Kitabı oku: «Doggerland», sayfa 3

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In seinem Buch stellt Clement Reid zum ersten Mal die Hypothese auf, dass im Osten von Yorkshire, zwischen England und Dänemark, ein Gebiet zum Vorschein kommt, das früher so ausgedehnt war, dass man trockenen Fußes von einer Seite zur anderen gehen konnte. Mit der Klimaerwärmung und dem Schmelzen der Polkappen im Mesolithikum schrumpfte dieses Gebiet immer weiter. Statt der für die Sintflut verbuchten vierzig Tage und vierzig Nächte dauerte es jedoch sechstausend Jahre, bis der Meeresspiegel nach und nach so weit anstieg. Aber das Ergebnis ist das gleiche, und es gab ein Vorher und ein Nachher. Das Vorher einer vorsintflutlichen Welt, und das Nachher einer bis heute andauernden, historischen Epoche, in der man die Stabilisierung des Meeresspiegelniveaus für gegeben nahm. Dazwischen gab es einen Moment, in dem es kippte, in dem das Gleichgewicht verloren ging. An Orten, die von Gebietsverlusten betroffen waren, existieren über diesen Moment viele Mythen. Darin wird das Ganze wie eine Kollision dargestellt, es wird wie im Zeitraffer betrachtet. Das harrt einer Neubewertung, schreibt Clement Reid, der im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen nicht alles wörtlich nimmt und buchstäblich versteht. Auf seinem Nachttisch liegt eine Ausgabe der viktorianischen Bibel, er schlägt sie auf und liest sie anders, als man sie bisher gelesen hat. Da es keinerlei Artefakte aus Metall aus dieser Zeit gibt, datiert er den bei Ebbe in ganzen Bänken freigelegten versteinerten Torf und die in ihm enthaltenen Überbleibsel auf die Steinzeit. Nicht selten findet man zwischen den Bäumen Knochen von großen Säugetieren. Selbst heute noch ist es keine Seltenheit, dass Fischer Knochen in ihren Netzen nach oben ziehen. Seit Jahrhunderten spuckt das Nordseebecken immer wieder Überreste von Landtieren aus, von Arten, die in unseren Breitengraden nicht mehr existieren oder die generell ausgestorben sind.

Clement Reid stirbt drei Jahre nach Erscheinen seines Buches. Bei seinen Forscherkollegen von der Royal Society genießt er hohe Anerkennung, aber außerhalb dieser Kreise hat er kein großes Publikum und auch die Nachwelt nimmt ihn kaum zur Kenntnis, das hebt Margaret Ross in ihrer biografischen Notiz hervor. In ihr Vorwort flicht sie eine persönliche Anekdote ein und erinnert daran, dass Reid es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, die Fischer am Kai zu erwarten, so wie sie es beim niederländischen Paläontologen Dick Mol am Hafen von Rotterdam beobachtet und ab den neunziger Jahren selber praktiziert hat. Allerdings begann die Quelle langsam zu versiegen, nach einhundertfünfzig Jahren Schleppnetzfischerei auf den Untiefen der Doggerbank, im Zuge derer man inmitten von Fischen und Krebstieren Backenzähne, Stoßzähne, längliche Knochen, flache Knochen, Kiefer und Schädel von etlichen Tieren herausgeholt hatte, von denen sich viele zu Lebzeiten nie begegnet waren: Wolf, Hyäne, Mammut, Bison, Rhinozeros, Rentier, Walross, Elch und viele andere zur Familie der Hirsche zählende Tiere. Ihre jeweiligen Lebensräume haben keinerlei Ähnlichkeit mit unserer heutigen Umgebung, lässt man mal die Nachzügler der Evolution wie Hirsch, Hase, gemeiner Fuchs und Wildschwein außer Acht. Moorlog, so nennen die Fischer dieses Sammelsurium, diesen Mischmasch aus Holzstücken, alten Knochen, Torfblöcken und anderen versteinerten Überresten, die schwer in ihren Netzen liegen und sie beschädigen. Sie mussten erst davon überzeugt werden, im Interesse der Wissenschaft nicht gleich alles wieder über Bord zu werfen, selbst wenn man nur in seltenen Fällen ein handgearbeitetes Objekt darin findet, wie eine Harpune oder ein Steinbeil aus der Jungsteinzeit. Dennoch kommt es vor, dass ein Kapitän – sein Name und der seines Schiffes gehen sicher in die Annalen ein – größeren Forschergeist an den Tag legt, einen Sedimentblock zerbricht und dabei ein Stück von Seltenheitswert findet. Durch die modernen Fangmethoden werden die unterseeischen Ablagerungen verschoben und die Stratigrafie durcheinandergewirbelt. Mit Beginn der Schleppnetzfischerei treffen am Grund der Netze sämtliche Habitate aufeinander, die je existiert haben. Zum Glück kann man durch die Laboranalyse der versteinerten Torfstücke und die Untersuchung der Pollen und Sporen, die sie enthalten, eine Chronologie rekonstruieren und jedes Stück ins richtige Fach einsortieren.

