Kitabı oku: «Nach vorn», sayfa 3

Yazı tipi:

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ANSTATT mein neues Leben zu feiern, feiern wir Lunas Geburtstag bei mir zuhause. Ich habe mir gedacht, dass das eine gute Idee wäre. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Meine Eltern lernen meine Freundinnen kennen und wir bringen Lunas Geburtstag hinter uns. Am Ende des Tages könnte ich erleichtert aufatmen und hätte es hinter mich gebracht. Nicht dass Lunas Geburtstag an sich eine schlechte Sache wäre. Aber sie hat sich von ihren Eltern einen Smoothie-Mixer gewünscht. Einen von diesen teuren. Mit Ice-Crush und Turbo-Funktion, Soft-Step-Geschwindigkeitsregulierung, integriertem Messbecher, Anti-Rutsch-Füßen und einem patentierten Öffnungsmechanismus zur leichten Reinigung.

Ich weiß das so genau, weil sie uns ausführlich davon erzählt hat. Luna will nämlich Grüne Smoothies machen. Alle wollen Grüne Smoothies machen. Alle sind plötzlich ganz wild darauf, Grünkohl, Brennesseln und Sellerie in ihre Getränke zu mischen.

Der Plan ist, dass Luna zuerst mit ihren Eltern essen geht und sich dann mit dem Mixer unter dem Arm geklemmt auf den Weg in unsere Wohnung macht. Shirin und Julia sind schon zwei Stunden vorher bei mir. Wir wollen eine Torte backen und Geburtstagsdeko aufhängen. Dann wollen wir ihr ein Buch über Grüne Smoothies überreichen. Wilde Grüne Smoothies. Also welche, wo man sich davor durch die Büsche schlagen und Kräuter sammeln muss. Oder zum Biomarkt gehen, wenn man Geld hat.

Meine Eltern habe ich vorgewarnt, sie freuen sich. Ich suche noch das Regal mit den Kochbüchern ab, um sicherzugehen, dass meine Mutter das Himbeerbuch und die anderen Scheißbücher auch tatsächlich weggeworfen hat. Bin beruhigt, dass ich sie nicht finde. Dann klingeln Shirin und Julia auch schon. Ich höre sie im Stiegenhaus lachen und dann stehen sie außer Atem vor der Wohnungstür.

Julia stützt sich an Shirin ab und keucht. „Vierter Stock ohne Lift ist echt hart.“

„Aber gutes Workout.“ Shirin deutet auf mich. „Die macht das jeden Tag“, sagt sie zu Julia. „Kein Wunder, dass die so schlank ist.“

Ich küsse die beiden auf die Wangen und sage nichts, mache nur die Tür so weit auf wie möglich, so dass die beiden nebeneinander hereinkommen können.

Vierter Stock ohne Lift, das fällt dir so richtig auf, wenn du im Rollstuhl sitzt, weil du so schwach bist, dass du nicht mal mehr gehen kannst. Wenn deine Eltern dich rauf- und runtertragen müssen. Deine Eltern. Mit sechzehn.

Zum Glück war das zeitlich begrenzt, aber seither frage ich mich immer wieder, wie das Leute machen, die ständig im Rollstuhl sitzen. Die alte Frau Cermak über uns geht schon seit langem nicht mehr raus. Dabei ist die in meiner Kindheit noch durch den Park gejoggt, da kann ich mich dran erinnern. Es kann so schnell gehen, dass man plötzlich nicht mehr kann. Aber niemand will daran denken.

Ich auch nicht, nicht mehr. Mit einer Kopfbewegung schüttle ich mir die Haare aus der Stirn und die Gedanken aus dem Kopf, und Shirin und Julia schütteln artig die Hand meiner Mutter, die sich wie vereinbart nur kurz blicken lässt.

„Es ist peinlich, wenn du dich mit meinen Freundinnen unterhalten willst“, hab ich gesagt und ihren traurigen Blick ignoriert. Sie hört uns in der Küche hantieren, reden und lachen, das muss ihr reichen als Information darüber, dass mein Leben sich normalisiert hat, dass alles okay ist, dass sie sich jetzt keine Sorgen mehr machen muss.

Julia packt Döschen und Beutelchen aus. Shirin und ich öffnen sie und inspizieren ihren Inhalt. Chia Samen. Goji Beeren. Acai Pulver.

