtige Falten.
Das ganze Haus, bis in den Winkel, wo die Katze am Herde schlief, klang wider von den wilden und schmelzenden Liebestönen. Sie drangen durch die Fenster hinaus in die Ebene, wo die Nacht über dem Novemberschnee lag; ja vom nahen Bauernhof antwortete ihnen ein Hund mit langgezogenem, sentimentalem Geheul.
»Mich hat das unglücksel’ge Weib
Vergiftet – vergiftet – –«
Die Fenster bebten von dem Verzweiflungsruf. Die Katze erwachte in ihrer Ecke, die alte Tija fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und murmelte:
»Ach – Gottchen!«
»Vergiftet mit ihren Tränen.«
Die kleine Frau lehnte sich in ihren Stuhl zurück, faltete die Hände im Schoß und sah ihren Mann an.
Pastor Werner stand schweigend da und strich sich seinen blonden Vollbart. Er mußte sich auch erst wieder zurückfinden.
Jetzt war es ganz still im Pastorate. Nur Tija begann wieder leise mit den Tellern zu klappern.
»Wie Siegfried!« kam es leise über die Lippen der kleinen Frau.
»Wer?« fuhr Pastor Werner auf.
»Du«, sagte seine Frau.
Werner lachte spöttisch, wandte sich ab und begann, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab zu gehen.So war es jedesmal, wenn er sich im Singen hatte gehen lassen, wenn er sich mit Gefühl vollgetrunken hatte. Dann kam der Rückschlag.
Man hatte geglaubt, etwas Großes zu erleben, einen Schmerz, eine Leidenschaft, und dann war es nur ein Lied, etwas, das ein anderer erlebt hat, und die Winde des Zimmers mit ihren Photographien, die großen schwarz und rot gemusterten Möbel, all das beengte ihn, drückte auf ihn.
Seine Frau saß noch immer am Klavier und starrte in das Licht. Auch bei ihr war der schöne Rausch der Musik vorüber. Nur eine müde Traurigkeit war übriggeblieben. Sie dachte darüber nach, warum er sich geärgert hatte, als sie »Siegfried« sagte. Das kam oft so. Wenn sie ganz voll von Begeisterung für ihn war, dann war ihm etwas nicht recht, und er lachte kalt und spöttisch.
»Lene, essen wir nicht?« fragte Werner.
Da fuhr sie auf.
»Natürlich! Gefüllte Pfannkuchen!«
Und sie lief in die Küche hinaus.
Am Eßtisch unter der Hängelampe war alles Fremde und Erregende fort. Wenn es ihm schmeckte, war Pastor Werner gemütlich, das wußte Lene. Dann konnte sie ruhig vor sich hinplaudern, ohne berufen zu werden, dann hatte sie das Gefühl, daß er ihr gehörte.
»Die Baronin aus Dumala fuhr heute hier vorüber«, berichtete sie.
»So«, meinte Werner, und sah über das Schnapsglas, das er zum Munde führen wollte, hinweg seine Frau scharf an: »Nun – und?«
»Nun, ja. Sie hatte eine neue Pelzjacke an. Entzückend!«
Werner trank seinen Schnaps aus und fragte dann:
»Stand sie ihr gut, diese Jacke?«
Lene seufzte: »Natürlich! Diese Frau ist ja so schön!«
»Was ist dabei zu seufzen?« fragte Werner. »Laß sie doch schön sein.«
»Weil ich sie nicht mag«, fuhr Lene fort, »deshalb. Sie will alle Männer in sich verliebt machen. Aber schön ist sie.«
Werner lachte. »Was für Männer? Die arme Frau pflegt ihren gelähmten Mann Tag und Nacht. Die sieht ja keinen. Eine neue Pelzjacke ist da doch eine sehr unschuldige Zerstreuung.«
»Dich sieht sie doch.« Lene nahm einen herausfordernden Ton an, als suche sie Streit.
Werner zuckte nur die Achseln.
