Kitabı oku: «Das lange Echo», sayfa 2
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Der Offizier Milan Nemec war in der Stadt, um im Rücken der Front für Ruhe und Ordnung zu sorgen, um zu helfen, die Landesressourcen bestmöglich auszunutzen und um die Kommunikationslinien, die immer unüberschaubarer wurden, am Laufen, sei es auch am Irrlaufen, zu halten. Glücklich machte das einen Mann nicht. Seit Kinos und Schwimmbäder extra für Offiziere eingerichtet worden waren, war alles etwas leichter auszuhalten. Aber nein, glücklich, das konnte man nicht behaupten, dass er das war, der Nemec.
Warum er jedoch in diesem Ausmaß überreagierte an jenem Herbsttag, bleibt bis heute zu einem gewissen Grad unerklärlich. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass es der trommelnde Einsatz des Wortes Wir gewesen war, der ihn irritiert hatte, oder, noch wahrscheinlicher, das ebenso schlagende Wort Palatschinken, weil ihm sofort der Geruch von verbranntem Fett in die Nase stieg, wenn er dieses Schreckenswort hörte.
Wir, meinte dieser Besuch etwa, wir haben unsre militärische Niederlage ja bloß eing’steckt, weil wir den Frieden geprobt haben, in den letzten Jahrzehnten. Unsre Armee: ein depperter Lipizzaner, der nur für Paraden taugt, unsere Truppen, die man erst niederpeitschen muss, damit sie lernen, was Galopp ist. Das konnte ja wohl kein Erfolg werden, nicht wahr, wenn wir die Herrn Soldaten schlafend an die Front transportieren müssen, anstatt dass sie selbst dahinfinden, auf ihren zwei Beinen. Diese Soldaten, die wir erst von ihrem weißen Kaffee und ihrem Guglhupf entwöhnen mussten, bis sie kapiert haben, was das heißt, Krieg. Und als wir sie aus allen Teilen unseres Reiches zusammenmobilisieren mussten, von ihren Feldern holen, mitten aus der Ernte: Was wir ihnen da nicht alles mitgegeben haben auf die schöne Reise: neues Schuhwerk und sauberes G’wand, Brotsäcke, Tornister, Taschenlampen und Kompasse. Wie für eine Abenteuerexpedition, eine kleine Entdeckungsreise ausgerüstet haben wir sie, samt ihren Backhenderln und dem Paprikasch und den Palatschinken, lauter Herren, die vor dem Krieg nichts waren und nichts gehabt haben, und dann auf einmal, im Krieg, haben sie Zahnbürsterl im Sackerl. Wer weiß, ob die überhaupt schon jemals ein Zahnbürsterl in der Hand gehabt haben vor dem Krieg. Na, da haben sie sich dann ang’schaut, die Herren Soldaten, wie’s aus war mit den Henderln und den Palatschinken und dem Tabak und den Zahnbürsterln. Da war die Moral am Anfang noch hoch, bei der Truppe, aber die Moral, die ist gleich mit bergab, mit der Verpflegung. Weil als sie im Dreck gelandet sind und die Decke feucht und plötzlich, Überraschung, die Sackerln alle leer war’n im Krieg – aus mit den Palatschinken, mitten im Schlamm und im Graben –, da sind sie aufg’wacht, die Herrschaften. Natürlich hat er sie überrascht, der Krieg, der sie ihr Leben hat kosten können, der schon ihre Kameraden das Leben gekostet hat. Und dann, als sie das verstanden haben, unsere Soldaten, die vor dem Krieg nichts waren und nichts gehabt haben, und erst recht, nachdem sie zurückgejagt wurden vom Feind, nur zum Teil zurückgejagt, der andere Teil war im Graben geblieben, da war die Überraschung groß. [Hüsteln] Ja, zugegeben, auch unsre Überraschung war recht groß, so haben wir den nicht vorberechnet, den Feldzug. [Abermaliges Hüsteln] Aber dafür war dann die Vorbereitung für den zweiten Feldzug umso besser, und da war’s dann vorbei mit sauberen Sackerln voll mit Zahnbürsteln, darum geht’s. Ein Krieg ist keine Hochzeit, zu der man mit sauberen Zähnen hingeht. Dann aber haben wir den Feldzug, den zweiten, gewonnen, von dem wir nicht gedacht hätten, dass er nötig sein würde, bei diesem blöden Feind. Bloß, das kommt eben davon, wenn wir die Soldaten mit Würschteln und Palatschinken in so einen Feldzug schicken. Aber! Beim zweiten Ins-Feld-Ziehen, da war klar: Nichts ist’s mehr mit Palatschinken an der Front. [Schlag auf den Tisch, zufriedenes Zurücklehnen] So haben wir endlich unsre und die Ehre unsres Kaisers wiederhergestellt, und nur darauf kommt’s an, ob man das kann.
