Kitabı oku: «Der Traum vom kühnen Leben», sayfa 3
Nach den Prüfungen fiel ich erneut in ein Loch. Die Vorlesungen gingen erst im Januar weiter, und ich hatte den Mut wieder verloren, Paris zu durchstreifen. Ich spürte eine große Müdigkeit und ließ die Tage einfach an mir vorbeiziehen, ohne wirkliche Beschäftigung, so als wollte ich mich mit Evelynes Gesicht, das sich nach und nach entfernte, in diese Leere einschließen, um sie ein letztes Mal zu betrachten. Ich wusste noch nicht, dass wir einander im Laufe dieser Ferienwoche im Viertel über den Weg laufen und mehrere Monate lang zusammen sein würden. Bald sollte Evelyne mir meine Jugend nehmen, so wie man ihr die ihre genommen hatte.
Ich habe mir lange ausgemalt, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Ich würde die Wohnung in der Nummer 79 der Rue de Courcelles in dem kalten, schmucklosen Botschafts- und Büroviertel mieten und mein Leben noch einmal von vorne anfangen. Ich hätte Evelyne nie getroffen, mich vielleicht mit meinen Kommilitonen angefreundet. Doch es ist besser, nicht daran zu denken, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn Jérôme im Bistro dieses Weinglas nicht umgestoßen und ich Evelyne in den Weihnachtsferien nicht wiedergesehen hätte.
Ich habe keine Ahnung, was aus ihr geworden ist in den letzten dreißig Jahren, in denen ich sie nicht mehr gesehen habe. Ob sie immer noch an der Côte d’Azur wohnt? Sie muss inzwischen fünfundsechzig sein, ihr Gesicht durch die starke Sonnenexposition von tiefen Falten gezeichnet. Wahrscheinlich würde ich sie auf der Straße gar nicht mehr wiedererkennen. Trotz ihrer Abwesenheit schien es mir die ganzen Jahre über, ihr Schicksal sei im Verborgenen noch immer mit meinem verstrickt, so wie zwei im Unglück vereinte Wesen fähig sind, egal, wie groß die Distanz ist, wie viel Zeit vergeht, eine viel intimere und ausschließlichere Beziehung aufrechtzuerhalten, als wenn sie sich weiterhin sehen würden.
Jeden Nachmittag ging ich ins Café an der Rue du Petit-Musc. Ich musste erst mehrere dieser langweiligen, untätigen Tage über mich ergehen lassen, bevor sich unsere Wege wieder kreuzten. Ich arbeitete für die Universität vor, indem ich den Stoff für das zweite Semester durchging. Ich dachte an Evelyne und schämte mich, gescheitert zu sein bei meinem doch so simplen Vorhaben, Paris zu erkunden, und wieder brauchte ich es, mich an ihr festzuklammern. Wenn die Bank frei war, setzte ich mich in den großen Raum, an den Platz, an dem sie bei unserer ersten Verabredung auf mich gewartet hatte. Die Porträts des Manns und der Frau, die auf das Geschehen herunterblickten, beruhigten mich, die SchwarzWeiß-Fotos prägten den Raum, gaben ihm etwas Zeitloses. Jedes Mal, wenn die Bistrotür aufgestoßen wurde, hob ich den Kopf in der Hoffnung, es sei Evelyne und sie würde sich zu mir an den Tisch setzen. Manchmal hielt ich hinter der Scheibe nach ihr Ausschau und stellte mir vor, wie sie mit der weißen Hülle von der Reinigung über der Schulter hereinkäme, und alles würde wieder von vorn beginnen, mit dem amerikanischen Pärchen, das mich bitten würde, ein Foto zu machen. Einmal, noch vor Beginn der Weihnachtsferien, hatte ich mir überlegt, bei Schulschluss auf Jérôme zu warten. Vielleicht holte Evelyne ihn manchmal ab, aber dann fielen mir ihre Worte ein: Sie sah ihn nur sehr selten. Nach ihrer Trennung mehrere Jahre zuvor hatte ihr Mann das alleinige Sorgerecht für Jérôme erhalten. Vor dem Gymnasium hatte es ausgesehen, als wäre er der dunkelhaarigen Frau im Pelzmantel mit dem leeren Blick näher als seiner Mutter.