»Mich!«
»Ja dich«, fuhr Lene fort. »Und du bist doch auch in sie verliebt, – etwas – nicht?«
Heute ärgerte das Werner nicht.
»Wenn du willst!« meinte er.
Die kleine Frau durfte heute ruhig mit ihm spielen, wie mit einem großen, gutmütigen Neufundländer. Ein wenig schweigsam war er, aber das pflegte er am Sonnabend immer zu sein, wenn die Predigt ihm im Kopfe herumging.
Nach dem Essen saß das Ehepaar am Kaminfeuer. Durch das Fenster, an dem die Läden offen geblieben waren, schaute die bleiche Schneenacht in das Zimmer. Aus der Gesindestube klang Tijas dünne, zitternde Stimme. Sie sang einen Gesangbuchvers.
»So ist’s hübsch«, sagte Lene. »So ist’s gemütlich! Nicht wahr? Alles ist still, und das Feuer, – und man sitzt beisammen.«
»Stell doch der Lebenslage keine Zensur aus«, versetzte Werner, der sinnend in das Feuer starrte.
»Warum?« fragte Lene eigensinnig.
»Weil, weil« – Werners Stimme wurde streng – »weil Zensuren ausgestellt werden, wenn die Schule zu Ende ist.«
»Deshalb!« meinte Lene, die ihn nicht recht verstanden hatte.
»Nun sei aber nicht ungemütlich, Wernerchen.«
Sie stand auf, ging zu ihm, setzte sich auf seine Knie, schmiegte sich an seine Brust, umrankte den großen Mann ganz mit ihrer kleinen, legitimen Sinnlichkeit, die sich schüchtern hervorwagte.
»Wir sind doch glücklich!« sagte sie. »Ich sag’s doch. Ich stell’ gute Zensuren aus.«
Werner saß still da, ließ sich von der Wärme dieses jungen Frauenkörpers durchdringen. Dann plötzlich schob er Lene beiseite und stand auf.
»Wohin?« fragte sie erschrocken.
»Oh – nichts«, erwiderte er, »ich – ich will mir noch was überlegen.«
»Diese ewige Predigt!« seufzte Lene. »Worüber predigst du denn morgen?«
»Über die Versuchung in der Wüste, du weißt’s ja.«
»Ach ja! Sei doch nicht wieder so streng. Wenn du so herunterdonnerst, wird einem ganz bang.«
Er zuckte die Achseln.
»Seit wann willst du denn Einfluß auf meine Predigten nehmen?«
Also nun hatte sie ihn auch noch geärgert. Sie schwieg. Während Werner, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab ging, kauerte sie auf ihrem Sessel und folgte ihm unverwandt mit den Blicken. Eben noch hatte sie sich glücklich gefühlt, jetzt war wieder etwas über ihn gekommen, das sie nicht verstand. Sie fühlte, wie müde ihre Glieder von der Arbeit des Tages waren, und das Traurige war über sie gekommen, dem sie nicht nachdenken wollte. Sie folgte Werner mit den Blicken, wie er auf und ab ging, sehr aufrecht in seinem schwarzen Rock, auf und ab, bis seine Gestalt undeutlich wurde und ihr die Augen zufielen.
»Herunterdonnern«, hatte Lene gesagt, ja, das liebte er, das Predigen war wie das Singen, da konnte er sich ausgeben, da hatte er das Gefühl, als »ginge eine Kraft von ihm aus«, wie die Bibel sagt. All die großen, schönen Worte, der große Zorn, mit dem er drohen, die ganz großen Seligkeiten, die er versprechen konnte, und all das war unendlich und ewig, das gab auch einen Rausch. Er freute sich schon darauf. Dazu zog die Versuchung in der Wüste, diese wunderbare Geisterunterhaltung, groß wie Dantes Verse, ihn seltsam an. Das Wilde des Kampfes der beiden Wunderkräfte in der Wüste regte ihn auf.