Der Milan Nemec war in seinen nicht sehr begeisterten Gedanken gefangen. Er murmelte unvorsichtigerweise vor sich hin, anstatt zu schweigen, wie er immer geschwiegen hatte, wenn es sein musste. Sein Murmeln blieb jedoch unverständlich für sein Gegenüber. Es waren ganz unwirkliche Gedanken, die ihn gefangen hielten, in etwa solche:
Ja, aber. Das ist ja ein seltsames Gesicht. Was schaut mich dieses nach Seife riechende Gesicht so an und schaut dabei so blöd aus? War das Gesicht da denn überhaupt an der Front? Hat es denn auch den Dreck nicht mehr aus den Stiefeln gekriegt? Welche Ehre? Ja, welche Ehre denn bitte wiederhergestellt? Gesiegt! hätten wir doch niemals! Ohne die Preußen und diese seltsamen Balkanpreußen dazu. Das kommt jetzt davon, diese Balkanpreußen teilen sich das ohnehin zu kleine Gebiet mit uns, das ganze östliche Land und das mazedonische daneben mussten wir abtreten an sie. Schaut denn so überhaupt ein echtes Gesicht aus oder ist es nur eine eingecremte, ölig glänzende Maske, die mich da so blöd anschaut? Ob der wohl glaubt, dass diese ganze Einseiferei und Eincremerei ihm einen himmlischen Wohlgeruch verpasst, der ihm dann, sollte er doch mal krepieren, was im Krieg ja schneller passieren kann, als man glaubt, die Unverweslichkeit garantiert? Deshalb das ganze verfluchte Fett und Öl in seinem Gesicht, während er von unseren großen Eroberungen spricht? Wo uns doch nur Belgrad bleibt, dieses Loch, das nur dazu da ist, den lausigen Rest der westlichen und südlichen Landesteile zu verwalten und Etappenaufgaben zu erledigen, die eine Demütigung sind für unsere Offiziere und Soldaten. Ja, welche Ehre denn bitte, bei so einem ganzen und großen Schlamassel? Du dummes Gesicht; da möchte ich bloß wegschauen, mich bloß wegdrehen von dir, bei so viel Seife und Creme und öligem Grinsen.
Hinter diesem unhörbaren Murmeln war ein noch ungehörigeres Denken zu erahnen, eines, das den Milan Nemec seit einigen Tagen nicht mehr verlassen wollte. Ein zweifelndes, verzweifeltes Denken, das mit dem Galgen zu tun hatte, an dem er vor wenigen Tagen vorbeispaziert war. Dabei war er schon an vielen Gehängten vorbeispaziert, nicht nur in Belgrad, auch in den nördlichen und nordwestlichen Sümpfen dieses Landes. Keine dieser Gestalten hatte einen Platz in seinen Erinnerungen beansprucht, keiner dieser Toten wollte ihm im Gedächtnis hängen bleiben. Das blieben nur kleine schwarze Fragezeichen, ganz unauffällige, die sich in den scheinbar endlosen Weideflächen wie überflüssige Vogelscheuchen ausmachten. In seinen seichten Erinnerungen an die Maisfelder und kleinen Dörfer, durch die er mit den Truppen gezogen war, waren diese Vogelscheuchen untergegangen, ganz wie die kleinen Dörfer selbst, die sich so tief in diese Maisfelder hineinduckten, als wollten sie sich vor den herannahenden Truppen verstecken. Da war wohl nach ihrem Abzug das eine oder andere struppige Dorf inmitten der wüsten, weiten Landschaft gewesen, im Dorf ein paar verkohlte Scheunen und Hütten, davor ein paar Bäume mit Gehängten, manchmal noch ein Feuer, ein Rauch, der aufstieg, durch die Baumkrone, und dann übers Land zog. Ein Land, das eine Zeit lang ganz bissig und verkohlt wirkte, bis sich all das legte, bis sie endlich vorbeigezogen waren und alles Gesehene in beißendem Nebel verschwand, wie nie da gewesen. Dinge, vor denen ihm grauste, als er sie sah und hörte, die er aber in nicht deutbare Traumbilder hatte zerrinnen lassen. Was sie niederbrannten, konnte wieder aufgebaut werden. Als es später um die Landesressourcen ging, die sie ausnutzen mussten, sah alles ganz anders aus, da trauerten sie um jedes tote Feld, das ihre Truppen hinterlassen hatten, das schon. Die Galgen und das Hängen in den Bäumen jedoch … nur kleine schwarze Fragezeichen in einer fremden Gegend, einer unfreundlichen. Nichts, woran tagsüber zu denken Zeit blieb, wenn man, wie der Milan Nemec, mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt war, nichts, woran in hundert Jahren zu denken Zeit bliebe.
