Kitabı oku: «Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter»

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Band 1

Jäger und Gejagter

von Elian Mayes

Inhaltsverzeichnis

* Prolog *

* Kapitel 1 *

* Kapitel 2 *

* Kapitel 3 *

* Kapitel 4 *

* Kapitel 5 *

* Kapitel 6 *

* Kapitel 7 *

* Kapitel 8 *

* Kapitel 9 *

* Kapitel 10 *

* Kapitel 11 *

* Kapitel 12 *

* Kapitel 13 *

* Kapitel 14 *

* Kapitel 15 *

* Kapitel 16 *

* Kapitel 17 *

* Kapitel 18 *

* Kapitel 19 *

* Kapitel 20 *

* Epilog *

Glossar der Jäger-Sprache

© 2020 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Covergestaltung: Christian Günther

Lektorat: Ray Celar

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-4095

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

v1 20

* Prolog *

Der Lichtkegel, der durch einen Spalt auf den Boden fiel, wurde immer schmaler. Langsam schlossen sich die Tore und mit einem Knirschen rasteten sie ein. Nahezu gleichzeitig tilgte der Horizont die letzten Sonnenstrahlen, der Tag neigte sich dem Ende entgegen. Einen Augenblick verharrte Eric regungslos, starrte verbissen die verschlossenen Stahlkolosse an und verstärkte den Griff um den Riemen seiner Tasche. Bis vor wenigen Sekunden war er so entschlossen gewesen wie nie zuvor in seinem Leben, doch nun bröckelte seine Stärke dahin wie die Gemäuer der Ruinen rings um ihn herum. Er spürte, wie sein Herz schneller zu klopfen begann und mit jedem Schlag Adrenalin durch seine Adern pumpte.

Es gab kein Zurück mehr.

Nie wieder.

Zu seiner Rechten raschelte etwas und Eric wirbelte herum. Er erwartete das Schlimmste, doch stattdessen erblickte er nur einen Streuner, der sich zwischen den überwucherten Resten einer Backsteinmauer aus dem staubigen Gras schälte.

»Du hast mich ganz schön erschreckt, Kleiner.« Erics Herz raste noch immer, trotzdem kniete er sich hin und hielt dem Hund die Hand entgegen. Ein kurzes Schnuppern, dann setzte der Streuner seine Erkundungstour fort. Allein.

So allein, wie Eric es sein würde. »Als Team hätten wir größere Chancen«, murmelte er, wohl wissend, dass seine Chancen so oder so mehr als schlecht standen. Er war nun ein Ausgestoßener. Ohne ID konnte er nie wieder in die Stadt zurückkehren. Selbst dann nicht, wenn er die Nacht wie durch ein Wunder überleben sollte. Auf sich allein gestellt würde er keinen Unterschlupf finden, keinen Schutz vor den Gefahren der Nacht, keine Zuflucht vor den Jägern.

Eric schluckte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, spürte die Stoppeln an seinen Wangen. Für einen kurzen Augenblick war er gefangen in der Stille der einbrechenden Nacht. Dann stand er auf und straffte die Schultern. Es gab einen Grund dafür, dass er nun allein hier draußen war. Einen Grund dafür, dass er keine ID mehr besaß. Und diesen Grund würde er nicht vergessen. Er war der Sache dicht auf den Fersen gewesen! So verdammt dicht! Doch dann waren sie ihm auf die Schliche gekommen und er hatte schnell handeln müssen. Nun zählte vor allem, dass er noch am Leben war und sich an die Spur heften würde wie eine Zecke. Er hatte schon so viel über die Herkunft dieser Monster herausgefunden, dass er jetzt auf keinen Fall aufgeben durfte. Eine Nacht an der Oberfläche durfte ihn nicht so ängstigen, wenn er Erfolg haben wollte! Er würde seine Mission beenden!

Ein kehliges Geräusch ganz in seiner Nähe zerschmetterte seinen Entschluss binnen eines Augenblicks. Keuchend stolperte Eric rückwärts, als er in der Dunkelheit direkt vor sich das stechend rote Glimmen zweier Augen erblickte.

Fliehen. Flucht war seine einzige Chance.