Am 24. Dezember, einem Donnerstag, machte das Café an der Rue du Petit-Musc gegen fünf Uhr nachmittags zu. Bis ich meine Sachen zusammengepackt hatte, hatte der Wirt das Licht bereits ausgemacht. Er hängte ein Schild an die Glastür, und ich beeilte mich, zu ihm auf die Straße zu kommen. Er drückte mir die Hand und wünschte mir frohe Festtage, und bevor er ging, fragte er mich mit einer sanften Stimme, die mich an die eines Arztes erinnerte, nach meinem Namen. Ich fürchtete mich davor, allein zurückzubleiben, so als würde ich gleich in Ohnmacht fallen, wenn er weg wäre. Ich wäre gerne noch länger mit ihm zusammengeblieben, wahrscheinlich, weil er mich geduzt hatte, mir mit Wohlwollen begegnet war, und ich wünschte mir, er würde mich von meinem Unbehagen befreien. Ich dachte kurz, er sei drauf und dran, mich einzuladen, den Heiligabend bei ihm zu verbringen. Er sah tatsächlich seinem Vater ähnlich, dem dunkelhaarigen Mann, dessen Porträt an der Wand hing. Ob seine Eltern noch lebten, wollte ich ihn fragen, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen, doch er wünschte mir fröhliche Weihnachten und drehte sich um. Ich blieb vor dem Café stehen, um ein wenig die Zeit verstreichen zu lassen, und sah dem Wirt nach, der die Straße hinunterging Richtung der Seine-Quais. Das Café werde erst am Montag, dem vierten Januar, wieder öffnen, stand auf dem Schild, und darunter »Bis nächstes Jahr«, gefolgt von drei Punkten.
Ich ging in die Rue Saint-Antoine und rief aus einer Telefonzelle meine Mutter an. Nein, ich sei nicht allein heute Abend, sagte ich ihr, während ich mich zwang, beruhigend zu klingen, ein Kommilitone habe mir vorgeschlagen, den Abend mit ihm bei seiner Familie zu verbringen. Ich stellte mir diesen jungen Mann als den großen Blonden aus Bordeaux vor, der mich kaum noch grüßte, wenn wir uns im Hörsaal sahen. Ja, versicherte ich ihr, ich würde meinem Freund eine Schachtel Pralinen und seiner Mutter einen Strauß Blumen mitbringen. Einige Sekunden später legte ich auf, ich hatte nicht die Kraft, sie noch weiter anzulügen. Sie könne verstehen, dass ich nicht zu spät zur Feier erscheinen wolle, hatte sie mir geantwortet, sie werde meinen Vater von mir grüßen. Ich hatte ganz vergessen, ihnen eine gute Reise zu wünschen: Am nächsten Tag bestiegen sie das Schiff nach Italien.
Ich hatte keine Lust, in mein Zimmer zurückzukehren, obwohl die Straßen ausgestorben waren und in mir dasselbe Gefühl der Verlassenheit auslösten, das ich zu Hause hatte. Ich hatte noch etwas Kleingeld und rief Evelyne an. Ich hatte nicht vor, mit ihr zu sprechen, falls sie abnehmen sollte, ich wollte nur ihre Stimme hören, bis sie sich über das Schweigen ärgerte und auflegte. Der Anschluss war nicht mehr erreichbar. Evelyne hatte von einer Stellvertretung in einem Gymnasium in der Banlieue gesprochen: Vielleicht war sie während der Ferien umgezogen, um bei Schulbeginn im Januar mit dem Unterrichten anzufangen? Ich spürte gleichzeitig Erleichterung und einen Stich im Herz: Mit Ausnahme von Paris, seinen vier oder fünf berühmten Vierteln, würde ich nie neue Horizonte entdecken, dachte ich plötzlich.
4
An den folgenden Nachmittagen ging ich in den Bar-tabac-PMU des Mousquetaires an der Rue Saint-Antoine. Dort sah ich, etwas verloren an der Theke, mehrere Gäste aus der Bar an der Rue du Petit-Musc wieder. Ich setzte mich an einen Tisch neben der Kasse hinter der Glastür, wo es nur das regelmäßige Vorbeifahren der Autos zu sehen gab. Trotz des Durchzugs saß ich lieber hier als im hinteren Teil, wo die Atmosphäre noch trister war und die angeschlagenen Fliesen auf dem Boden und die weiß verputzten Wände den trostlosen Charakter weiter verstärkten. Männer spielten Billard, während sie sich gegenseitig in die Arme pufften. Statt das Café fröhlicher zu machen, trug ihre Ruppigkeit noch zu meinem Unbehagen bei. Hätte ich in ihrer Nähe gesessen, hätte ich Angst gehabt, einen Stock mitten in die Brust zu bekommen oder, während ich in meinen Skripten und Lehrbüchern blätterte, ihr Gespött über mich hören zu müssen.