Genauso undeutlich waren ihm die späteren Belgrader Galgen in Erinnerung, die so häufig seinen Weg versperrt hatten. Sehr verschwommen war zum Beispiel – in Grauschattierungen wie eine alte Fotografie – eine kleine Darstellung in seinem Kopf haften geblieben: ein Mann in der Mitte, an einem Strick, Schaulustige drumherum positioniert, ein Offizier verliest das Urteil, ein zweiter hält mehrere Schlingen in der Hand, daneben der Priester wie eine lustige Erscheinung in einer Komödie, hinter ihm der Henker, rechts zwei neugierige Sanitäter, schau, wie lustig, alle starren sie dich an, starren aber eigentlich den Fotografierenden an, der sich ihnen gegenüber aufgestellt hat und hinter dem du stehst, sodass alle scheinbar dich anvisieren, während sie für die Kamera posieren. Der da am Strick hängt, das merkst du beim Vorbeigehen, wird nicht wirklich hingerichtet, hier wird geprobt. Du verstehst: Diese Szene bietet sich dir nur dar, weil dringend neue Henker ausgebildet werden müssen. Man kam zu diesem Zeitpunkt, in dieser Anfangszeit der Besatzung, mit der großen Anzahl an Todesurteilen schon nicht mehr hinterher, und da musste die Militärverwaltung für den Henkersnachwuchs sorgen.
Aber kein Bild, keine Szene hatte sich auf solch eine Weise in seine Hirnritzen eingekratzt wie das Bild des Galgens im Herbstbelgrad 1918, der nur für ihn … oder doch nicht, wer weiß. Nicht weil es ein besonderer Galgen gewesen war, keineswegs, noch weniger wegen des jungen Mannes, der gehängt worden war, auch nicht wegen des Mütterchens, das sich da so klagend an die Füße des Gehängten klammerte. Sondern nur aufgrund des leise gejammerten Namens, den dieses Mütterchen dabei vor sich hinmurmelte: Milane! Milane! In unaufgeregter Monotonie murmelte es den Namen, der unglücklicherweise … ausgerechnet! … der seinige sein musste. Dieses murmelnde Jammern hatte sich bis in seine Schläfen vorgearbeitet, drückend, pochend, andauernd, das Echo dieser Stimme blähte ihn innerlich auf. Als nun der Mann vor ihm so überzeugend sprach, machte sich in seinem Kopf undeutlich die Vorstellung breit, dass es ein großes Wir gab, das er nicht mehr ganz fassen konnte, seit das Mütterchen am Galgen seinen Namen gejammert hatte, und dass es dann noch ein kleines Ich gab, das er zwar besser fassen konnte, an das er aber kraft seines Ranges und seiner Moral nicht glauben durfte. Es war eine ganz primitive Todesangst, die ihn stutzig gemacht hatte. Seit damals murmelte es in ihm immer mal wieder, ein auf das andere Mal, tage- und wochenlang, besonders wenn jemand das Wort Wir in den Mund nahm, leise, aber immerzu, es murmelte wiederholt seinen Namen, Milan, Milan, hör her, hör doch mal, hör zu, du!