* Kapitel 1 *

»Hallo Schatz, hast du Post bekommen?«

Missmutig sah Elias von dem Topf auf, in dem er rührte. Die Wohnungstür fiel mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss und kurz darauf legte seine Mutter erschöpft ihren Mantel über einen der Stühle am Esstisch. Elias seufzte. Ihre Frage nervte ihn, aber ebenso wie seine Mutter wartete auch er darauf, dass endlich eine Antwort vom Labor eintraf, die für Klarheit sorgen würde. Es dauerte schon viel zu lange und langsam glaubte er nicht mehr daran, dass er die Stelle bekommen würde, für die er sich beworben hatte. Der Optimist in ihm wollte die Hoffnung zwar noch nicht aufgeben, aber bisher hatte er keinerlei Rückmeldung bekommen. Weder per Mail noch als Anruf. Und schon morgen hatte er den Termin bei der ID-Stelle. Die Aussicht darauf machte ihn an manchen Tagen wahnsinnig vor Sorge um seine Zukunft. An diesem Tag hatte er jedoch bloß die Wohnung aufgeräumt und irgendwann spätnachmittags zu kochen begonnen. Das lenkte ab.

»Nein«, antwortete Elias kurz angebunden. Allmählich musste er der Wahrheit ins Auge blicken: Er würde irgendwo in den dunklen Tiefen als Müllsortierer enden. Oder Schlimmeres.

»Ach, Elias.« Sie kam auf ihn zu und wuschelte ihm aufmunternd durchs Haar, als wäre er noch immer ein kleines Kind. »Das wird schon klappen, du wirst sehen. Und wenn nicht, dann finden wir etwas anderes.« Elias unterdrückte ein Augenrollen. Die Aufmunterungsversuche seiner Mutter waren nett, aber sinnlos. Trotzdem war er auch gerührt, denn immerhin glaubte sie an ihn. Um das merkwürdige Gefühl in seiner Brust beiseitezuschieben, deutete er auf den Topf. Ablenkung war gut.

»Meinst du, das geht so? Irgendwie habe ich die Soße nicht wirklich dicker bekommen.«

Sie versuchte, in den Topf zu blicken. Dazu musste sie sich schon fast auf die Zehenspitzen stellen, denn sie war recht klein, reichte ihrem Sohn geradeso bis zur Brust.

»Ist doch nicht schlimm«, kommentierte sie schulterzuckend. »Dann haben wir eben etwas flüssigeres Essen. Solange du die Nudeln nicht zu Brei hast werden lassen, ist doch alles in Ordnung.« Hatte er nicht. So schlecht kochte er dann auch wieder nicht. »Na siehst du.« Sie lächelte ihn an, wobei sich die feinen Fältchen um ihre Mundwinkel herum etwas vertieften. Elias konnte nicht umhin, das Lächeln zu erwidern. Wenn sie lächelte, dann strahlten ihre dunklen Augen unter den langen Wimpern und man konnte gar nicht anders, als ebenfalls zu lächeln. Er drückte ihr den Rührlöffel in die Hand und machte sich daran, den kleinen Tisch in der Ecke zu decken. Er war gerade groß genug, dass das Essen und ihre beiden Teller darauf Platz fanden. Das genügte. Es klirrte, als Elias sowohl Teller als auch Gläser abstellte und das Besteck danebenlegte. Dann setzte er sich und wartete darauf, dass seine Mutter ihm Nudeln und Soße auftun würde. Sie hatte das schon immer gemacht, seit Elias denken konnte, und daran hatte sich auch nichts geändert, als er älter geworden war und das Kochen übernommen hatte.

»Guten Appetit, mein Schatz!« Mrs Marquez setzte sich ihrem Sohn gegenüber und prostete ihm mit ihrem Wasserglas zu. Er erwiderte diese Geste, bevor er sich hungrig aufs Essen stürzte. Zuletzt hatte er am Morgen etwas gegessen und nun war es schon fast sieben Uhr abends, wie die Uhr an der Wand verriet. Wenn man nicht ab und an draufschaute, konnte man die Zeit fast vergessen.

»Wie war denn dein Tag?«, fragte Elias, schluckte den Bissen eilig herunter, als sie ihn mahnend ansah, und grinste schuldbewusst. Sie hasste es, wenn er mit vollem Mund sprach.

»Wie deiner«, antwortete sie und lächelte ein wenig verschmitzt. »War ein öder Tag. Keine besonderen Vorkommnisse.«

»Das ist doch gut, oder?« Schließlich bedeutete das zugleich, dass nichts Schlimmes passiert war.