Ich schnuppere an einer geöffneten Dose. Riecht nach nichts. Skeptisch sehe ich Julia an. „Bist du im Superfood-Store eingebrochen oder was?“

„Hab ich alles zuhause“, klärt mich Julia auf.

„Und das kommt alles in die Torte?“

„Je mehr, desto besser.“

Ich lache auf. „Einfach nur zusammen schmeckt sicher eklig.“ Ich hebe eine andere Dose an meine Nase und schnuppere wieder. „Oder einfach nach nichts.“

Shirin wischt auf ihrem Handy herum. „Keine Panik, wir haben ein Rezept.“ Sie hält mir den Display vor die Nase. Raw Goji Maca Cake.

„Vegan and gluten-free“, lese ich vor. „Ich wusste nicht, dass Luna ein Problem mit Gluten hat.“

„Hat sie nicht“, erklärt Julia. „Aber zum Geburtstag kann man schon mal was Besonderes kriegen.“

Ich seufze und mache mich daran, Schüsseln aus Laden und Kästen zu räumen, die brauchen wir vielleicht.

Brauchen wir dann aber gar nicht, denn Julia hat ganze Vorarbeit geleistet. Cashewnüsse über Nacht eingeweicht, Walnüsse und Datteln geschreddert. Wir müssen das Ganze nur noch zu einem Brei mischen. Was unser billiger Küchenmixer aber nicht kann. Ich verstehe nicht, warum wir Luna keinen Kuchen backen, sondern einen mixen, wo sie doch erst den Power-Mixer mitbringt.

Aber ich sage nichts und Shirin grinst nur und sagt, dass wir Luna extra deswegen einen Bröselkuchen machen, damit sie ihr Geburtstagsgeschenk erst richtig zu schätzen lernt. Nach mehereren erfolglosen Versuchen, aus Julias Zutaten eine zusammenhängende Masse zu machen, schmeißen wir das Ganze in den Tiefkühler und hoffen, dass alles zumindest so zusammenfriert, dass wir es als Torte dekorieren können.

Die Wartezeit, bis Luna kommt, verbringen wir damit, bunte Happy-Birthday-Fähnchen aufzuhängen und alte Zeitschriften zu lochen, um genug Konfetti zu bekommen. Noch während wir wie wild herumlochen, klingelt es. Luna.

Ich sehe auf die Uhr. „Verdammt, die Zeit vergeht schnell.“

„Scheiße.“ Shirin schlägt sich die Hand vor den Mund und reißt die Augen auf, bevor sie zu lachen beginnt. „Der Kuchen ist noch im Tiefkühler.“

Julia sieht sie verständnislos an. „Da soll er auch sein, oder?“

Shirin schüttelt den Kopf. „Eine halbe Stunde vor dem Essen muss man ihn rausstellen. Sonst ist er zu hart.“

Ich grinse. „Aber dann zerfällt er.“

Alle drei springen wir gleichzeitig auf, laufen in die Küche und holen den gefrorenen Dattel-Nuss-Block aus dem Eiskasten. Julia seufzt theatralisch und verdreht die Augen.

„Wir könnten ihn auftauen und mit Lunas Mixer zu einem Smoothie verarbeiten“, schlage ich vor.

„Wir könnten einfach jemanden damit erschlagen“, kommentiert Julia trocken. Bestimmt tut es ihr leid um die ganzen verschwendeten Superlebensmittel.

Vor lauter Kuchenaufregung habe ich gar nicht gemerkt, dass meine Mutter Luna bereits hereingelassen hat. Aus den Gesprächsfetzen schließe ich, dass sie sich über Lunas Lieblingsrestaurant unterhalten, wo sie vermutlich gerade mit ihren Eltern essen war.

„Hey!“ Luna bleibt im Türrahmen zur Küche stehen und winkt.

„Hey, Luna!“ Ich falle ihr um den Hals und drücke sie. „Happy Birthday!“

„To you …“, fallen Shirin und Julia ein und singen gleich weiter. „Marmelade im Schuh, Aprikose in der Hose, Happy Birthday to yooouuuu!!!“

Ich sehe, dass meine Mutter mitsingt. Sogar den Teil mit der Marmelade und der Hose. Ich kann spüren, wie sie sich freut.

Luna lächelt und verbeugt sich. „Und was ist das?“ Sie deutet an mir vorbei auf den Kuchen.