Standhaft bis in den Tod, das war die Vorstellung, das war die Devise, die alles beherrschende militärische Idee, an der er immer festgehalten, die er anderen gepredigt hatte. Was war das für eine Idee? Heimlich hatte der Stratege in ihm bereits beim ersten Feldzug gegen das Land, das er nun besetzte, Überlegungen angestellt: über die unnötigen Personal- und Materialverluste, über taktische, also eigentlich gute Gründe, Gelände aufzugeben, die es immer wieder gegeben hatte, auf die er aber in Diskussionen nicht hinweisen durfte, denn da war sie eben, omnipräsent, diese Vorstellung, an der es festzuhalten galt: standhaft, ja, bis in den, seinen, unseren Tod, und dann? So dachte er bereits vor Jahren, nach Kriegsbeginn, manchmal, kurz, wirr. Jetzt, Jahre später, hatte sich dieses Fragezeichen rund um die Standhaftigkeit bis zum Tode zu einem Rufzeichen entwickelt, das ihn jedoch nur nachts quälte. Tagsüber verlor sich zumeist jede Spur davon.
Wie viele gerettet hätten werden können, wenn sie, ja, nicht standhaft bis in den Tod und so weiter hätten gehen müssen. Verstehst du denjenigen nicht, der seine Waffen niederlegen will, der nicht standhaft bleiben und weitergehen will, in den Tod, der ihm gewiss ist? Ähnlich hatten ihn im Feldzug – dem ersten – Zweifel ergriffen, manchmal [obwohl, ja, zugegeben: immer öfter, je länger der Feldzug dauerte], wenn er an seine Militärhandbücher dachte, an sein Exemplar von Zum Studium der Taktik, in dem der Franz Conrad von Hötzendorf die Grundgedanken der österreichisch-ungarischen Militärführung darlegte, die da waren: um jeden Preis Offensive und Angriff.
Dass diese Grundgedanken richtig und wichtig und vor allem in ihrer Wirkung unbestreitbar zielführend waren, zeigte sich ja schon daran, dass so ein Conrad sehr erfolgreich alles, was zu rebellieren, was sein Recht einzufordern wagte, niederzuwerfen vermochte. Wie schon sein Vater Jahrzehnte davor geholfen hatte, eine Revolution in Wien zu machtlosem Gepolter verkommen zu lassen, half auch er entschlossen mit, süddalmatinische Aufständische oder später italienische Hafenarbeiter niederzuschlagen. Er annektierte vorbildlich jenes Bosnien mit, von dem der Kaiser beschlossen hatte, es sich zu Regierungsjubiläum und Namenstag selbst zu schenken. All das in nur wenigen Jahrzehnten. Bei dieser Annexion forderte der Taktiker – daran erinnerte sich der Milan Nemec, ganz gut erinnerte er sich daran – mehrmals den Krieg gegen Serbien, im Zuge dessen er auch eine Eroberung, oder zumindest eine notwendige »Einengung« Montenegros mitvorschlug, wie auch die »Gewinnung« Albaniens und des westlichen Mazedoniens, all das mit dem Ziel, sich am Ende in Thessaloniki siegreich feiern zu lassen. Was der Milan Nemec davon zu halten hatte? Nun, auch wenn manche den Aktivismus eines Conrad von Hötzendorf, dessen taktische Schriften seine Kollegen und Schüler jahrzehntelang nach seinem Ableben begleiten würden, hinein in neue Reiche, die es zu verteidigen galt, auch wenn manche diesen Aktivismus als kadaveristischen Bellizismus und größenwahnsinnigen Imperialismus ansehen mochten, und auch wenn seine jahrzehntelang vorgetragenen Pläne, endlich das lästige Italien, bitte präventiv!, anzugreifen oder lästige slawische Ländereien im Süden endlich, auch präventiv!, zu annektieren, am Hofe doch mehrmals abgelehnt worden waren, weil das alles schließlich auch zu bezahlen war, hielt ihn das nicht davon ab, diese als patriotisch maskierten Forderungen immer wieder zu stellen, ein ums andere Mal, jahrzehntelang.
Dieser Conrad! So einer starb am Ende keineswegs zufällig an einem Gallenleiden und hatte naturgemäß ein Ehrengrab in Wien, bis ins Jahr 2012. Erst danach stuften sie es herab, das Grab, auf ein »historisches«. Aber die dutzenden Straßennamen, die Gebäudenamen, die Gedenktaferln, die ihm ihre eiserne Treue halten, die konnte man so schnell nicht herabstufen oder herunterstoßen, und was hieß das denn schon: Judenhasser? Was hieß das: Fremden- und Rassenhasser? Was hieß das: Kriegsfreund und Kriegstreiber? Was hieß das: Kriegsverbrecher? Gegen einen Conrad von Hötzendorf, gegen seine angriffsfreudige Entschlusskraft, seinen zielbewussten Tatendrang und seinen unbeugsamen Willen schien kein Einwand möglich, nicht in hundert Jahren schien da ein Einwand möglich.