»Doch, ja, eigentlich ist das gut.« Sie seufzte, während sie in den Nudeln stocherte und sich eine in den Mund schob. »Aber manchmal wäre es nett, etwas mehr Abwechslung zu haben. Dass einfach was passiert, irgendwas.«

Ja, das verstand er. Doch außer einem mitfühlenden Nicken fiel Elias darauf keine Antwort ein. Schweigend aßen sie zu Ende. Elias räumte den Tisch ab und seine Mutter übernahm das Spülen.

Als Elias später in seinem Bett lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, kamen seine Gedanken allmählich zur Ruhe. Er war erschöpft, müde vom Tag, vom Nichtstun und dem ewigen Grübeln über seine Zukunft. Hier, in seinem kleinen Reich – mit Betonung auf klein, denn sein Zimmer war sicher nicht größer als sechs, sieben Quadratmeter – konnte er seine Gedanken nur zu überdeutlich hören. Unter Elias’ Hochbett standen sein Schreibtisch und ein kleines Regal. Dazu ein kleiner Vorleger zwischen Bett und Wandschrank. Das war es. Im Gegensatz zur Küche, wo eine billige, aber dennoch schöne Lampe die Decke schmückte und die Neonröhren versteckte, baumelte bei ihm bloß eine dieser großen Energiesparlampen in ihrer Fassung an einem Kabel. Sie schwang leicht hin und her, weil er beim Erklettern des Bettes mit dem Kopf dagegen gestoßen war. Elias fixierte sie mit den Augen, folgte der Bewegung. Obwohl ihn das kühle Licht blendete, machte es ihn zugleich schläfrig und träge. Sein Blick wanderte müde über die Wände, die seine Mutter bemalt hatte, als er noch klein gewesen war und sie nach dem Tod seines Vaters hatten hierher umziehen müssen. Elias wusste schon lange nicht mehr, wie sein Zimmer ohne die Szenen aus liebgewonnen Kinderbüchern ausgesehen hatte, und er war sehr froh darum. Vier kahle, fensterlose Wände stellte er sich nämlich überaus trostlos vor.

Ihre künstlerische Begabung hatte seine Mutter nicht nur in seinem Zimmer, sondern außerdem in ihrem eigenen und dem Wohnbereich ausgelebt. Elias mochte die Blumen, die Muster und die Farben, die ihr kleines Reich freundlich machten und den grauen Wänden Leben einhauchten. Besonders an den Malereien von den Bergen und den Wäldern konnte er sich gar nicht sattsehen. Direkt neben dem Sofa hatte seine Mutter eine Terrassentür an die Wohnzimmerwand gezaubert. Sie sah so realistisch aus, dass es wirkte, als könnte man durch sie hindurch in einen Wald treten, der dahinter lag. Als Elias noch klein gewesen war, hatte er sich vorgestellt, dass er dort auf dem Gras zwischen den Bäumen spielte. Stundenlang hatte er nur dasitzen und dieses Bild ansehen können, das für ihn in jenen Momenten zur Realität geworden war.

Irgendwann während seines Ausflugs in seine Kindheitserinnerungen musste Elias eingeschlafen sein. Das hohe Piepsen, das ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, und der Umstand, dass er immer noch seine Kleidung vom Vortag trug, ließen keinen anderen Schluss zu. Lustlos schälte er sich aus dem Bett und dann, nachdem er müde ins Bad gekrochen war, erst einmal aus seinen alten Klamotten, die sogleich in den Wäschekorb wanderten. Gähnend streckte er sich vor dem Spiegel, aber erst das Wasser auf seiner Haut machte ihn ein klein wenig wacher. Vor allem deswegen, weil es eiskalt war, er mit einem erschrockenen Schrei einen halben Meter zurücksprang und sich den Kopf an den Armaturen stieß. Welch ein wunderbarer Start in den Morgen!

Elias duschte eilig und trocknete sich ab. Schnell rasierte er sich noch, dann zog er sich an. Dunkelgraue Hose und dazu passendes Jackett mit seinem Schullogo auf der Brust, schwarzer Gürtel, darunter ein weißes Hemd. Seine ehemalige Schuluniform war das Einzige in seinem Kleiderschrank, das die Bezeichnung »formell« verdiente, und damit das Einzige, das er ruhigen Gewissens zu einer Vorladung bei der ID-Stelle tragen konnte. Auch wenn er das triste Grau furchtbar fand. Immerhin mit der Krawatte tupfte er etwas Farbe in sein deprimierendes Erscheinungsbild; sie war dunkelrot. Ein prüfender Blick in den Spiegel verriet ihm, dass sie auch ganz passabel saß – zumindest für seine Verhältnisse – und er in Wahrheit nicht so verschlafen aussah, wie er sich fühlte. Als Elias aus dem Bad schlurfte, begrüßte ihn der Geruch von Kaffee. Unwillkürlich lächelte er. Seine Mutter war einfach die Beste!