Es kam mir vor, als würden sich die wenigen Ferientage einen ganzen Monat lang hinziehen, und ich begann der Italienreise mit meinen Eltern nachzutrauern. Einer der Stammgäste, ein alter Mann, der sich an den Nebentisch gesetzt hatte und mit einem Monokel die Zeitung las, fragte die Wirtin in theatralischem Ton, als sie ihm den Kaffee brachte: »Sind Sie glücklich, Madame?« Sie war um die fünfzig und trug über ihrem Pullover eine Angoraweste, wohl, um sich vor dem Durchzug zu schützen. Sie zuckte die Achseln: »Man schlägt sich durch, Monsieur Dubreuil, man schlägt sich durch.« Von ihrer tiefen, vom Zigarettenrauch, der das ganze Café erfüllte, kratzig gewordenen Stimme ging eine große Kraft aus. Vielleicht hatte er eine andere Antwort erhofft oder vergessen, dass er sie schon am Tag zuvor gefragt hatte, denn er wiederholte die Frage jedes Mal im selben affektierten Ton. Ich hatte stets das Gefühl, er richte sich an mich, weil er danach um sich blickte, als suchte er die Bestätigung durch ein Publikum. Seine Frage kapselte mich noch mehr in meiner Einsamkeit ein, sie erinnerte mich an die kurzen Momente mit Evelyne, die sich von der Leere abhoben, in der die Seminare an der Universität und die im Café an der Rue du Petit-Musc mit Lernen verbrachten Stunden auf die immer selbe Weise aufeinanderfolgten. Seit den Ferien war meine Langeweile so groß, dass mir schien, mein Leben sei stehen geblieben. Ich hatte das Gefühl, mich in einer eintönigen, endlos langen Gegenwart zu bewegen, und einzig die Vergangenheit, die ich mir mit Evelyne ausmalte, war hell. Ich füllte diese Leere mit Erinnerungen aus, die im Laufe der Tage zunehmend sinnlicher wurden, so als würden wir einander immer näher kommen. Dabei war ich unfähig, den Gedanken zu verdrängen, dass das alles nur erfunden war, und je mehr ich vor der Wirklichkeit flüchtete, umso elender fühlte ich mich.
Evelyne entglitt mir in diesem Wahn immer mehr. Wir hatten uns nur zweimal gesehen, und ich hatte inzwischen Mühe, mich an ihr Gesicht, an den Klang ihrer Stimme zu erinnern. Einzig ihr Lachen und die Farbe ihrer Haare waren intakt erhalten geblieben. Meine Einbildungskraft genügte nicht, sie derart in mir wachzurufen, wie sie mir bei unserer Begegnung erschienen war, und ich konnte nicht verhindern, dass sich dieser so starke Eindruck, den sie bei mir hinterlassen hatte, immer weiter verflüchtigte. Bald wäre Evelyne genauso durchsichtig wie die unbekannten Frauen in der Metro, für die ich eine Zuneigung verspürte, von der kurz darauf nur noch Gleichgültigkeit übrig blieb. Jeden Tag las ich vor dem Café an der Rue du Petit-Musc das Schild an der Eingangstür, das den Kunden frohe Festtage wünschte. Ich hatte Weihnachten allein verbracht, und es kam mir vor, als lebte ich außerhalb der Welt, als hätten die Kalenderdaten nichts mit mir zu tun.
Ich fand ein wenig Trost im Hund der Wirtsleute, einem alten, hinkenden Labrador mit braunem Fell, der sich an meine Beine schmiegte. Das Café war vom Kommen und Gehen der Kunden bestimmt, die Zigaretten kauften und Lotto spielten, und der Touristen, die minutenlang die Ständer mit den Ansichtskarten herumdrehten. Auf einer von ihnen erkannte ich die roten Backsteinfassaden am Rand des öffentlichen Parks am Ende der Rue de Birague, dessen karge Bäume man vom Café aus sah, wenn der Nebel sich auflöste. Ganz unten stand in kursiver Schrift, dass es sich um die Place des Vosges handelte. Ich pinnte diese Ansichtskarte an meine Wohnungstür in Erinnerung an die Schwarz-Weiß-Bilder von Paris, die mein Zimmer in Antibes geschmückt hatten.