In tiefem Sinnen ging er auf und ab, vergaß seine Umgebung, bis ein verschlafener Laut aus Lenes halbgeöffneten Lippen ihn aufschauen machte.
»Ja so – der Friede des Pastorats« – dachte er nicht ohne Bitterkeit. Weiß es Gott! ihm war wenig friedlich zumute!
Er stellte sich an das Fenster, schaute in die Nacht hinaus.
Oben am Himmel war Aufregung unter den Wolken, zerfetzt und gebläht wie Segel schoben sie sich aneinander vorüber. Der Mond mußte irgendwo sein, aber er wurde verdeckt, nur ein schwaches, müdes Dämmerlicht lag über der Ebene.
Frieden! Ja, wenn einer sich beständig mit Wunderdingen abgeben muß, wenn er immer diese Sprüche im Munde führen muß, die so voll Leidenschaft und Zorn und Süßigkeit und Geheimnis sind, wo soll da der Friede herkommen? Das Herz wird so empfindlich und so erregt, daß es auf alles hineinfällt.
Der Wind trieb kleine Schneewirbel wie weiße Rauchwölkchen über die Ebene. Winzige Lichtpünktchen waren in die Nacht gestreut, wie verloren in dem fahlen, weißen Dämmern. Dort die Reihe heller Punkte waren die Fenster des Schlosses Dumala. Werner fiel die neue Pelzjacke der Baronin Werland ein, und dann sah er das große, düstere Zimmer vor sich, die grün verhangene Lampe, am Kamin im Sessel den Herren mit dem wachsgelben, scharfen Gesicht, die Füße in eine rote Decke gewickelt. Bei ihm auf dem niedrigen Stühlchen die schöne Frau mit den schmalen Augen, die unruhig schillerten, und dem seltsam fieberroten Munde. Sie saß da, blinzelte schläfrig in das Kaminfeuer und strich mit ihrer Hand langsam an dem Bein des Kranken auf und ab.
Ein Schmerz, etwas wie ein körperlicher Schmerz, schüttelte Werner bei diesem Bilde, ließ ihn blaß werden und das Gesicht leicht verziehen.
Ärgerlich wandte er sich vom Fenster ab. Es war zu dumm! Dieses Predigtmachen ließ jedesmal alles in ihm toller rumoren denn je!
Er begann wieder auf und ab zu gehen, dann blieb er vor Lene stehen.
Sie hatte die Füße auf den Sessel hinaufgezogen, die Wange an die Stuhllehne gestützt. So schlief sie. Die Lippen halb geöffnet, atmete sie tief, auf dem Gesichte den ernsten, besorgten Ausdruck, den Menschen in schwerem Schlafe annehmen, als sei das Schlafen eine Arbeit.
Werner betrachtete sie eine Welle. Er fühlte plötzlich ein tiefes Erbarmen mit diesem jungen schlafenden Wesen. Auch wieder die Nerven und die unnütze Weichheit! Er konnte ja jetzt nichts mehr ansehen, ohne daß es schmerzte!
Behutsam nahm er Lene auf seine Arme und trug sie in das Schlafzimmer hinüber.
Die Sakristei war voller Schneelicht. Zwischen den engen, weißen Wänden, in dem weißen Lichte, sah Pastor Werner, im schwarzen Talare, sehr groß aus. Er saß am Tisch, vor sich das aufgeschlagene Gesangbuch und das Blatt mit den Notizen zu seiner Predigt. Draußen sangen sie schon das Lied, ein Chor harter Frauenstimmen, heiserer Kinderstimmen, dazwischen das Knarren der Bässe. Sie zogen die Töne schläfrig und beruhigt. Gott! spielte der Organist heute tolles Zeug zusammen! Sicherlich hatte der Mann wieder die ganze Nacht durch gesoffen. Die alte Orgel stöhnte und seufzte ordentlich unter seinen rücksichtslosen Fingern.