»Guten Morgen, mein Großer!« Wie sie um diese Uhrzeit schon so gut gelaunt sein konnte, war ihm ein Rätsel. Elias war froh, wenn er morgens mehr als ein Grunzen von sich geben konnte. Dennoch war er dankbar, dass seine Mutter schon so fröhlich war, denn sie war es, die seine Lebensgeister nach der kurzen Dusche nicht wieder in sich zusammenfallen ließ. Ohne ein weiteres Wort drückte sie ihm eine dampfende Tasse in die Hand und deutet auf den kleinen Tisch, auf dem eine Schale mit Müsli und ein Snack für unterwegs schon bereitstanden. Vielleicht war es merkwürdig, nach dem Abschluss und kurz vor dem Eintritt ins Berufsleben von seiner Mutter noch das Essen zubereitet zu bekommen, aber Elias liebte sie dafür umso mehr. Das Gefühl, nicht allein zu sein, dass es jemanden gab, der ihn liebte, half ihm oft über den Tag.

»Bis später!« Elias verabschiedete sich, nachdem er sein Müsli hinuntergeschlungen hatte. Sie antwortete mit den gleichen Worten und dann fiel die Wohnungstür bereits hinter ihm ins Schloss.

Er wohnte mit seiner Mutter im untersten Stockwerk seines Wohnblocks, was es ihm zumindest ersparte, diverse Treppen zu laufen, bis er auf der metallenen Plattform stand, auf der sich der Block neben zig anderen nahtlos in eine monotone Reihe fügte. Direkt zu seiner Linken führte eine Treppe ins zweite und dritte Stockwerk des Blocks, darüber lag schon die nächste Plattform. Dort musste er hin. Elias wandte sich nach links, ging an drei weiteren Blocks vorbei, die genau wie der aussahen, in dem er selbst wohnte, überquerte einen breiteren Gang und ließ vier weitere Blocks hinter sich. Dann bog er rechts ab, ließ die Nachbarreihe hinter sich, bis er den Rand der Plattform erreichte. Die Aussicht von hier in den hunderte Meter tiefen Schacht war eigentlich atemberaubend. Das Lichtermeer der zig Plattformen gegenüber schien endlos und die bunten Lichtblitze der Aufzüge und Magnetbahnen wirkten wie Fische darin. Früher hatte Elias oft hier gestanden und den Anblick genossen, doch inzwischen hatte das Alles seinen Reiz verloren. Für ihn zählte morgens, dass nur noch eine Blockreihe zwischen ihm und der Treppe lag, die zu den höher oder tiefer gelegenen Plattformen führte. Ohne jemanden anzurempeln, versuchte er, sein Tempo zu halten, denn er war spät dran und die Treppen kosteten ihn Zeit. Fünfzig Stufen, fünfzig verschissene Stufen lagen zwischen den einzelnen Ebenen und davon musste er jeden Morgen ganze drei Stück nach oben laufen. Erst ab da fuhr die Magnetbahn. Schon seit Jahren war ein Ausbau der Aufzüge nach unten geplant, aber bisher war nichts dergleichen geschehen; Elias lief die gefühlt endlosen Stufen noch immer zu Fuß.

Trotz der kühlen Luft erreichte er die Magnetbahn schweißgebadet. Elias packte den Gurt seiner Tasche fester, die ihm von der Schulter zu rutschen drohte, während er seinen rechten Arm hektisch unter das Lesegerät hielt. Das vertraute Piepsen ertönte, die kleine Schranke öffnete sich und er hetzte weiter zu seinem Gleis. Zu seinem Glück war die Bahn noch da. Mit einem Satz war er drin; im gleichen Moment schlossen sich die Türen hinter ihm zischend und die Bahn setzte sich in Bewegung. Schon nach kurzer Zeit beschleunigte sie so sehr, dass Elias sich eilig an einem der Haltegriffe festklammerte, um nicht umgeworfen zu werden. Dann wurde der Zug von einem düsteren Tunnel verschluckt.