Ich hatte zwei, drei Lehrbücher dabei, konnte mich jedoch im Café nur mit Mühe konzentrieren wegen des Publikumsverkehrs und der Männer, die so laut sprachen. Ich unterbrach meine Arbeit und beobachtete die Leute auf der Straße oder blätterte im Wettmagazin Paris Turf, das auf dem Tisch herumlag. Ich las die »Geheimtipps der Profis«, die Namen der Pferde. Eines Tages setzte ich auf das Pferd Don Romantique und suchte im Ausgang des Rennens nach einem Zeichen, nach einer Antwort auf die Frage, ob ich Evelyne wiedersehen würde. Das Pferd ging als zweitletztes durchs Ziel, und an jenem Tag kehrte ich früher nach Hause zurück, fest entschlossen, die weiße Kleiderhülle in meinem Schrank loszuwerden. Wieder fiel mir der Satz meines Vaters ein. Ich war der Reiter, der ein Rennen verloren hatte, und er ermahnte mich, ein Hindernis nach dem anderen zu nehmen. Der Hund folgte mir ein Stück auf der Rue Saint-Antoine und kehrte dann wieder ins Café zurück, die Pfote musste ihn geschmerzt haben, und ich fragte mich einen Augenblick, wer von uns beiden sich eigentlich an wen hängte.
Die Gespräche an der Kasse beschränkten sich auf das strikte Minimum, kaum dass die simplen Höflichkeiten wie Guten Tag, Danke oder Auf Wiedersehen getauscht wurden. Manchmal ließ mich ein liebenswürdiges, schüchternes Stimmchen aufhorchen, das um eine Schachtel Streichhölzer, ein Päckchen Zigaretten bat und das ich zwei oder drei Tage später erneut hörte. Ich spürte darin eine Fragilität, die mich in den ersten Sekunden gefangen nahm und die sie von den anderen Kunden unterschied, so als kämen diese Menschen einzig hierher, um mit der Wirtin über die Kälte zu sprechen, die draußen herrschte, über die Tage, die viel zu kurz waren, und so lange wie möglich in ihrer Nähe zu bleiben. Die Einsamkeit schnürte ihnen die Kehle zu, und ihren Lippen entwich nur eine dünne Stimme. Ich hatte das Gefühl, ihren Geisteszustand zu erfassen, ihr Inneres, in dem ich meine eigenen Qualen wiederfand. Warteten sie darauf, dass der Mann mit dem Monokel sie ebenfalls fragte, ob sie glücklich seien, um sich dann an seinen Tisch zu setzen und mit ihm Bekanntschaft zu schließen? Um mich zu beschäftigen, führte ich ein Register über ihr Erscheinen im Tabakladen. Ich sah ihr Profil oder ihre Silhouette erst, wenn sie das Café verließen und sich auf der Straße entfernten. Es war einfacher, mir ihre Stimmen, die besonderen Melodien in Erinnerung zu rufen, wenn ich ihre Gesichtszüge nicht kannte. Danach klangen sie in mir weiter als leise Musik, so als würden sie, indem sie sich miteinander vermischten, meiner inneren Stimme so nah wie möglich kommen, sofern diese überhaupt eine akustische Gestalt hatte. Ich hielt in meinem Heft jedes besondere Kennzeichen fest und fügte in Klammern das Datum ihres Erscheinens im Laden hinzu:
Junge Frau, ungefähr fünfundzwanzig, Hustenanfall, langer grauer Mantel, Lucky Strike Blue (Freitag, 25. Dezember, Samstag, 26. Dezember, Sonntag, 27. Dezember).
Siebzigjähriger Mann, groß, Glatze, Marlboro (Samstag, 26. Dezember, Montag, 28. Dezember). Michel P.
Beim zweiten Mal war dem Mann ein Briefumschlag aus der Tasche gefallen, und ich hatte beim Aufheben nur die Zeit gehabt, seinen Vornamen zu lesen. Er hatte sich mit liebenswerter, sanfter Stimme bedankt und war hinausgestürzt. Hatte ihn dieser Brief unglücklich gemacht?
Frau zwischen vierzig und fünfzig, an Krücken, Lottoschein (Mittwoch, 30. Dezember).
Teenager, groß und mager, Zigarillos Davidoff »für seinen Vater« (Montag, 28. Dezember, Dienstag, 29. Dezember, Mittwoch, 30. Dezember).
Ich hatte »für seinen Vater« nachträglich zwischen Gänsefüßchen gesetzt, ich war nicht sicher, ob nicht seine Freunde an der Straßenecke auf ihn warteten, um sich das Päckchen mit ihm zu teilen, was auch erklären könnte, warum er sich so emphatisch an die Wirtin wandte. Er kaufte jedes Mal eine Fünferpackung. Aber ich spürte hinter der Lüge einen Kummer heraus, der ihm die Kehle zupresste und dessen Gründe mir unbekannt waren.