„Äh …“ Julia zögert. „Ein Geburtstagsklumpen von uns?“

„Yeah!“ Luna lacht und stellt ihren Mixer ab. „Einen Klumpen wollte ich schon immer haben.“

„Wir können ihn auftauen und mixen“, wiederhole ich meinen Vorschlag von vorhin. „Schmeckt sicher gut.“

Nach kurzer Diskussion tauen wir den Klumpen tatsächlich auf, mixen die Masse mit Lunas Powergerät und frieren das Ganze wieder ein. Am Abend ist daraus ein wirklich leckerer Kuchen geworden. Oder wie auch immer man das nennen soll. Bis dahin werfen wir alle möglichen Dinge, die wir in unserer Küche finden, zusammen und staunen, wie der Mixer sogar Orangenschalen und Karotten in einen cremigen Smoothie verwandeln kann. Einmal kippen wir unser Gebräu würgend ins Klo, nachdem wir versucht haben, auf Julias Vorschlag hin Avocadokerne und Bananenschalen als Zutaten zu verwenden.

Als Entschädigung mixt sie uns aus ihren magischen Zutaten einen Supershake. Mit Bananen, Mandelmilch, Maca Pulver und Chia Samen. Eigentlich hätte noch eine Prise Himalaya-Kristallsalz hineingehört, aber das hat Julia nicht mitgebracht und wir haben nur jodiertes Tafelsalz, das will Julia nicht. Sie will keine Produkte mit Zusatzstoffen, sie will pur und rein und gesund sein.

Jodmangel war eine häufige Ursache dafür, dass Menschen einen Kropf bekommen haben, aber das sage ich nicht. Auch nicht, dass es im Himalaya gar keine Salzbergwerke gibt. Außerdem geht in dem Moment der Mixer an und mich würde sowieso niemand hören.

Der letzte Shake ist okay, nur die Chia-Samen sind schleimig und nerven. Als alle gegangen sind, ist mir schlecht von den ganzen süßen Sachen. Ich öffne den Tiefkühler und nehme eine Packung Tiefkühlpizza heraus. Quattro Formaggi.

Ich konzentriere mich auf die Gorgonzolafäden, die sich zwischen meinem Mund und dem Pizzastück in meiner Hand ziehen, und versuche, mir nicht Julias vorwurfsvollen Blick vorzustellen. Selber schuld, dass du Krebs gekriegt hast, sagt der Blick. Wenn du solchen Junk frisst.

Als ich bei der Hälfte der Pizza angekommen bin, kommt meine Mutter in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. „Deine Freundinnen sind nett“, sagt sie.

Ich nicke mit vollem Mund. Ja. Nett sind sie.

Plötzlich habe ich das dringende Bedürfnis, Marc anzurufen. Ich habe mich erfolgreich drei Tage lang nicht bei ihm gemeldet und seine zahlreichen Anrufe und Nachrichten ignoriert. Die letzte war:

Gut, ich gebe dir Zeit

Für den Anruf schließe ich mich auf dem Klo ein. Marc hebt sofort ab.

„Lass uns einfach vergessen was passiert ist“, sage ich schnell, bevor er etwas sagen kann.

„Okay“, kommt es zögernd vom anderen Ende der Leitung. „Ich will aber, dass du weißt …“

„Passt schon.“ Ich will nichts hören. Will über nichts diskutieren. Ich brauche nur jemanden, der mit mir Tiefkühlpizza Quattro Formaggi isst. Und außer Marc fällt mir da momentan niemand ein.

Ich will auch nichts sagen, außer: „Hast du Zeit grad? Ja? Dann komm ich vorbei. Ich bring Pizza mit.“

Ich klappe die halbe Pizza zusammen, so dass Käse mit Käse verschmilzt, und packe sie in den Pizzakarton, den ich wieder aus dem Altpapier hole. „Ich fahr noch zu Marc, ja?“

Meine Mutter nickt. „Sonntag Brunch mit ihm steht noch?“, will sie wissen. „Ich möcht ihn wirklich gern kennenlernen.“

Ich nicke hastig. „Alles klar. Er kommt gerne.“

Ich muss mir schleunigst überlegen, wie ich Marc dazu kriege, am Sonntag bei uns aufzutauchen.