Doch warum kam dann doch der Zweifel im Milan Nemec hoch, manchmal, wahrscheinlich unbegründet, ob der Angriff wirklich immer die beste Option war? Ob so ein Angriff wirklich eine Verteidigung … und wenn ja, ob eine gute, ob wirklich die beste … Oder doch nicht?
Der Nemec hatte, von auftauchenden Zweifeln an seiner Sache schon geschwächt, so ließe sich schlussfolgern, die größtmögliche Kränkung erlitten: von einem jammernden Mütterchen aus dem Feindesland an den blöden eigenen Tod erinnert zu werden, diesen lächerlichen eigenen Tod im trockenen Kehllaut einer müden Frau als Gewissheit zu erkennen, als seine fest vorgezeichnete Zukunft. Nun war aus diesem Erlebnis die leise Ahnung in ihm aufgetaucht, dass es ein dummes Ich gab, nämlich seines!, dem er, wenn er recht ehrlich war, inniger verbunden war als dem Wir, von dem in den Ausführungen des Besuches die Rede war, einem Wir, das ihm zunehmend ein wenig ins Abstrakte und Philosophische abgesunken war, ungreifbar und umso bedrohlicher.
Dazu trällerte ihm zu allem Überfluss ein Wind, der durch die Löcher in den zitternden Flügeln eines Falters pfiff, das Lied von jenem Wir, das zu besiegen er ausgezogen war und das er hier in dieser scheußlichen Stadt zu kontrollieren, zu verwalten hatte. Dabei hatte er bislang nie das Gefühl von Mitleid mit dem empfunden, was sich amtlich Zivilbevölkerung nannte, die er nicht wie einige seiner Kollegen als Abschaum, jedoch auch nicht als eine echte Menschenansammlung wahrnahm, sondern als bloßes Objekt seiner Etappenaufgaben. Nur militärische und verwaltungstechnische Überlegungen waren ihm wichtig erschienen, wenn er an diese Zivilbevölkerung dachte.
Auf jeden Fall, so schien ihm, musste diese vorsichtig behandelt werden. Es kam drauf an, je nachdem, ob sie nämlich nahe der Kampfzone oder im Landesinneren gelebt hatte. In der Kampfzone waren manchmal Zivilpersonen in besonderem Maße von Gewaltexzessen betroffen gewesen, das konnte nicht geleugnet werden. Gerade dieses dumme Belgrad hatten seine Truppen mehrmals einnehmen und wieder räumen müssen. Da passiert allerlei, beim Einnehmen, Räumen, Wiedereinnehmen. Daher war nur vorsichtig abzuschätzen, welche Vorerfahrungen die Zivilbevölkerung, deren Leben er hier mit seinen Beamten und Soldaten verwaltete, erlebt hatte. Je nachdem waren sie entweder eine kleinere, eine große oder gar keine Gefahrenquelle. Je nachdem, wie viele Menschen ihnen weggestorben, wie viele Beine oder Arme sie verloren, wie viel Prügel sie hatten einstecken müssen. Je nachdem, ob ihr Haus noch stand, ob es zerbombt oder niedergebrannt worden war. Das musste er an ihren Gesichtern und Körpern ablesen lernen.
Sein Umzug hierher hatte ihn anfangs in einen Schockzustand versetzt, in fast den gleichen Schockzustand, in dem auch die Stadt selbst sich befand. Da war alles die Demonstration einer totalen Zerstörung. Spürbar waren für ihn vor allem die Lebensmittelengpässe, an denen selbst sie, die Offiziere, zu Beginn litten. Spürbar war zudem eine Leere, die etwas unheimliche Veränderung in den Einwohnerlisten. Eine Stadt kann nicht nur von Gefangenen, Kranken, Alten, Kindern und Frauen verwaltet werden, das steht außer Frage. Da konnte diese Stadt nur froh sein, dass sich die neue Militärverwaltung um ihren geordneten Fortbestand kümmerte. Es war nur sinnvoll, dass – weil die frühere Regierung und Verwaltung zu bestehen aufgehört hatte, oder aus unterschiedlichen Gründen an der Ausübung ihrer Geschäfte gehindert wurde, dass also die österreichischen Militärs auch die zivilen Aufgaben übernehmen mussten. Wobei diese zivilen Aufgaben naturgemäß den militärischen Notwendigkeiten unterzuordnen waren, wie es in den Vorschriften vermerkt wurde.