Am Mittwoch, den 30. Dezember, hustete die junge Frau nicht mehr, ich hörte, wie sie die Wirtin selbstsicher und mit einer vollen Stimme ansprach. Diesmal stand sie nicht lange an der Kasse. Sie war von einem gleichaltrigen Jungen begleitet, der sie auf der Straße an der Hand nahm. Sie musste hübsch sein, ihre Silhouette war dünn, und ihre kastanienbraunen Haare reichten ihr bis zur Hüfte. Nachdem ich sie im Café lachen gehört hatte, strich ich durch, was ich über sie geschrieben hatte. Und sehr schnell fand ich eine andere Person, mit brüchiger, klagender Stimme, an der ich mich festhalten konnte.
Es war kurz vor sechs, als mich ein leises Geräusch, gefolgt von einem immer schneller werdenden Trommeln aus meinen Gedanken riss. Auf der Höhe meines Gesichts klopfte jemand mit dem Handrücken an die Fensterscheibe des Cafés. Es war Evelyne. Sie winkte mir zu. Ihren Sohn hatte ich nicht sofort bemerkt, er stand etwas abseits und trug eine Brille, die die Züge seines Gesichts weicher machte. Sie stieß die Tür zum Café auf und rief mir frohgelaunt zu:
»Na, Yves, den Kopf immer in den Büchern?«
Jérôme sagte nichts, als ich ihn ebenfalls begrüßte. Im Café liefen seine Brillengläser an, er legte sie auf den Tisch und kauerte sich dann nieder, um den Labrador zu streicheln, dessen Schnauze meine Schuhe berührte. Jérôme erinnerte mich an den selbstsicheren Jungen, der ich in seinem Alter gewesen war. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, hatte ich den Eindruck, meine Vergangenheit steige an die Oberfläche, um mir vor Augen zu führen, wie verletzlich mich das Leben gemacht hatte, statt mich abzuhärten. Und mir schien, er würde später dem großen Blonden aus Bordeaux gleichen.
»Ist das dein Hund?«, fragte er.
»Nein, er gehört dem Wirt, er wärmt mir nur die Füße«, antwortete ich und zwang mich zu einem Lächeln.
Ich hatte damit gerechnet, dass Evelyne sich ein Päckchen Zigaretten, eine Süßigkeit für ihren Sohn kaufen und sich wieder verabschieden würde. Sie schien sich nicht an meinen Anruf einen Monat zuvor zu erinnern. Vielleicht hatte das Klavier meine Stimme am Telefon übertönt, als ich meinen Namen sagte, und sie hielt mich für jemand anderen.
»Ich nehme an, du hast schon etwas vor heute Abend?«
Da fiel mir ein, dass der einunddreißigste Dezember war. Dabei hatte ich schon seit einer Stunde auf der Straße Leute mit Paketen, Weinkisten oder Champagnerflaschen auf dem Arm vorbeilaufen sehen. Aber ich war wie von der Gegenwart ausgeschlossen, ich gehörte in diese zähe Zeit im Hintergrund, die sich seit Beginn der Ferien ständig identisch wiederholte.
»Ja«, sagte ich zögernd, »ein Freund von der Universität gibt eine Party.«
Evelyne schien sich nicht daran zu erinnern, was ich ihr im Café gestanden hatte: dass ich abgesehen von einer alten Cousine in Paris niemanden kenne. Sie war an dem Tag so nervös gewesen, dass sie mir nicht zugehört hatte.
»Hast du trotzdem Zeit, etwas mit mir zu trinken?«, fragte sie mit schüchterner Stimme, als fürchtete sie meine Antwort.
»Doch, ja. Ich bin sowieso nicht sicher, ob ich zu dieser Party gehe, sie ist am anderen Ende von Paris.«
Evelyne war Silvester allein, und ich hatte keine Ahnung, warum sie den Abend mit einem Jungen in meinem Alter verbringen wollte. War das wieder diese Jugend, die sie in kleinen Häppchen nachholte?