6

MARC lacht, als er die labbrige halbe Pizza sieht. „Sowas meinst du, wenn du sagst, du bringst Pizza mit?“

Ich grinse verlegen und ziehe die Schultern hoch. „Können wir das irgendwie aufwärmen?“ Während die Pizza in der Mikrowelle ihre Runden dreht, kuschle ich mich an Marc und will einfach nicht reden, nicht denken, nur spüren, dass da jemand ist. Dass ich da bin.

Ich lasse Marc auch nicht los, als wir die Pizza vor uns liegen haben und ich kleine Stücke davon abreiße und sie mir in den Mund schiebe. Marc beißt einmal ab, den Rest überlässt er mir. Ab und zu öffnet er den Mund, um etwas zu sagen, aber jedes Mal versuche ich, ihm ein Stück Pizza hineinzuschieben, und er wehrt lachend ab.

Als ich fertig bin, wische ich meine fettigen Finger an der Hose ab. „Ich will echt nicht darüber reden“, stelle ich klar.

Marc atmet tief ein. „Okay. Ich will aber …“

Da ich keine Pizza mehr habe, um ihn zu stoppen, beuge ich mich kurzerhand über ihn und küsse ihn. Es dauert ein bisschen, aber dann macht er mit.

Einmal versucht er es noch. „Und es ist wirklich wieder alles …“

Ich nicke heftig. Ich will jetzt nicht reden. Ich will, dass er mich hält, dass er mich küsst, dass er mich die verdammten Smoothies vergessen lässt. Ich will mich an ihm anhalten. Marc ist einer, an dem man sich anhalten kann.

Aus den Augenwinkeln sehe ich seine Hanteln auf dem Küchentisch, daneben eine Riesenpackung Eiweißpulver. Whey Protein.

Proteinshakes können verdammt gefährlich für die Nieren sein, wenn man keine Ahnung hat. Ich schließe die Augen. Zum Küssen braucht man die schließlich nicht.

Wir fahren auseinander, als Marcs Mutter in die Küche kommt. Ich bedanke mich kurz und artig, dass ich am Abend noch vorbeikommen durfte, sie winkt ab und lächelt, sie hat Wichtigeres zu tun, scheint’s. Mir nur recht. Mein Kopf ist noch immer voll schleimiger Chia Samen und vorwurfsvoller Blicke, die muss ich vertreiben, schnell.

Marc lässt sich von mir in sein Schlafzimmer und auf sein Bett ziehen. „Moment mal“, sagt er kurz, aber ich gebe ihm kein Moment mal, ich habe in den letzten zwei Jahren auch nie eines bekommen, warum sollte er.

Ich deute auf die Packung Kondome, die Marc demonstrativ auf das Nachtkästchen gestellt hat. Marc hebt fragend die Augenbrauen. „Wirklich? Aber …“

Noch immer will er reden. Aber es gibt nichts zu reden. Es gibt Proteinshakes und grüne Smoothies und es gibt Narben und Bestrahlungen von über 10 Gray. Die haben keine gemeinsame Sprache.

Marc ist ein Profi, was das Kondom betrifft, bestimmt hat er inzwischen geübt. Er rollt sich auf mich, ich spüre einen scharfen Schmerz, der mich mehr interessiert als erschreckt. Ich versuche, in den Schmerz hineinzuspüren, spüre Marc, der sich auf mir bewegt, angenehm ist das nicht, aber es wird weniger unangenehm mit der Zeit, es ist Marc, Marc der nach Salz schmeckt, ich mag Salz.

„Entschuldigung“, keucht Marc plötzlich und drückt seinen Kopf an meinen Hals. „Ich wollte nicht … ich dachte nicht, dass ich so schnell …“

„Schhhhh“, mache ich und streichle ihm über die Haare. „Alles okay. Alles gut.“ Ich drehe mich zur Seite und betrachte das Blut auf dem Leintuch. Mein Blut.

Mit Blut hat alles angefangen. War plötzlich in der Kloschüssel. Schmerzen hatte ich keine, aber bei sowas geht man schon mal zum Arzt. Vorsichtshalber. Und dann ging alles ganz schnell.

Angst habe ich am Anfang auch keine gespürt. Mehr Aufregung. Und die feste Überzeugung, das zu schaffen. Mein Körper und ich, wir sollten ein gutes Team sein gegen diese neue Bedrohung. Wir waren zusammengeschweißt wie Pech und Schwefel und würden einander nicht im Stich lassen. Wir würden gemeinsam kämpfen. Dachte ich.