Deshalb braucht es mich hier, ja, genau!
Er hatte diese Stadt, die zerstörte, mit Leben zu füllen. Hatte sich um Ämter und Straßen zu sorgen, um Zeitungen und Wohnungen. Um den Verkehr und die Kommunikationslinien. Um die Eisenbahnzüge, die laufend Kranke und Verletzte von der Front brachten oder Truppenteile an andere Kampfplätze verschoben, die bald sogar Urlauber nach Belgrad transportierten, etwa die Frauen und Kinder der Besatzer, der Beamten und Offiziere.
Während er mit dem Besuch durch die Straßen des verödeten Belgrads spazierte, schämte er sich für die Hässlichkeit der Stadt, als sei er allein dafür verantwortlich – nicht, weil er sie mitverursacht hatte [hatte er das?], nein, vielmehr, weil er diese Hässlichkeit nicht durch die Aufrechterhaltung der notwendigen Ordnung wieder beseitigt hatte, notfalls unter Einsatz von Zwang und Gewalt. Keine Mauer, die nicht beschädigt, keine Fassade, die nicht abgeblättert, keine Straße, die nicht voller Krater oder ganz aufgerissen, kaum ein Fenster, das nicht mit Holzbrettern verschlossen, kein Gras, das nicht niedergetreten war. Der Winter war hart, erklärte er an jeder Ecke seinem Besuch, der Winter 1917, das wissen Sie ja, anderswo war es ebenfalls nicht leicht, so auch hier nicht, und nicht einmal der Sommer war gemütlich.
Da blickte ihn alles abweisend an, in dieser Stadt: fremde Fenster, grauer Nebel, grau die Schatten an den Wänden. Dieser Nebel und diese Schatten schienen nur für ihn gemacht. Nach Jahren der Besatzung hatte er das Gefühl, dass Belgrad in Trauer war, verkohlt, mürrisch, kalt, innerlich wie äußerlich. Hier gab es keine spielenden Kinder mehr, keine gurrenden Tauben, keine freundlich weiß bemalten Eingänge, nur noch Schluchten zwischen schmalen Gassen, daneben Tore, die in finstere Innenhöfe führten. Die Stadt war zu still für jemanden, dessen Stimmen im Kopf so laut waren. Da regte sich immer wieder etwas, das ihm Angst machte, im Herbstnebel. Zugleich wirkten die Gässchen leer, die wenigen Menschen in ihnen stumpf. Eine schreckliche Öde, ein beständiger Hunger, die allgegenwärtige Angst, an den Ecken die Uniformierten, manchmal eine zerschlissene schwarz-gelbe Fahne, das zerschlagene Bild des deutschen Kaisers in einem Schaufenster, daneben, ebenfalls zerschlagen, mehrere Schnapsflaschen, darunter oder weiter weg ein hockender alter Mann mit einer noch nicht zerschlagenen Schnapsflasche an den Lippen, der dir die Hände entgegenstreckt, auf sein Holzbein deutet, murmelt, in einer Sprache, die du verstehst, und auch wieder nicht: Kalt ist mir, so kalt, am Ende verbrenn’ ich noch mein Holzbein, damit mir warm wird, geben Sie doch, geben Sie doch, Herr, ein paar Münzen, dann hab ich wenigstens meinen Branntwein, das einzige, was wärmt.
Besonders schämte sich der Milan Nemec seit Jahren für die Entwicklung auf manchen Belgrader Straßen, die die Besatzungsnachrichten als Gemüsegärten in der Stadt bezeichnet hatten, Gartenflecken, in denen die Soldaten Kohl und Erdäpfel anpflanzten. Auf Parkplätzen, Rasenstückchen, an Straßenrändern, überall wurden Holzzäune um einen solchen Gemüsegarten herumgezogen, und nun, im Herbst 1918, waren diese Holzzäune allesamt in kleinen Feuern geendet. Diese Gemüsegärten der Kompanien lagen brach, sie deuteten bereits die nächste, wahrscheinlich noch schlimmere Hungerzeit an [ging das noch – schlimmerer Hunger als der im Winter 1917?]. Es ekelte ihn vor Belgrad, dem zerstörten, schmutzigen, dem ganz und gar scheußlichen Belgrad, das zu grinsen schien: Ja, ich bin vielleicht bloß noch Schlamm und Dreck, aber ich stehe immer noch. Wie ein schlecht rasiertes Soldatenkinn erschien ihm die raue Oberfläche der Stadt. Und im schlecht rasierten Soldatenkinn kündigt sich schließlich der Untergang an.