Keine zwanzig Minuten später strömte Elias inmitten einer gewaltigen Menschenmasse auf den Bahnsteig der Zentrale. Nur der Name der Haltestelle verriet ihm, dass er sich nun woanders befand, ansonsten sah es fast aus wie zu Hause. Allerdings änderte sich dieser Eindruck schlagartig, als er auf den großen Platz trat. Hier war alles viel weitläufiger, großzügiger und bei Weitem nicht so eng bemessen wie bei seiner Haltestelle. Statt billiger Neonröhren erhellten Tageslichtlampen den Raum bis zur hohen, gewölbten Decke und statt kahler Betonwände fanden sich hier sogar einige Grünpflanzen. Sicherlich künstliche, aber es ließ die Umgebung direkt freundlicher wirken. Wolkenanimationen im Gewölbe, ein angenehmer Lufthauch, verursacht von der gigantischen Klimaanlage, und Springbrunnen in der Mitte des Platzes konnten ihn fast vergessen lassen, dass er sich tief unter der Erde befand. Menschen drängten sich dicht an dicht, das Stimmengewirr und die Schritte vieler tausend Füße waren fast ohrenbetäubend. Doch Elias war nach all den Jahren so daran gewöhnt, dass er es schon gar nicht mehr wahrnahm. Er verließ den Bahnhof durch den Südausgang, folgte dem Schild, das zum Zentrum wies, und bog nach links ab. Von hier fuhr eine andere Linie in den Verwaltungsbezirk, wo sich beinahe sämtliche Behörden und Ämter befanden. Diesmal war es eine kurze Fahrt und der Stadtteil, in dem er ausstieg, sah seiner eigenen Plattform wieder ein Stückchen ähnlicher. Ebene über Ebene, darauf eintönige Gebäude, alles in beton- oder stahlgrau. Zwar erhellten auch hier Tageslichtlampen die Gänge und Wege; der Prunk der Zentrale reichte dennoch nicht bis hierher.

Ein gigantischer Komplex erhob sich nun vor ihm, der insgesamt zwölf Ebenen umfasste. Die Gebäude auf jeder dieser Ebenen waren zwischen drei und sechs Stockwerke hoch. Die ID-Stelle lag auf der höchsten Ebene. Elias erreichte sie über einen der Hochgeschwindigkeitsaufzüge. Es ging so weit hinauf, dass einige der Räume sogar Tageslichtschächte besaßen. Wieso ausgerechnet eine Behörde Sonnenlicht benötigte, war ihm nicht klar, aber Elias genoss die Strahlen, die hereinfielen. Die flachen Stufen zum Haupteingang bezwang Elias mit wachsender Abneigung und betrat den schmucklosen Flur. Er schlängelte sich durch die Masse an wartenden Menschen zum Aufzug. Mit jedem Schritt wurde er langsamer, wollte am liebsten wieder nach Hause verschwinden.

Als sich die Aufzugtüren öffneten, standen in der Kabine Menschen dicht an dicht gedrängt. Ein wenig besorgt, ob der Aufzug das Gewicht aller tragen würde, zwängte sich Elias hinein. Die Luft war stickig und die Stimmung ungemütlich. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. In nicht wenigen Gesichtern konnte Elias dieses gewisse Unbehagen lesen, das auch er empfand. Lautlos glitt die Aufzugtür zu, dann schoss der Aufzug nach oben. Elias warf noch einmal einen Blick auf die Mail, um auch ja im richtigen Stockwerk auszusteigen. Als er schließlich auf den nächsten Gang trat, war er froh, wieder frei atmen zu können. Doch dieses Gefühl hielt nicht lang. Die Vorstellung, was ihn gleich erwarten würde, lastete auf ihm und schnürte ihm die Kehle zu. In dieser Etage warteten vereinzelt Menschen vor den weißen Türen, umklammerten bang die Chips mit den Nummern, die ihnen die Reihenfolge vorgaben. Elias ging an ihnen vorbei, den Blick auf den dunklen Boden gerichtet, und war auf einmal froh, dass er einen Termin hatte. So würde er das hier zumindest so schnell wie möglich hinter sich bringen können. Zögerlich klopfte an der Tür, deren Nummer ihm mitgeteilt worden war. Geräuschlos glitt die Tür zur Seite auf.