Da wusste ich noch nicht, dass du wollen kannst, soviel du willst, dein Körper aber trotzdem irgendwann sagt, er will nicht mehr. Nicht mehr mitmacht. Sich verhält wie ein störrischer Esel, der einfach nicht mehr weitergehen will. Dass da nichts ist mit Team.

Aber jetzt ist er wieder da, bei mir. Ist zurückgekehrt. Hat es mit mir sogar ins Bett von einem wie Marc geschafft. Ein kurzer Schmerz, ein bisschen Blut, und niemand muss zum Arzt deswegen.

„Geht’s dir gut?“, fragt Marc, obwohl er mich das nicht fragen braucht, obwohl er ja sehen kann, wie ich daliege mit einem Strahlen im Gesicht, das von einem Ohr zum anderen geht.

Marc lächelt zurück, und wir lächeln einander an, wie zwei Verliebte und ich könnte heulen vor Glück. Langsam streichle ich Marc über den Rücken, umfasse mit meinen Händen seine Oberarme, Marc spannt die Muskeln an und lächelt noch immer. Ich mag Muskeln.

Ich mag auch Fett und Haut und Knochen und Haare. Ich hab das alles wieder. Wir sind wieder ein Team.

„Du-hu“, murmle ich später in seine Armbeuge hinein.

„Mhm?“

„Meine Eltern wollen dich kennenlernen.“

Ich habe die Augen geschlossen, aber ich spüre sein Lächeln. „Wirklich?“

Ich nicke. „Sie laden dich am Sonntag zum Brunchen ein.“

„Oje. Sonntag kann ich nicht. Da ist Jugendlauf und ich hab schon das Startgeld gezahlt.“

Ich richte mich auf. „Jugend-was? Sag bloß, du läufst Marathon?“

„Marathon kommt in einem Monat, für den trainier ich im Moment erst. Aber beim Jugendlauf mach ich schon seit Jahren mit, der ist nur zehn Kilometer.“

„Sag mal, gibt’s etwas, was du nicht machst?“

Marc lacht. „Ich geb mich nicht geschlagen“, sagt er, ohne zu zögern. Er zieht mich wieder zu sich.

Marc ist also beim Jugendlauf, das gibt mir noch etwas Zeit. Andererseits … „Kann man dir da zuschauen?“, will ich wissen. „Also beim Laufen?“ Marc strahlt mich an. „Würdest du kommen?“

„Mhm. Gerne. Vielleicht.“

Marc streicht meine Haare nach hinten. Auch das mag ich gerne. Ich habe Haare, die man in verschiedene Richtungen streichen kann, und ich habe jemanden, der das für mich tut.

„Was jetzt?“, fragt er. „Gerne oder vielleicht?“

„Gerne. Stört’s dich, wenn meine Eltern mitkommen?“

„Überhaupt nicht.“

7

ANFANGS musste ich einmal im Monat zum Check-Up, inzwischen nur noch alle drei Monate. Blutüberprüfung, Urinkontrolle, das ganze Drum und Dran. Anfangs war ich extrem nervös, weil ich nicht glauben konnte, dass jetzt wirklich alles vorbei sein sollte. Jeweils eine Woche vor der Nachkontrolle waren meine Alpträume am schlimmsten. Auch untertags hatte ich Panik, dass sie mich wieder dabehalten würden.

War zum Glück aber nicht so. Annette lächelte jedes Mal, wenn sie mir meine Befunde zeigte. „Wunderbare Werte“, sagte sie. „Ich freu mich so.“

Einige Tage vor dem Termin bin ich noch immer nervös. Aber je mehr Zeit vergeht, umso mehr mischt sich auch ein anderes Gefühl hinein, das die Oberhand gewinnt, sobald ich Annette lächeln sehe. Ich freue mich. Irgendwie gehe ich da inzwischen sogar gerne hin. Weil Annette sich so freut. Weil wir uns beide freuen.

Eigentlich hätte ich auch regelmäßig mit der Psychologin sprechen sollen. Ist so der Plan, wenn man rauskommt. Aber die konnte ich schon auf der Station nicht leiden. Sie wollte über meinen Schulbesuch sprechen und mir helfen, Kontakte aufrechtzuerhalten. Gedächtnistraining machen und so Scheiß. Ich hatte aber keine neurologische Störung, die ein Gedächtnistraining erfordert hätte. Ich wollte auch nicht in die Schule gehen und schon gar keine Kontakte aufrechterhalten.