Werner sang nicht mit. Er schaute zum Fenster hinaus. Es taute und die Sonne schien. Die Bäume hingen ganz voll blanker Tropfen und das beständige Tropfen vom Dache und den Traufen legte uni die Kirche ein helles Blitzen und Klingen.
Sonntäglich! Die Sonntagsstimmung war da, die kam immer, aus alter Gewohnheit, anfangs feierlich, später angenehm schläfrig. Er liebte diesen Augenblick in der Sakristei vor der Predigt, wenn er dasaß und sich voll großer Worte, voll lauter, eindringlicher Töne fühlte.
Er horchte hinaus. Er kannte die Schellen der Schlitten, die heranfuhren. Das waren die Schellen von Debschen, das der Doktor Braun, das die Schellen von Dumala.
Dennoch fragte er, als der Küster eintrat: »Wer ist alles da?«
Der Küster Peterson legte sein großes, schlaues Bauerngesicht in pastorale Falten.
»Die Dumalaschen sind da«, meldete er, »die Baronin und der Sekretär.«
»Wer noch?« fragte Werner ungeduldig. Warum meldete der Kerl gerade nur die Dumalaschen?
Peterson zog ergeben die Augenbrauen empor:
»Der Doktor ist da, die aus Debschen.«
»Gut – gut.« Werner winkte ab. Es war doch ganz gleichgültig, ob der Doktor da war und die Alte aus Debschen!
Nun war es Zeit, auf die Kanzel zu steigen, sie sangen da drin schon den letzten Vers des Liedes. Werner freute sich, zu finden, daß die Kirche voller Licht war. Wenn die breiten, gelben Lichtbänder durch die hohen Fenster in den Raum fluteten, dann bekam seine Predigt auch anders helle Farben, als wenn die Kirche voll grauer Dämmerung war, und der Regen gegen die Fensterscheiben klopfte.
Es roch nach nassen, schweren Wollkleidern, frischgewaschenen Kattuntüchern und Transtiefeln. Werner beugte sich über das Pult auf der Kanzel zum Gebet. Dieser Augenblick brachte ihm stets eine sanfte, andächtige Ekstase, so die Stirn auf das Pult zu legen, und unten wurde es still, und sie warteten, warteten auf sein Wort.
Die Predigt begann. Die eigene Beredsamkeit erwärmte ihn heute besonders. Er hörte es, wie die Leute unten aufmerksam wurden, wie das Husten und Sichräuspern schwiegen.
Und Werner gab seiner Stimme vollere Töne, machte große, freie Bewegungen. Er wußte es wohl, die meisten dort unten verstanden ihn nicht, aber heute drängte eine innere Erregung ihn, hinauszusagen, hinauszurufen, was ihn bewegte.
»›Falle vor mir nieder und bete mich an‹, sprach der Böse zum Sohne Gottes. ›Bete mich an!‹ Ja, das ist es, das will er. Er hat nicht genug mit unseren Sünden der Schwäche, der Nachlässigkeit, der Bosheit, des Unglaubens, nein, niederfallen sollen wir vor ihm und ihn anbeten. Er will angebetet, er will verehrt, er will geliebt werden. Danach dürstet er. Er will, daß wir zu ihm sprechen: Uni dich geben wir die ewige Seligkeit und die Gotteskindschaft hin, dir opfern wir sie, um dich gehen wir mit offenen Augen in unser Verderben, weil wir dich anbeten, weil du uns groß und liebenswert erscheinst, weil wir zu dir wollen. Der Böse will, daß wir die Sünde lieben, daß wir sie anbeten. Das ist sein Triumph. Das ist das tiefe, furchtbare Geheimnis der Sünde.« Die Stimme des Pastors hatte hier einen tiefen, geheimnisvollen und leidenschaftlichen Tonfall angenommen, wie eine unheimliche Liebeserklärung an die Sünde klang es.