Auf der Oberfläche der ausgedehnten Schwemmlandebene, welche die Nordsee darstellt, wenn sie trockengefallen ist, bei jedem extremen Temperaturanstieg oder -abfall, bei jeder Bewegung der Gletscher folgt eine spezifische Flora und Fauna auf die nächste. Das geschieht in aufeinander folgenden Wellen, der Kreis schließt sich immer wieder neu, ein Zyklus, der sich wiederholt. Eiswüste, Mammutsteppe, Taiga, gemischter Kiefernwald, gemäßigter Wald. Und dann wieder umgekehrt, Borealer Nadelwald, Tundra, Eiswüste. Bei jeder Klimaveränderung hebt und senkt sich das Inlandeis wie bei einem Atemzug. Es schiebt sich nach vorn, wird dicker, dehnt sich, breitet sich in alle Richtungen aus, oder zieht sich, wenn sich das Klima wieder erwärmt, zusammen, weicht zurück, zentriert sich, ist nur noch ein dünnes Packeis, kurz davor auseinanderzutreiben. Dann wird es erneut dicker, breitet sich aus, überzieht das gefrorene Wasser der Arktis und lässt sich auf der Landoberfläche nieder, ragt bei jeder neuen Phase der Abkühlung über seine bisherigen Grenzen hinaus, festigt sich, rutscht durch sein Gewicht und dank der unterirdischen Wasserströme weiter, rückt von den hohen Breitengraden in Richtung der gemäßigteren Breitengrade eines Europas vor, das in dem Moment, wo das Inlandeis es erreicht, schon nicht mehr in einer gemäßigten Zone liegt. Nachdem es sich dort niedergelassen hat, drückt es auf die Kontinentalplatten, die dem Druck an dieser Stelle zunächst standhalten, ihn wegstecken. Dann, in dem Maße, wie das Eis über ihnen wächst, senken sie sich schließlich unter der drei Kilometer dicken Eisschicht im Zeitlupentempo, senken sich immer tiefer und tiefer unter dem Gewicht des kalten Gletscherkörpers ab, der alles verwüstet, abkratzt und abschleift, bei jedem Atemzug, den er tut, bei jeder Verlagerung, jedem Vorstoß oder jedem Zusammenziehen. Unter seinem Bauch hobelt und häuft er alles an, was der felsige Sockel ihm an Material liefern kann, zum Ausquetschen, zum Weitertransportieren, zum Zermalmen, zum Zerkleinern zu Schotter, grobem Sand, feinem Sand, und die allergrößten Blöcke nimmt er gleich im Ganzen mit. Wenn er erst einmal auf dem Festland Fuß gefasst hat, dann gibt er es nicht mehr frei. Er streckt seine Gletscherzungen in Richtung Süden aus, immer massiver und mächtiger, er schluckt ganze Landschaften, und wenn er von ihnen ablässt, sind sie nicht mehr wiederzuerkennen.