Dass ich jetzt im Nachhinein regelmäßig mit ihr reden sollte, schien mir absurd, und Annette hatte vorgeschlagen, dass ich bei den Nachsorgeuntersuchungen einfach mit ihr darüber reden sollte, wie es mir so ging. Das Angebot nahm ich dankend an. Mit Annette wollte ich reden. Auch wenn sie nie genug Zeit für mich hatte.

„Und, wie geht’s dir sonst?“, will Annette wissen, nachdem klar ist, dass mein Körper wieder drei Monate ohne Auffälligkeiten mitgemacht hat.

„Ich hab mit meinem Freund geschlafen“, platze ich heraus. Annette strahlt übers ganze Gesicht. „Schön.“

Endlich fühle ich mich so, wie ich immer sein wollte. Ich wäre gern die Vorzeigepatientin gewesen, die lächelnd reinkommt und lächelnd geht. Bei der die Therapien sofort anschlagen und über die sich die Ärzte bewundernd Notizen machen, wegen des unüblich schnellen Heilungsverlaufs. Die dann sagen kann, ja, das war bestimmt, weil ich mich schon seit meiner Kindheit bewusst ernähre und Stress vermeide und überhaupt ganz perfekt gelebt habe. Weil der Krebs sozusagen nur ein Irrtum der Natur war, der eigentlich ganz wen anderen treffen hätte sollen, jemanden, der nur fettes Zeug isst und raucht und nie Sport macht. Aber die Natur hat den Fehler gleich erkannt und mich schnell wieder gesund gemacht, seht ihr, ich war die Falsche. Notiert euch das gleich mal, damit ihr es später sofort erkennt, wenn wieder mal die Falsche vor euch sitzt.

Auch wenn alle Statistiken dagegen sprechen, man selbst ist natürlich die große Ausnahme.

Bloß: Nein.

Ist man nicht.

Reingegangen bin ich noch lächelnd. Mit dem festen Vorsatz, das alles schnell hinter mich zu bringen.

Der Krebs schert sich aber nicht um deine Vorsätze. Als die Chemo zum zweiten Mal nicht anschlug, hatte ich das Lächeln schon lange aufgegeben.

Als ich merkte, dass das mit Vorzeigepatientin nicht klappen würde, habe ich beschlossen, alle zu boykottieren. Was sollte das auch alles? Die Cliniclowns wegzuschicken, war ein Einfaches. Die Psychologin war schon hartnäckiger, die kam immer wieder und ich musste sie regelrecht anschreien, bis sie endlich verschwand. Ich verstand nicht, warum alle ständig etwas von mir wollten. Mich aufheitern, mich befragen, mich unterrichten. Wozu das alles? Ich würde doch sowieso sterben.

Ich schüttle mich und versuche, solche Gedanken wegzuwischen. Annette war die Einzige, die ich damals nicht gehasst habe, obwohl sie bestimmt für einen Teil meiner Schmerzen verantwortlich war. Aber sie war die Einzige, die mich nicht immer dazu aufforderte, positiv zu denken, weil das angeblich den Krankheitsverlauf beeinflusste. Sie war auch diejenige, die mir verriet, dass die Cliniclowns sogar manchmal zu ihr und dem restlichen Krankenhauspersonal kommen, um sie aufzuheitern.

Wenn’s mit der Vorzeigepatientin schon nicht geklappt hat, jetzt kann ich die Vorzeigepatientin der Nachsorge sein. Kann Annette zeigen, wie gut alles bei mir läuft. Es läuft auch tatsächlich gut. Es gibt allen Grund, sich zu freuen. Darüber, dass ich jetzt gesund bin, gesund- gesundgesund! Und darüber, dass ich wieder ein normales Leben aufgenommen habe. Freundinnen habe. Einen Freund. Mit ihm geschlafen habe. Mit einem Körper, der wieder funktioniert.

Annette freut sich auch, dass ich so schnell Anschluss gefunden habe. Ist gar nicht so selbstverständlich. Mobbing ist total verbreitet, anscheinend. Wenn sich die anderen in der Klasse plötzlich lustig machen über dich, weil dein Gesicht aufgedunsen ist vom Cortison, oder du total abgemagert bist und sonst auch nicht gerade so aussiehst, wie du aussehen solltest.