Er hielt inne, selbst erstaunt über das, was er sagte. Es klang fremd in die Kirche hinein, und zugleich schien es ihm, als verriete er etwas, als spräche er etwas aus, das geheim sein sollte und nur von ihm geahnt wurde.
Er schaute hinunter auf die Gemeinde.
Ruhig saßen sie da alle beisammen. Alte Frauen schliefen. Mädchen, mit glattgebürstetem Haar, die Hände im Schoß gefaltet, starrten ausdruckslos vor sich hin, genossen die Ruhe des Augenblicks. Ihm gegenüber im Gestühle der Werlands von Dumala saß die Baronin Karola. Sie hatte den Kopf leicht zurückgelehnt und schaute scharf zu ihm herüber, sie kniff dabei die Augenlider zusammen, so daß die Augen nur wie sehr blanke Striche zwischen den langen Wimpern hervorschimmerten.
Werner ging zum Schluß seiner Predigt über. Seine Stimme nahm wieder ihren ruhig ermahnenden Ton an, in dem erbaulich das Metall seines schönen Baritons mitklang.
Nach dem Gottesdienst fragte Werner den Küster, während er sich in der Sakristei umkleidete:
»Ist die Baronin aus Dumala schon fortgefahren?«
»Nein«, meinte der Küster, »die Frau Baronin wartet auf den Herrn Pastor – wie immer.«
»Wieso – wie immer?« fragte Werner ungeduldig. »Peterson, Sie fangen an, Unsinn zu sprechen.«
Leute kamen zu ihm, die Waldhäuslerin Marri, ihre Mutter, die alte Gehda, konnte nicht sterben, das dauerte nun schon Wochen. Der Herr Pastor soll herüberkommen. Werner fertigte die Leute eilig und mechanisch ab, sagte das nötige »Gott weiß am besten, wenn er uns zu sich ruft. Wir müssen warten«. Die Waldhüterin klagte, daß ihr Mann sie zuschanden schlug, wenn er besoffen war.
Werner zog sich seinen Pelz an. »Ja, ja – ich komme mal an. Gott behüt’ euch lieben Leute – Gott befohlen.« Eilig ging er hinaus.
Die Baronin Karola stand vor ihrem Schlitten, sehr schlank, fest in die blaue Pelzjacke geknöpft, das Gesicht ganz rosa von der scharfen Winterluft, der Mund unnatürlich rot, die Stirnlöckchen voller Tropfen unter der kleinen Fischottermütze. »Ah, Pastor!« rief sie, »ich warte auf Sie. Sie dürfen uns heute nicht verlassen. Ja – er leidet, und es ist abends so traurig bei uns. Also, Sie kommen?« Sie reichte ihm die Hand, schüttelte die seine mit unterstrichener Kameradschaftlichkeit. »Die Verlassenen trösten ist ja doch Ihr Amt.« Sie lächelte, wobei ihre Mundwinkel sich hinaufbogen, was ihr einen leicht durchtriebenen Ausdruck verlieh.
Werner verbeugte sich in seiner feierlichen Art, die etwas Befangenes hatte.
»Oh – gewiß – mit Vergnügen«, und er lächelte auch aus reinem Behagen, diese schöne Frau anzusehn.
»So, danke«, sagte sie. »Jetzt wollen wir fahren, mein Page friert.« Karl Pichwit, der Sekretär und Vorleser des Barons Werland, fror immer. Sein hübsches, kränkliches Knabengesicht war blau von Frost, und er zitterte.
Er half der Baronin in den Schlitten, setzte sich neben sie, und da lächelte auch das kränkliche Knabengesicht und errötete.
Werner stand noch eine Welle da und schaute dem Schlitten, dem Wehen des blauen Schleiers auf dem Fischottermützchen nach, er schützte die Augen mit der Hand vor der Sonne, um länger und besser sehen zu können.