»Guten Morgen.« Elias war noch nicht einmal eingetreten, da wurde er von der Sachbearbeiterin begrüßt, die hinter einem weißen Schreibtisch saß und mit starrem Blick auf ein Holo sah. Ihre Stimme klang freundlich, aber zugleich merkwürdig monoton und sie sah so unauffällig aus, dass es beinahe auffällig war: mausgraues Haar, zu einem Dutt gebunden, dunkler Hosenanzug. Über dem Herzen das Zeichen der Föderation. »Sie müssen Elias sein.« Elias zog es vor, nicht zu antworten. Stattdessen nickte er bloß stumm. Hinter ihm glitt die Tür wieder ins Schloss. Unauffällig sah er sich um. Vier weiße Wände – wenn man einmal die Tür außer Acht ließ – und eben jener Schreibtisch in der Mitte des Raumes.

»Bitte, setzen Sie sich doch.«

Elias tat, wie ihm geheißen.

»Also, Elias …« Ohne ein weiteres Wort der Begrüßung und auch ohne sich vorzustellen, scrollte die Frau durch ein Dokument auf einem Holo, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. »… Sie haben sich nur auf eine einzige Stelle beworben und dann auch noch auf eine, die so hart umkämpft ist. Warum?«

»Ich …« Sollte er die Wahrheit sagen? Dass nur diese eine Stelle überhaupt für ihn infrage kam? Wenn er auch sonst nicht sonderlich viel Wert auf Schule gelegt hatte, so hatte er in den Naturwissenschaften alles gegeben. Er wollte unbedingt einen Platz im Institut.

»Nun, ich höre?«

Er entschied sich für die Wahrheit. »Ich kann mir außer dieser einen Sache nichts anderes vorstellen. Mein Vater hat auch in diesem Institut gearbeitet und sein Interesse muss auf mich abgefärbt haben.«

»Das ist zwar verständlich, aber Sie sollten sich im Klaren darüber sein, dass Ihre Chancen nicht gut sind. Sie haben lediglich einen mittleren Abschluss an einer mittelmäßigen Bildungsstätte absolviert. Ihre Noten waren nicht herausragend.«

Elias’ Mund wurde trocken. Zwar lächelte die Frau ihn freundlich an, doch dieses Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Außerdem glaubte er, einen drohenden Unterton in ihrer Stimme zu vernehmen.

»Meine naturwissenschaftlichen Leistungen sind sehr gut gewesen.« Das waren sie wirklich.

»Das mag sein, aber sie stehen in keinem Verhältnis zu Ihren restlichen Leistungen. Abgesehen davon, dass die Institution, bei der Sie diese Leistungen erbracht haben, nicht gerade für herausragende Abgänger bekannt ist. Was werden Sie tun, wenn Sie die Stelle am Institut nicht bekommen?« Ihre Augen schienen sich in seine zu bohren, kalt und abschätzig.

»Ich … ich weiß nicht«, gab er zu und spürte, wie seine Hände zu schwitzen begannen. »Ich dachte vielleicht an die Wache oder den Sicherheitsdienst oder …«

»Vielleicht?«, wiederholte sie. Diesmal war Elias sich sicher, dass ein spöttischer Unterton mitschwang, auch wenn ihr Lächeln unverändert war. »Ich denke, Ihnen ist bekannt, dass jeder und jede Einzelne seinen oder ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten muss, oder nicht? Ebenso, dass ein nahtloser Übergang zwischen den einzelnen Lebensabschnitten der Bürger und Bürgerinnen erwünscht ist? Die Bewerbungen für die Wache sind schon lange durch, und dass Sie die körperlichen Voraussetzungen dafür mitbringen, wage ich auch zu bezweifeln.«

Elias biss sich auf die Lippe, um nichts zu erwidern, das er bereuen würde. Inzwischen war er es so satt, sich immer wieder das Gleiche anzuhören. Als ob er nicht wüsste, was denjenigen bevorstand, die keine Stelle fanden! In manchen Nächten träumte er sogar davon! Den Müll von Millionen sortieren zu müssen, beziehungsweise, die Maschinen zu warten, die das taten, war dabei noch der beste Job. Nachdrücklich schob er die Gedanken beiseite, die sich anzubahnen drohten, und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Frau vor ihm, die ihn noch immer verächtlich musterte.