Der Spaziergang hatte den Nemec und seinen Besuch in die Nähe des Kalemegdans geführt, bald standen sie auf einer Fläche, von der aus sie die Donau sehen konnten und die zugleich auch den Blick auf die Save erlaubte, wenn sie sich ein wenig drehten. Diese schmutzige Stadt, die nur als Verkehrsknotenpunkt Sinn machte, wie war sie an dieser glorreichen Kreuzung der Flüsse gelandet, als Stadt ohne jedes weitere Bedürfnis? Aus der Krankheit, Eiter, Dreck und Scheiße nicht wegzubekommen waren, die trotzdem weiterwucherte. Was wurde hier nicht alles stationär zwischengelagert in den letzten Jahren, den verfluchten: Fleischberge von Soldaten, die nicht mehr oder noch nicht wieder einsetzbar waren für die Ostfront. Hier standen türkische Unterstützungstruppen unter Quarantäne, ehe sie weitertransportiert wurden, überall die Verwundeten oder jene Heimaturlauber, die mit ansteckenden Geschlechtskrankheiten stationär untergebracht waren, faules und geiles Pack!, bevor sie als urlaubsfähig deklariert und weitertransportiert wurden.
Gab es etwas Schönes in dieser Stadt, dann nur jene Dinge, die du, der neue Verwalter, selbst mitgebracht hast. Ja, zum Beispiel die österreichischen Soldaten und Beamten. Na, vielleicht weniger die Soldaten, aber zumindest ihre Uniformen, die das Stadtbild aufwerteten, so ordentlich und so sauber. Schön waren die deutschsprachigen Schilder mit dem Kaiseradler, das gepflegte Kaiserbild in den Kanzleien, die hübschen Bilder des Chefs des Generalstabs, die in allen Bahnhöfen und Schulen hingen. Manch ein Beamter oder Offizier dachte, wenn er wie der Milan Nemec und sein Besuch am Kalemegdan vorbeispazierte, mit sanfter Rührung das Gleiche, nämlich, wie schön oben auf der Festung, von leichtem Wind entfaltet, die schwarz-gelbe Fahne wehte. Sehr schön waren auch die Militärmusikkapellen gewesen, mit ihrer flotten österreichischen und ungarischen Marschmusik, die durch die Straßen zogen, oder auch die Militärparaden und Empfänge, die man – zugegebenermaßen – nur gefeiert hatte, um zu Beginn der Besatzung die eigene Stärke und Präsenz zu demonstrieren und um jene Kräfte in der Stadt einzuschüchtern, die immer noch glauben mochten, Belgrad sei von Habsburg wieder befreibar.
Besonders schön fand der Milan Nemec, ein gemütlicher Gelegenheitsraucher, dass auf den Schachteln der monopolisierten Zündhölzer sein Doppeladler prangte. Wenn du da so ein Zündholz an die Lippen führst, das ist warm und weich, es leuchtet, es ist dein Sinn und dein Stolz. Auch wenn dieses Zündholz später abgebrannt im Müll landet: Immerhin, seinen Dienst hat es treu getan. Wie du. Immer und überall: Der Adler, der doppelte, der den Weg weist. Das Streichholz ist eine kleine Fackel, die du an deinen Mund führst, begleitet von des Kaisers Schwefelgeruch, langsam an den Mund führst, um den kurzen Moment der Ruhe, des Zurücklehnens erleben zu können, den kurzen Moment der einsamen Lust mit deinem rauen Tabak, nie alleingelassen von deinem Kaiser, nicht in hundert Jahren.
Wo war all das hin? Die Kapellen, die Märsche, die Paraden? Die Zündhölzer und der Tabak? Die Feste und die Backhenderln? Warum diese Trübheit, dieser Nebel vor seinem Auge, dem inneren und äußeren, warum das Gefühl, in der eigenen Uniform ersticken zu müssen, warum der ständige Griff an den Hals? Musste das alles denn so flott, wie es sich bei den Paraden und Märschen angehört hatte, wieder vorbeigehen? Hatte das noch Sinn und Ziel?