Ich finde es rücksichtslos«, sagte Lene beim Mittagessen zu ihrem Mann, »daß die Werlands dich immerfort hinüber bitten. Ich bin jeden Sonntagabend allein. Der Sonntag gehört doch wenigstens der Familie.«,
Werner zuckte die Achseln, ja, daran war nichts zu ändern. Drüben ging es nicht heiter zu, da mußte er eben –
Aber Lene ärgerte sich.
»Ach was! Dieser Baron, der Gottlosigkeiten und Unanständigkeiten spricht, der ist überhaupt kein Umgang für einen Pastor.«
Werner lächelte nur und aß ruhig seinen Sonntagsbraten. Lene erregte sich immer mehr. »Ach was – der Baron! Der ist’s ja gar nicht. Sie ist’s!«
»Sie?« Werner schaute auf.
»Natürlich sie«, fuhr Lene tollkühn fort, obgleich sie fühlte, daß das, was sie sagen wollte, die Lebenslage ungemütlich machen würde. »Sie – sie will Gesellschaft haben. Es ist ihr nicht genug, daß der arme Pichwit sie verliebt ansieht, sie will so ’n großen, schönen Mann wie dich zum Kokettieren haben.«
Werner wurde bleich, wie immer, wenn der Zorn in ihm aufstieg. »Lene«, – rief er und schlug mit der Hand auf den Tisch, daß die Teller klirrten, »was ist das für ein Geschwätz. Hier an meinem Tisch wird nicht so über diese edle, geprüfte Frau gesprochen.«
Lene wurde zwar sehr rot, ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Sie murmelte, um das letzte Wort zu behalten:
»Es ist aber doch so.«
Die Gemütlichkeit des Mittagessens war dahin. Es wurde kein Wort mehr gesprochen.
Die Zimmerflucht im Schlosse Dumala war nicht erleuchtet, als der alte Jakob Pastor Werner hindurchgeleitete. Die Winterdämmerung lag über den großen, schweren Möbeln, gab ihnen etwas Verlassenes und Verschollenes. Es roch nach altem, staubigem Holz in den hohen Zimmern. Das Getäfel und das Parkett knackten beständig.
»Wir haben hier kein Licht gemacht«, erklärte Jakob. »Wozu? Es geht hier ja doch niemand.«
Er hob sein bleiches Gesicht zu Werner auf, sah ihn mit den verblaßten Augen traurig an. Es mochte früher ein hübsches Lakaiengesicht gewesen sein, jetzt war es auch verwittert und vernachlässigt.
»Wozu?« wiederholte er knarrend. Ein Gemach, das sie durchschritten, duftete nach weißen Heliotropen. Helle Vorhänge hingen an den Fenstern, und kleine Möbel mit goldenen Füßen schimmerten aus den dunkeln Ecken.
»Ihr Zimmer«, sagte sich Werner, und atmete den Heliotropenduft tief ein.
»Und schlecht geht es uns heute auch«, berichtete Jakobs klagende Stimme weiter. »Wir haben starke Schmerzen im Bein.« Das Kaminzimmer war von der großen, grün verhangenen Lampe matt erleuchtet, ein Krankenstubenlicht. Baron Werland saß in seinem Sessel am Feuer, die Füße in die rote Decke gehüllt, die Gestalt ein wenig in sich zusammengesunken. Das regelmäßige Gesicht war wachsbleich, das Haar sorgsam gelockt, der Schnurrbart hinaufgedreht. Nur die tiefen Augenhöhlen über den unruhig flackernden Augen legten sehr dunkle Flecken in diese Blässe. Ein starker Opoponaxduft umgab den Kranken.
»Aha – unser Seelsorger«, rief er mit seiner hohen Stimme Werner entgegen. »Es ist doch gut, daß man einen hat, der von Amts wegen barmherzig sein muß, der sozusagen dafür bezahlt wird.« Werner lachte: »Na – es gibt auch Leute, die das aus Sport sind«, meinte er.
»Sport! Der Sport ist unmodern. Setzen Sie sich, Pastor. Kalt – was?« Karola hatte an der Lampe gelesen. Jetzt begrüßte sie Werner. In dem blauen Tuchkleide sah die Gestalt hoch und biegsam aus.