Sie müsse erst Jérôme nach Hause bringen und werde in etwa zehn Minuten wieder im Café sein, sagte sie. Es war Donnerstag, und am Wochenende fahre sein Vater mit ihm für die Ferien in die Normandie. Ich verkniff es mir, ihnen auf der Straße nachzuschauen. Ich suchte mit der Hand unter dem Tisch nach dem Hund, aber er war nicht mehr da. Er musste sich von Jérôme belästigt gefühlt haben. Hatte Evelyne gar nichts gekauft im Tabakladen, war sie einzig hereingekommen, um mich zu sehen? Würde sie zurückkommen, wie sie es versprochen hatte? Ich hatte das Gefühl, nichts Handfestes mehr zu haben, an dem ich mich festhalten konnte, abgesehen von der runden Brille mit dem hellgrünen Gestell, die Jérôme auf dem Tisch liegen gelassen hatte und deren Bügel ich während des Wartens nervös auf- und zuklappte.
Er war ein Junge mit kastanienbraunen Haaren und vollen Wangen, die ihm trotz des harten Blicks eine kindliche Sanftheit verliehen. Jérôme hatte bestimmt keine Angst, allein durch das Viertel zu streifen, das er besser kennen musste als ich. Er hatte diese Unbekümmertheit gegenüber anderen, auf die Evelyne mich bei den Parisern aufmerksam gemacht hatte, und gleichzeitig diese Sicherheit, mit der sich, dem Anschein nach, die Söhne aus guter Familie durchs Leben bewegen. Ich war ebenfalls ein Sohn aus guter Familie, aber seit ich in Paris war, glich ich eher einem verlorenen, melancholischen jungen Mann. Als ich bei meinen Eltern in Antibes auszog, ließ ich dort einen ambitionierten Studenten zurück, seines Erfolgs gewiss, dem es an Fantasie fehlte. In dieser Einsamkeit war ich ich selbst geworden: ein fragiler, verträumter Junge, leicht beeindruckbar, und in Gesellschaft vermochte keine Fassade mein Innenleben zu verbergen.
Als ich Evelyne auf den Bar-Tabac zukommen sah, war meine Emotion viel stärker, unerwarteter als die in meiner Imagination: In das Glück, das ich empfand, mischte sich die Angst, sie könnte mich plötzlich verlassen. Bevor sie sich mir gegenüber hinsetzte, faltete sie ihren Schal und legte ihn über die Lehne ihres Stuhls. Ihr dunkelbrauner Ledermantel reichte ihr bis knapp über die Knie. Sie stand im Durchzug neben der Eingangstür, und es war jetzt, wo es dunkel geworden war, noch kälter als zuvor.
»Eigentlich mag ich die Atmosphäre der einfachen Cafés, aber hier ist es ein bisschen traurig, findest du nicht?«
Sie sprach mit einer sanften Stimme, die beruhigend auf mich wirkte.
»Ja, im Viertel hat alles zu«, sagte ich, während ich mit dem Finger auf Jérômes Brille auf dem Tisch zeigte.
Sie steckte sie kommentarlos in ihre Manteltasche. Es schien mir, sie freue sich, sie an diesem Ort wiederzufinden und wie einen Talisman an sich zu nehmen.
»Es ist schön, in Paris zu sein, selbst wenn keine Menschenseele auf der Straße ist«, sagte sie.
Evelyne wohnte inzwischen in der Banlieue, in der Dienstwohnung, die ihr vom Gymnasium zur Verfügung gestellt wurde, in dem sie ab Januar unterrichten würde. Die Schule lag auf einer Anhöhe über einer ländlichen Kleinstadt. Sie hatte ihre Pariser Wohnung zu Beginn der Schulferien geräumt, eine kleine Zweizimmerwohnung in der Nähe der Metrostation Passy. Vom Wohnzimmerfenster aus konnte man die Spitze des Eiffelturms sehen, aber was ihr am meisten fehlte, seit sie auf dem Land lebte, waren die Geräusche der Hochbahn und der Autos, der Geruch der Seine und der Wasserstaub, der ihr Gesicht besprühte, wenn sie bei schlechtem Wetter durch die Avenue du Président-Kennedy lief.
»Weißt du was, ich habe den Eiffelturm noch nie gesehen«, sagte ich mit einem leichten Grinsen. »Außer auf Fotos.«
Ich dachte an eine der schwarz-weißen Ansichtskarten von meinem Großvater, auf der der breitbeinige Turm die Stadt mit einem vertikalen Strich in zwei Teile schnitt und den Gebäuden um den Champ-de-Mars die Dimension von Puppenhäusern verlieh.
»Ich war auch noch nie oben. Ich bin nicht schwindelfrei«, antwortete sie und erwiderte mein Lächeln.
Sie schien aufrichtig: Sie spielte nicht mehr wie das letzte Mal im Café die etwas frivole Studentin, und auch nicht die Bürgerliche aus den schicken Vierteln.