»Ich werde mich darum kümmern«, versprach er, obwohl er keinen Schimmer hatte, wie er das anstellen sollte. Im Nachhinein betrachtet, war es eine reichlich dumme Idee gewesen, sich nur beim Institut zu bewerben, aber ein Studium war mit dem Namen seiner Bezirksschule auf dem Zeugnis – auch ganz unabhängig von den Noten – von vorn herein ausgeschlossen gewesen. Zumal seine Mutter sich das niemals hätte leisten können. Was hätte er also sonst tun sollen? Du hättest dich direkt bei der Wache bewerben können, du Vollpfosten, zischte eine leise Stimme in seinem Kopf und verdammt, ja, sie hatte recht.

»Das will ich hoffen, Elias. In zwei Wochen endet die Frist, dann erwarte ich Sie wieder hier bei mir.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, in der sie ihn ernst ansah, und streckte dann die Hand aus. »Lassen Sie mich noch einen Vermerk auf Ihrer ID machen, dann vergessen Sie es nicht.« Obwohl sie es so freundlich formuliert hatte, wusste Elias, dass er sich dem nicht widersetzen durfte. Stumm streckte er den Arm aus und ließ sich scannen. Er wusste, was die Frau eintrug. Wenn er die Stelle entgegen allen Erwartungen doch noch bekam, würde er ihr eine Bestätigung zumailen und sie würde den Vermerk löschen. Würde er das nicht tun, würde sie ihn dem nächsten freien Arbeitsplatz zuteilen. Das konnte die Mülltrennung sein, es konnten aber auch die Schächte sein. Bei dem Gedanken daran breitete sich Kälte in Elias’ Körper aus. Er war so ein verdammter Idiot gewesen, sich nicht noch auf eine andere Stelle zu bewerben. Doch dann wären seine ohnehin geringen Chancen darauf, vom Labor genommen zu werden, noch weiter gesunken. Diesmal hatte er einmal zu viel auf sein Glück vertraut.

Mit monotoner Stimme verabschiedete Elias sich und verließ die ID-Stelle. Für einen kurzen Augenblick kam ihm der Gedanke, nie wieder dorthin zurückzukehren, aber er verwarf ihn sofort. Wenn er sich in zwei Wochen nicht bei der Sachbearbeiterin meldete, würde seine ID ihre Gültigkeit verlieren. Dann konnte er sich auch gleich von einer der vielen Plattformen stürzen.

Als Elias zu Hause ankam, entspannte er sich ein wenig. Die Termine in der ID-Stelle waren schon immer äußerst unangenehm gewesen und immer wieder hörte man Geschichten von Menschen, die danach verschwanden, weil ihre IDs aus irgendwelchen Gründen für invalid erklärt worden waren. Elias schüttelte diese Gedanken ab und ging in sein Zimmer, um seine Uniform abzulegen und gegen etwas Bequemeres zu tauschen. Der Wetterbericht hatte gutes Wetter vorausgesagt und deswegen hatte er sich mit seinen Freunden für einen Nachmittag an der Oberfläche verabredet.

Annie und Caleb hatten ihm geschrieben, dass sie ihn abholen würden, daher legte Elias sich noch für eine Weile mit seinem Reader in den Händen auf sein Bett. Statt seichter Romane las er wissenschaftliche Artikel, denn einmal mehr hatte sich der kleine, unverbesserliche Optimist in ihm gemeldet. Der, der die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte, doch noch eine positive Antwort aus dem Institut zu erhalten.

Elias war so vertieft, dass er das Schellen der Türklingel beinahe überhört hätte, wenn seine Mutter nicht nach ihm gerufen hätte. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen stemmte er sich hoch. Als er aus seinem Zimmer trat, stand Caleb bereits halb im Flur.

»Hallo, Mrs Marquez«, begrüßte er Elias’ Mutter mir einem breiten Grinsen, während er an ihr vorbeimarschierte. Ihren missbilligenden Blick, der auf seine schmutzigen Schuhe gerichtet war, schien er nicht zu bemerken. Elias dagegen schon und so schnell er konnte, schob er seinen Freund wieder aus der Tür hinaus auf die schlecht beleuchtete Metallplattform.

»Husch, raus mit dir, bevor du meine Arbeit hier zunichtemachst.« Elias deutete anklagend erst auf Calebs Schuhe, dann auf den Boden, den er am Vortag noch geschrubbt hatte.