»Ich danke, daß Sie gekommen sind«, sagte sie einfach, und schüttelte ihm wieder kameradschaftlich die Hand. Die Sessel wurden an das Feuer gerückt. Karola drückte sich behaglich in den ihren hinein und blinzelte Werner erwartungsvoll an, wie ein Kind, das von dem Erwachsenen unterhalten zu sein hofft.
Werner rieb sich die erfrorenen Hände in leichter Befangenheit, die ihn häufig ergriff.
»Wie geht es?« fragte er dann höflich den Baron.
»Schlecht, Pastor«, erwiderte der Baron, »einfach schlecht.
Kein Schlaf in der Nacht, tolle Schmerzen. Was wollen Sie mehr? Der verdammte Tauwind.« »Das tut mir sehr leid«, sagte Werner ein wenig steif »Das tut Ihnen leid, Pastor«, fuhr der Baron fort. »Natürlich. Sie sind mitleidig. Das gehört zum Amt. Nur hilft das nichts. Wissen Sie, was ich mal hören möchte, der Abwechslung wegen?«
»Nun?«
»Wenn ich sage: mir geht’s schlecht, daß mal einer, so von Herzen, mir antwortet: das freut mich. – So von Herzen – wissen Sie. Das wär’ mal was Neues. Darüber könnte ich recht lachen.«
»Solch einer findet sich zum Glück schwer« – bemerkte Werner.
Der Baron verzog sein Gesicht: »Ich weiß nicht. Ein recht geldhungeriger Erbe vielleicht. Das war’s aber nicht, was ich Ihnen sagen wollte, Pastor. Also heute nacht konnte ich nicht schlafen, und da bedachte ich mir wieder einmal gründlich die Aussichten Ihrer Unsterblichkeit, Ihres Lebens nach dem Tode.«
»Meines?«
»Na ja, weil Sie es predigen müssen. Aber, Pastor, die Aussichten sind schwach. Ich kann die Sache drehen und wenden wie ich will –, heute nacht waren die Aussichten schwach, gleich null.«
»Mit dem Denken kommen wir da wohl nicht heran«, wandte Werner ein, zerstreut, wie wir uns an einem Gespräch beteiligen, das wir oft schon haben führen müssen.
Aber der Baron wurde eifrig:
»Ich weiß, der Glaube. Nein, Ihr Glaube ist ein Kunststück, zu dem ich kein Talent habe. Ein Wunder – gut! Über Wunder kann man nicht sprechen.«
»Ah!« sagte Karola, »sollen wir wieder davon sprechen!«
Der Baron kicherte:
»Natürlich! Ihr seid gesund. Ihr denkt so nebenbei einmal: Unsterblichkeit – wie schön! Leben nach dem Tode – entzückend! und damit ist’s gut. Aber ich – mich geht das jetzt was an. Sehen Sie, Pastor, wenn Sie zu Hause bleiben wollen, nun, dann ist’s Ihnen gleich, wann der Schnellzug nach Paris geht und ob er Anschluß hat. Sie sagen wohl so im allgemeinen – ach – der Schnellzug, wie schön! Aber wenn die Koffer gepackt sind, ja, dann blättern Sie im Kursbuch, dann kommt es auf Genauigkeit an. Na – also – ich, – ich seh’ mir das Kursbuch an und, Pastor, ich sag’ Ihnen, es gibt keinen Anschluß. Wir bleiben liegen.«