Evelyne fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, gleich jetzt mit ihr auf den Eiffelturm zu gehen. Jérôme sei schon mit der Schule dort gewesen, und außerdem würde sie, um sich der »Höhenangst« zu stellen, lieber mit mir hinaufgehen. Wir würden uns gemeinsam mit den anderen Touristen, die mit ihren Rucksäcken und den Stadtplänen in der Hand vor der Kasse warteten, in die Schlange stellen. Jetzt, wo sie außerhalb von Paris wohnte, war sie wieder zu dieser jungen Frau aus Besançon geworden, die gerade in der Hauptstadt gelandet war, und sie fand die Vorstellung lustig, so zu tun, als könnte alles noch einmal von vorne anfangen. Ihrer Ansicht nach gehörte Paris diesen Provinzlern, die sich auch Jahre nach ihrer Ankunft noch immer für das Panorama begeistern konnten.
»Einverstanden«, sagte ich. Ich könne sie verstehen, ich hätte auch keine Lust, allein hochzusteigen.
Evelyne hoffte, dass ich trotzdem noch zu der Party meines Freunds gehen konnte. Und sie fügte lachend hinzu:
»Ich werde dich vor neun freilassen, versprochen.«
Ich antwortete nicht.
»Mir war Paris nachts immer am liebsten.«
»Mir auch«, sagte ich. »Man fühlt sich etwas weniger verloren, und leichter, wenn um einen herum alles erlischt.« Wir verließen das Café, ohne auszutrinken, und stiegen in die Gänge der Metro hinab. Evelyne kannte den Weg auswendig, sie musste ihn jedes Mal nehmen, wenn sie Jérôme abholte. Ich folgte ihr, ohne auf die Richtung oder den Namen der Station zu achten, an der wir in die Hochbahn wechselten.
Beim Aussteigen erblickte ich ihn, aber Evelyne ging so schnell, dass ich nicht stehen bleiben konnte, um das gigantische Bauwerk zu betrachten, dessen erdrückende Ausmaße und Proportionen auf einer Ansichtskarte nur schlecht wiedergegeben wurden. Ich blieb ihr dicht auf den Fersen, versuchte gar nicht erst, mir den Namen der Straßen zu merken, fragte mich nicht, wie ich wieder nach Hause kam, so sehr fürchtete ich, sie könnte mich abhängen. Es war sehr viel los an jenem Abend, und ich war gezwungen, mich wie sie mit kleinen Schritten im Zickzack durch die Touristengruppen hindurchzuschlängeln, um mich auf ihrer Höhe zu halten. Evelyne erinnerte mich an diese Leute, die einen auf der Straße anrempelten und sich nicht umdrehten, um sich zu entschuldigen. Es wundere mich, rief ich ihr zu, während ich sie an der Schulter fasste, dass sie mit ihren hohen Absätzen so schnell laufen könne. Sie entschuldigte sich, sie fühle sich von der Menge bedrängt, aber sie versprach mir, langsamer zu gehen. Wir waren fast da, und die meisten Passanten waren Richtung Quais gezogen. Sonst könnten wir vielleicht die Schuhe tauschen, scherzte sie, damit ich schneller vorankäme.
Die Straßen rund um den Champ-de-Mars waren breit, tief, und die stattliche Architektur der Gebäude, der Efeu an den Fassaden sorgten für eine gedämpfte, strenge Atmosphäre. Zu dieser Stunde waren nur wenige Wohnungen erleuchtet. Laut Evelyne wurden ganze Etagen von diplomatischen Korps als Zweitunterkünfte genutzt. Das Fehlen von Blumen auf den Balkonen, die nackten Fenster erweckten den Eindruck, dass zahlreiche Wohnungen leer waren, wodurch die Straßen finster wirkten. Die Reflexe auf den Scheiben verlängerten die Dunkelheit und machten sie noch tiefer. In der Ferne tauchte der Park auf, die trockene, graue Erde, die im Winter an die Stelle des grünen Rasens getreten war. Für Schnee war es um diese Jahreszeit nicht kalt genug. Hier waren kaum noch Leute unterwegs, mit Ausnahme von ein, zwei Schwarzhändlern, die sich regelmäßig durch das Klimpern ihrer Schlüsselanhänger in Form von Eiffeltürmen bemerkbar machten und die in dieselbe Richtung liefen wie wir. Plötzlich hatte ich den Eindruck, Paris verlassen zu haben und auf dem Land zu sein. Es reichte, die Augen zu schließen und sich vom Geklimper der Schlüsselanhänger einwiegen zu lassen, das ich mit den Glocken einer Schafherde vertauschte. Aber die Angst war noch immer da, nicht mehr die Angst, mich zu verirren, sondern die Vorahnung, ich steuere auf eine Sackgasse zu. Das Geräusch der Schlüsselanhänger erinnerte mich an das unerbittliche Ticktack einer Uhr: Die Stunden mit Evelyne waren gezählt, und bald würde sie wieder verschwinden. Ich hatte das Gefühl, mich in einem Traum zu befinden, in dem mir alles offenbart wurde, was ich ihretwegen durchmachen würde: unser Leben in einem Gymnasium im Umland von Paris, ihre fluchtartige Abreise nach Nizza und die vier Monate, die wir, Jérôme und ich, zusammen verbrachten und auf sie warteten. Aber vielleicht spürte ich an dem Abend auch nichts anderes als die Angst vor dem Unbekannten, die mich, wie mir heute scheint, die Ereignisse ahnen ließen, die auf meine Begegnung mit Evelyne folgen sollten.