Da entscheidet sich die Zukunft des Doggerlands. Auf den sich selbst überlassenen und im Angesicht des Gletschers wiedergewonnenen Flächen. Der Eisschild schiebt zugleich sowohl seine eigene Masse nach vorn als auch das, was er abreißt, was bei seinem Durchzug an der Oberfläche des Sockels friert und aufreißt, er nimmt mit, was über das hinausragt, woran er sich festhält, er nimmt Geröll jeder Art und Größe jedes Ausgangssubstrats und jeder Herkunft mit, das seinen Weg kreuzt, das unter dem Eis hindurch befördert wird, in der Geschwindigkeit, die er vorgibt, manchmal auch schneller. Dieses Geschiebe wird an die Ränder gedrückt und dort zurückgelassen, wenn der Gletscher sich zurückzieht, und sei es nur für den Sommer. Die Moränenfront wird durch das Schmelzwasser ausgewaschen. Dann wird sie erneut verschluckt, manchmal dauerhaft. Und schließlich wird sie endgültig wieder freigegeben, am Tag des Umschwungs, der das Ende der Eiszeiten besiegelt, wenn der Rückzug des Gletschers unumkehrbar wird, und diese Moränenfront, die sein Weggang ohne Wiederkehr vor Ort zurücklässt, anstelle und am Platz der Eisfront, Massive aus Granulat, die aus der größten jemals in Angriff genommenen Zermalmungsarbeit hervorgegangen sind, wird, angeordnet zu Hügeln, zu Bergkuppen, das einzigartige Relief des Doggerlands bilden, von einem Ende der Steppe zum anderen, sie werden die einzigen Hindernisse sein, die einzigen Schutzwälle gegen den Wind.

Vom Eisschild blasen die katabatischen Winde.

Permanent, immer in eine Richtung. In der Eiszeit tragen sie in allen europäischen Sprachen einen Namen.

Sie sind zehn Mal so stark wie ein Mistral und maßlos kalt, ihnen wird in allen Sprachen nachgesagt, dass sie den Menschen das Leben unmöglich machen, und diese sind dann auch Richtung Süden geflohen.

Die zur gemäßigten Flora gehörenden Arten sind ihnen vorausgegangen, haben hier und da eine windgeschützte Stelle gefunden, überall sonst ist ihr Pollen bei Kernbohrungen nicht nachzuweisen. Ausgehend von diesen Zufluchtsorten werden sie sich nach Beginn der Eisschmelze erneut auf den Weg machen, um Europa zu besiedeln. Ihr Eroberungsdrang wird erst gebremst, als die Klimaerwärmung zum Stillstand kommt; als die Temperaturen dann wieder steigen, versetzt ihnen das einen regelrechten Schub, und als das Phänomen an Fahrt aufnimmt, wird die Landschaft in weniger als einem Jahrtausend grundlegend verwandelt.

Bei der Vorlesung über Palynologie von Professor McGregor 1987 begegnet Margaret im Hörsaal Marc Berthelot. Die Palynologie, die Pollenanalyse, ist für Archäologen und Paläontologen aufschlussreich, für alle, die versuchen, unsere Lebensbedingungen in der Vergangenheit zu rekonstruieren. Aber auch die Ölindustrie interessiert sich für die Palynologie, sie begleitet die aufwendigen Explorationsbohrungen im Untergrund der Nordsee. Margaret fällt es leicht, ja, es hat für sie fast etwas Spielerisches, sich Woche für Woche Dutzende von mit dem elektronischen Mikroskop gemachten Pollen-Aufnahmen und die dazugehörigen lateinischen Namen einzuprägen, Pinus, Quercus, Betula. Für Marc Berthelot hingegen ist das eine echte Herausforderung, eine Hürde auf dem Weg zu seinem Wunschberuf, Ingenieur für Erdöl- und Erdgastechnik in der Offshore-Industrie, ein Hindernis, das zwischen ihm und einer vielversprechenden Karriere als Prospektor steht, als Goldsucher, und je mehr Wochen vergehen, je mehr Skripte sich ansammeln, desto unüberwindbarer scheint diese Mauer zu werden.