Die Wärme des Kaminfeuers machte Werner die Glieder schlaff und die Augenlider schwer. Er hörte nur halb der hohen, erregten Stimme des Kranken zu. Er schaute Karola nicht an, aber das Gefühl ihrer Gegenwart, das Gefühl, daß ihr Blick für einen Moment auf seinem Gesicht ruhte, der leichte Heliotropduft, das leise Klingen ihrer Armbänder, all das erfüllte ihn mit einem Behagen, das ihm wie ein edler Wein köstlich das Blut erwärmte. Nur mechanisch machte er seine Einwände auf die Reden des Barons. »Ja, aber ohne Leben nach dem Tode, hat das Leben da Sinn? Für das bißchen Erdenleben, all der Aufwand!« »Bravo!« Der Baron klatschte leise in die Hände. »Ich sah Sie damit kommen. Euer Haupttrumpf. Natürlich ist’s ein Unsinn, dies bißchen Erdenleben. Sehr richtig! Hören Sie. Also: Da ist ein hoffnungsvoller, junger Mann, er sieht gut aus, alter Adel, Geld, lernt was, schneidig, ein Schloß, eine schöne Frau. Gut! Anfang der Vierziger sind ihm die Beine weg, rein weg, und so ’n Stück vom Rückenmark, sehen Sie, so ’n Stück, untauglich – zum Fortwerfen. Alles aus – finis –. Man lebt nur, um die Füße in die rote Decke zu wickeln, und auf Schmerzen zu warten. Ein Unsinn, so ’n Leben. Dafür all die Umstände mit dem Geborenwerden und Aufgezogenwerden. Aber, sagen Sie, Pastor, wo steht es geschrieben, daß das Leben einen Sinn haben muß? Bitte, wo steht das? Karola, Kind, was sagst du dazu?«
Karola reckte sich ein wenig in ihrem Sessel. »Ich?« sagte sie mit müder Stimme. »Warum soll man nicht darauf hoffen, warten? Man sieht eine Allee hinab, eine lange, lange Allee. Warum sollen wir uns da plötzlich eine schwarze Mauer denken? Das lieb ich nicht. Ich will hinabsehn, weit – weit –, bis da, wo ich vor Helligkeit der Ferne nichts mehr unterscheide.«
»Hm – ganz hübsch«, meinte der Baron. »Poesie, das ist was für die Gesunden. Liegt ihr mal im Bett und der Schlaf kommt nicht, und es zwackt und zieht an allen Nerven, da genügt die Poesie auch nicht. Nein, mein lieber Pastor, mit Ihrer Unsterblichkeit steht es schlecht.«
Er war müde vom Sprechen, lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. Es wurde still im Zimmer. Deutlich hörte man hinter dem Getäfel die eifrige Arbeit einer Maus.
»Da ist sie wieder«, sagte der Baron, ohne die Augen zu öffnen. »Nichts zu machen! Der alte Kasten will zusammenfallen, fängt an zu sprechen wie ein altes Weib. Aber, es lohnt sich nicht, etwas dafür zu tun, es lohnt sich nicht mehr.«
Langsam und eintönig sprach er vor sich hin. Es klang resigniert in die grüne Krankenstubendämmerung hinein. Der leise, hoffnungslose Seufzer des Kranken schien alle Tore des Lebens zu schließen. Werner sah zu Karola hinüber und begegnete ihrem Blick, dem seltsam schillernden Blick der schmalen, grauen Augen. Die Mundwinkel bogen sich hinauf, wie im Beginne eines Lächelns. Werner und Karola sahen sich ruhig an, wie uni sich aus der bedrückenden Traurigkeit dieses Gemaches in das Leben zurück zu retten.
Jakob brachte den Tee. Mit ihm erschien Karl Pichwit. Er verbeugte sich stumm und setzte sich.
»Ah!« rief der Baron. »Herr Pichwit der Page. Herr Pichwit der Troubadour!«
Pichwit verzog seinen zu kleinen kinderhaften Mund zu einem schiefen, hochmütigen Lächeln. Darin saß er stumm da und schaute sinnend auf Karolas Hände, die sich mit den Teetassen zu schaffen machten, schaute stetig und verträumt aus den runden, hellbraunen Augen, – blanke Melange hatte Karola von ihnen gesagt –, Augen, denen die blauen Schatten unter dem Augenlide etwas Kummervolles gaben.