Wenn sie nicht neben dir sitzen wollen, aus Angst, sich anzustecken, obwohl sie sicher tausendmal gehört haben, dass Krebs nicht ansteckend ist und das auch bei jedem Biologietest so hinschreiben würden. Aber in Wirklichkeit glauben sie nicht so recht daran und wollen lieber auf Nummer sicher gehen. Wenn sie kichern, weil du dich schon wieder nicht erinnern kannst, was gestern besprochen wurde, und dir lieber gleich gar nichts mehr erzählen.

Kann dir alles passieren. Vielleicht war es also gut, dass ich mich schon früh ausgeklinkt habe aus meiner alten Klasse, weil einfach gar nichts mehr ging. Dass ich gar nicht erst versucht habe, in den therapiefreien Intervallen in die Schule zu gehen. Gar nicht versucht habe, dranzubleiben.

Zuerst haben meine Eltern Druck gemacht, dass ich es zumindest probieren soll. Doch dann gab es in meiner Schule Verdacht auf Masern, weil irgendwelche Idioten nicht geimpft waren. Da haben dann auch meine Eltern eingesehen, dass ich dort nicht hingehen kann. Ein Immunsystem wie meines wäre ja sofort tot umgefallen, wenn die Masern nur durch die Fensterscheibe Hallo gesagt hätten.

Ein bisschen Unterricht hatte ich in der Klinik. Deshalb hab ich nur ein Jahr verloren, obwohl ich eineinhalb Jahre weg war. Aber mehr wäre nicht gegangen. Echt nicht.

Doch jetzt kann ich mein neues Leben beginnen, mit Shirin, Julia, Luna, Marc und den anderen, die mich nie gesehen haben mit Augenringen, nicht im Rollstuhl, nicht beim Umkippen und Kotzen und Heulen und Aufgebenwollen.

Die mich nur so kennen, wie ich jetzt bin.

Wie ich gesund inmitten der Menschenmenge stehe und die Läufer anfeuere, allen voran Marc, meinen Freund. Wie ich schreie und juble, ohne außer Atem zu kommen. Wie meine Eltern neben mir mitrufen und mitjubeln, mehr mir zujubeln als denen auf der Bahn.

„Welcher ist es denn?“, fragt meine Mutter lachend, als ich aufgeregt der Gruppe der ersten Läufer zuwinke, die uns alle anlächeln.

„Der da!“ Ich zeige auf Marc, der ein paar Meter weiter über die Ziellinie läuft.

„Vierter!“, stellt mein Vater anerkennend fest. „Gerade das Podest verpasst, aber nicht schlecht.“

Marc hat sich eine Flasche Wasser über den Kopf gegossen und kommt mit tropfnassen Haaren auf uns zu. Er küsst mich auf die Wange und richtet dabei das Handy auf unsere Gesichter. Ich strahle mit ihm um die Wette, so gut ich kann. Nicht, dass ich mir diese Bilder irgendwann anschaue. Ich gehöre auch nicht zu Marcs Followern. Was er so postet, finde ich nicht besonders interessant.

Marc dreht sich zu meinen Eltern und strahlt weiter, jetzt ohne Fotos.

„Das ist Marc“, stelle ich ihn vor. „Das sind meine Eltern.“

Marc gibt ihnen die Hand, dann entschuldigt er sich. „Ich geh schnell duschen, dann komm ich wieder.“ Er verschwindet in der Menge in Richtung der Container, die für den Jugendlauf aufgestellt worden sind. Ich sehe, wie meine Eltern einander zulächeln und aufatmen.

Test bestanden.

Nach zwanzig Minuten kommt Marc trocken und mit einem Plastikbecher in der Hand zurück, gierig saugt er am Strohhalm.

„Was ist das?“ Ich öffne den Deckel und spähe hinein. Vanillegeruch schlägt mir entgegen.

Marc schiebt meine Hand beiseite und drückt den Deckel wieder fest. „Proteinshake. Ist gut für die Muskeln.“ Er sieht auf die Uhr und nickt. „Bis zu einer Stunde nach dem Sport kann’s der Körper am besten verarbeiten.“ Er macht noch einen tiefen Schluck, dann hält er mir den Strohhalm hin.

„Willst du mal kosten?“

Ich schüttle den Kopf, aber ich sage nichts. Sollen sie doch ihren Scheiß fressen und saufen und glauben, dass sie gesünder werden davon.

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