»Wusstest du eigentlich, dass ursprünglich vorgesehen war, den Eiffelturm nach der Weltausstellung von 1889 wieder abzureißen?«, fragte sie.
Und wie am Morgen beim Aufwachen vergaß ich den Traum sofort wieder. Es blieb einzig das Vorgefühl, dass mein Leben sich nach und nach auf den Weg reduzierte, den ich mit Evelyne gemeinsam gehen würde, ohne mir genau erklären zu können, woher dieser Eindruck rührte, den ich dabei hatte: Es ist zu spät und es gibt kein Zurück mehr. War das dieses kühne Leben, das nun begann? Ein Leben, von dem man nicht weiß, was am nächsten Tag geschehen wird?
Auf dem Platz vor dem Eiffelturm stellten Evelyne und ich uns in die Schlange vor dem südlichen Pfeiler. Wir hatten Glück, ihrer Ansicht nach war es noch früh, und die meisten Besucher kamen erst nach dem Abendessen, gegen elf, in der Hoffnung, den Jahreswechsel auf einer der drei Plattformen zu erleben. Allmählich begann Evelyne ein Gefühl von Schwindel zu spüren, sie sagte mit ihrer hohen Mädchenstimme: »Ich fühle mich ganz klein, fast erdrückt«, und zog die Lederhandschuhe aus, um sich eine Zigarette anzuzünden. Sie schien auf etwas anderes anzuspielen als auf ihre Höhenangst, denn sie wandte danach rasch den Blick ab, als wäre ihr in dem Augenblick der versteckte Sinn ihres Satzes bewusst geworden. Ich hatte Lust, sie in die Arme zu nehmen, aber vor allem, um meine eigene Angst zu beruhigen. Um uns abzulenken, amüsierten wir uns damit, die fremden Sprachen zu erraten, die wir um uns herum hörten. Das erinnere mich, sagte ich ihr, an die Autofahrten als Kind, auf denen ich die beiden letzten Zahlen auf den Nummernschildern zu identifizieren und den Departements auf der Michelin-Karte zuzuordnen versuchte, die ich auf meinen Knien ausgebreitet hatte. Die Schlange bestand fast ausschließlich aus Amerikanern und Japanern. Nach einer Viertelstunde waren wir praktisch beim Eingang des südlichen Pfeilers angekommen. Evelyne kaufte die beiden Tickets, und wir mussten lachen, als der Mann am Schalter sie zu ihrem ausgezeichneten Französisch beglückwünschte. Er hatte sie für eine Ausländerin gehalten. Evelyne bedankte sich und erklärte mit spitzbübischer Miene, sie sei für eine Woche Ferien in Paris. Sie lebe in San Francisco und habe vor sehr langer Zeit Französisch gelernt.
Wieder warteten wir, um in den Aufzug zum ersten Stock zu gelangen. Evelyne drückte sich an meine Schulter, sie fürchtete, dass der junge Mann in der roten Livree, der den Aufzug betätigte, uns trennen könnte. Seine Arbeit bestand darin, dafür zu sorgen, dass die größtmögliche Anzahl Personen, die die Kabine fassen konnte, einstieg, damit die Zirkulation der Besucher so flüssig wie möglich verlief. Er schob eine weinrote Kordel mit vergoldetem Endstück vor und zurück, um die Schlange der Wartenden vor den Aufzügen entweder aufzuhalten oder vorwärtszudirigieren.
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