»Oh, sorry, Kumpel!« Caleb kratzte sich verlegen am Kopf und hüpfte dann noch ein Stück zurück.

»Kein Ding, aber beim nächsten Mal kommst du putzen«, drohte Elias ihm und hob theatralisch den ausgestreckten Zeigefinger. Er verabschiedete sich von seiner Mutter, musste ihr wie immer das Versprechen geben, rechtzeitig wieder zurückzukehren, und schon machten sie sich auf den Weg nach oben.

»Also, was habt ihr für heute geplant?«, fragte Elias die beiden. Annie, die an der Ecke gewartet hatte, zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Ich dachte, wir ziehen uns auf unser Dach zurück oder so. So viel bleibt nicht übrig, wenn man kein Geld hat.« Annie war die Realistin unter ihnen und leider hatte sie recht. Aber auch so würde es bestimmt ein schöner Nachmittag werden.

»Wieso zum Henker wohnst du so am Arsch der Welt?«, fluchte Caleb, als er sich die letzten der Stufen zur nächsten Plattform am Geländer hochzog. Elias zuckte bloß die Schultern. Seiner Mutter konnte er kaum einen Vorwurf machen, dass sie so wenig verdiente und es nur für eine der tiefer gelegenen Wohnungen reichte. Für eine, bei der man zum nächsten Aufzug oder zur Magnetbahn erst einmal mindestens drei Plattformen nach oben und dann noch einmal zehn Minuten laufen musste. Er wollte sich aber eigentlich gar nicht beschweren, denn es gab durchaus Apartments, die noch weiter abseits lagen. Oder Menschen ohne ID, die gar keines bekamen und irgendwo in den vergessenen Tiefen der Stadt hausten.

»Die Aufzugschächte sollen bald erweitert werden«, gab er atemlos zurück, während er die aufkommende Vorstellung, dass er selbst vielleicht bald irgendwo dort unten leben musste, vehement von sich schob. So weit würde es nicht kommen. Dann nahm er doch lieber einen Job im Schacht.

Ihr nächster Halt war über den Dächern. Dort, wo sie sich frei fühlen konnten. Mit einem der Aufzüge fuhren sie ganz bis nach oben, um dann durch eines der gewaltigen Tore nach draußen zu treten. Fast einen Meter dick, schützten die Kolosse aus Stahl die Menschen vor dem, was in der Nacht an der Oberfläche lauerte. Bei Einbruch der Dämmerung wurden sie fest verschlossen, trennten die dahinter Lebenden von den Kreaturen, die bei Nacht jeden verschlangen, der es wagte, einen Fuß auf den Erdboden zu setzen. Daher hatten die Menschen die meisten Gebäude an der Oberfläche aufgegeben; es war schlicht zu gefährlich. Wie lange sie nun schon unter der Erde lebten? Das stand irgendwo in Elias’ Unterlagen, die er für die Geschichtsprüfung hatte lernen sollen. Leider zählte Geschichte nicht zu den Fächern, die ihn interessierten, deswegen hatte er keine Ahnung. Es musste aber schon eine Weile sein, denn die verbliebenen Gebäude waren zum Teil verfallen und man sah, wo die Natur sich ihrer wieder bemächtigte.

Von den Toren aus war es nicht mehr sehr weit. Caleb führte sie schon bald an, denn er war der Größte von ihnen und ihm fiel es auch am leichtesten, die geheime Leiter hervorzuziehen und herunterzuklappen, die in den ersten Stock einer der Ruinen führte. Die Fenster und Türen des Erdgeschosses waren verrammelt und zugenagelt und auch die Leiter sollte eigentlich nicht dort sein. Sie hatten sie irgendwann hergebracht. Caleb reckte sich ein Stück, angelte mit der rechten Hand nach dem Fuß der Leiter, dann zog er sie ein gutes Stück über die Kante, bevor sie fast von selbst nach unten klappte. Wenn man nicht aufpasste, konnte man sie leicht auf den Kopf bekommen. Doch inzwischen waren sie geübt darin und so landete die Leiter sicher auf dem Boden. Zuerst erklommen Caleb und Annie die Streben, dann folgte Elias den beiden und schließlich zogen sie die Leiter wieder ins Innere des Gebäudes. Es war offiziell abgesperrt und auf eine Begegnung mit der Patrouille, die sich wunderte, wieso da eine Leiter an der Wand lehnte, verzichteten sie dankend.

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