Obschon jedoch zu Beginn alles so herrlich erschienen war, obwohl die eigene Präsenz in wohlwollend aufgenommenen und wohltuenden Spazierereien und Märschen recht erfreulich gewesen war, obwohl man nach außen hin Zufriedenheit hatte demonstrieren können, wusste der Nemec, wie es im Inneren dieser Verwaltung ausgesehen hatte, wie es um das Drinnen in den Ämtern und Kanzleien bestellt gewesen war. Denn wirklich einig war sich hier niemand, gut geordnet und reibungslos lief es schon am Anfang nicht immer ab: Da schrien die einen, aus Wien, nach Annexion, und die anderen, aus Budapest, meldeten ihr Nein. Und er selbst saß fest, mitten im Schlamassel, nicht an der Front, wo er Schlachten schlagen, auch verlieren konnte, sondern er saß fest in den Kanzleien, zwischen den Verordnungen und Provokationen, den Vorschriften, Unterschriften, Streitgesprächen mit den Ungarn, den Deutschen oder den Bulgaren. Jedes Gespräch, das er führen musste, begann mit einem »Das kommt drauf an« und einem »Aber«. Inwendig ist alles viel maroder, als von außen betrachtet, denn einen Glanz hat man halt außen schneller erzeugt als innen.
Darin meinten die Direktorin des Heeresgeschichtlichen Museums und ihre jüngere Kollegin die Gründe vorzufinden, die den Nemec in eine aus seiner Sicht wohl deprimierende Zwangslage gebracht hatten, die sich auf seine Psyche, so meinten sie, und daher auf seine Handlungen nur negativ hatte auswirken können.
Das große Problem, meinte die Direktorin, sei natürlich gewesen, dass innenpolitisch gesehen zwischen der österreichischen und der ungarischen Führung der Doppelmonarchie kein echtes Einverständnis darüber geherrscht hatte, was mit dem besiegten Land zu geschehen habe. Da dachte Ungarn, dass dieses Land ungarisches Interessengebiet sei und daher ungarisch dominiert zu sein habe. Dies folgte aus dieser ungarischen Sicht einer sehr klaren Logik [aber wir wissen schon, es ist nicht Logik, die die Welt und unser Handeln lenkt], denn keinesfalls sollte durch eine Annexion eine Ausweitung des slawischen Elements in der Donaumonarchie riskiert werden.
Dies stand, logischerweise!, im Widerspruch zu manchen Plänen in Wien, die in der Militärverwaltung für das eroberte Land eine Vorstufe zur Annexion im Sinne einer südslawischen Union unter kroatischer Führung sahen, was ja, wie doch alle wüssten, eine empfindliche Reduktion des ungarischen Teils der Doppelmonarchie bedeutet hätte und daher wiederum klarerweise im Interesse Österreichs gewesen sei.
Dass dieser Interessengegensatz im Streit kulminieren musste, war vorbestimmt, und dieser schon vorbestimmte Streit eskalierte rund um einzelne Personen oder um Dinge. Da konnte es schon vorkommen, dass Budapest einem österreichischen Offizier aus den kroatischen Gegenden vorwarf, er bevorzuge als Kroate den Feind. Schließlich traute man in Ungarn den kroatischen Menschen, würde man ihnen das eroberte Land in einer südslawischen Union zuschlagen, nicht genügend Widerstandskraft gegen südslawische Vereinigungsbestrebungen zu. Die würden doch – einmal vereint – noch störrischer eine Unabhängigkeit anstreben, nur wären sie dann mehr als bisher, was ja keinesfalls gut sein konnte und gut ausgehen konnte, in einem ohnehin von solchen Grundsatzproblemen geplagten Großreich. Es wurde daher recht kompliziert, ein gemeinsames Kriegsziel zu formulieren, auf Kongressen und bei Geheimtreffen.
Diese und ähnliche Konflikte sowie weitere Streitereien nahmen Zeit und Kraft in Anspruch. Das wiederum verhinderte zu Beginn der Besatzungszeit den Eintritt der totalen Ordnung, wie sie vorgesehen war, so entschuldigte die Direktorin des Heeresgeschichtlichen Museums die merkwürdigen Kompromisse, die die Militärverwaltung seit ihrer Arbeitsaufnahme oftmals hatte machen müssen, und die sich in einer für die Besetzenden anstrengenden Situation niederschlugen, in einer zu lange andauernden Unordnung, die sich wiederum zwangsläufig auf die Psyche des Milan Nemec, so wiederholten und bestätigten beide, auswirken musste.