Er ist Franzose und sie versteht etwas Französisch. Als er auf den Campus kommt, begreift er nicht gleich sämtliche Geheimnisse der studentischen Codes und Rituale, aber er lernt schnell. Sie begibt sich in sein Kielwasser, lässt sich von ihm mitreißen, erlebt durch das Zusammensein mit ihm etwas, das sie vorher nicht hat ausleben können, dieses Jahr 1987, der erste Erasmus-Jahrgang und sein letztes Studienjahr, wird für sie eines der schönsten Jahre überhaupt. Sie feiern den ersten Vertrag, den Marc im folgenden Sommer bei British Petroleum bekommt. Er pendelt zwischen den Bohrarbeiten in der Nordsee und den Analysearbeiten in den Büros von BP in Aberdeen hin und her. Es ist eine Jugend vor Internet und Handy. Er ist unterwegs, ist eine Weile weg, kommt wieder, entscheidet sich, sie anzurufen, den Kontakt wieder aufzunehmen, er hat es in der Hand, aber tut es am Ende immer. Er findet sie so vor, wie er sie verlassen hat, sie freut sich jedes Mal, ihn zu sehen, hat Zeit oder auch nicht, ist ungebunden oder auch nicht, erlaubt sich, was er sich erlaubt. Er geduldet sich, wartet, fährt wieder, sie liebt es, sich bei seiner Rückkehr seine Geschichten anzuhören, sie zieht ihre Schlüsse daraus, füllt die Lücken aus, erfindet für sich einen Text, der zwischen den Zeilen steht, Gesichter, wo vielleicht gar keine sind, stellt ihm nur selten die entsprechende Frage, verlangt aus den gleichen Gründen nichts von ihm, denn ist es einmal ausgesprochen, kommt man nicht mehr daran vorbei. Vier Jahre lang kommt und geht er, taucht auf und verschwindet. In der Zwischenzeit stellt sie sich kaum vor, wie sein Berufsleben aussieht oder sein Leben überhaupt. Sie akzeptiert, dass er die Dinge nimmt wie sie kommen, das Leben nimmt wie es kommt. Er geht, aber er kommt auch wieder zu ihr zurück. Er kennt ihre Schattenseiten, er weiß, dass dieser vorgezeichnete Weg, dem sie folgt, ihr Halt gibt, so dass sie zumindest an dieser Front ihre Ruhe hat, und einen Ankerplatz, er weiß, dass sie an dieser Kontinuität hängt, die ihn mehr als alles andere schreckt, dass ihr das genügt, er zieht sie damit auf. Ihr Verhältnis zu Mobilität, zu Veränderung könnte nicht unterschiedlicher sein, offenbart, wie weit sie auseinanderliegen. Er stellt sich vor, wie ihr Leben in fünf Jahren aussehen wird, in fünfzehn Jahren, erst Studentin, dann Assistentin, eines Tages Forschungsbeauftragte. Er malt ihr ihre Zukunft aus, wie sie sich endgültig in dieser Ecke niederlassen wird, darauf bedacht, ihre Karriere dort zu beenden, wo sie sie begonnen hat, an der Uni, gut integriert, produktiv, genau das wünscht er ihr, ein Leben im Reinen mit sich, im Schutz der Mauern von St. Andrews.

4

So plötzlich, wie er auf den Satellitenbildern aufgetaucht ist, so plötzlich wird Sturm Xaver zur Top-Nachricht befördert, er erobert das Land und sucht die Bildschirme heim. Die ersten gesendeten Bilder sind Nachtaufnahmen, austauschbar, mehrheitlich von Strandpromenaden von Küstenorten, aufgenommen an der Westküste um Mitternacht. Dann folgen, entsprechend dem Heranziehen des Sturmtiefs, Bilder von verschiedenen Punkten an der Küste, dazu eine Fülle von Daten und Luftaufnahmen, die spektakulär genug sind, um die gigantische Maschinerie der Direktübertragung am Laufen zu halten. Die mediale Berichterstattung kommt in Gang, man stellt mögliche Szenarien für besonders exponierte, besonders gefährdete Gebiete auf, jede Redaktion ist darum bemüht, ein Filmteam an die Orte zu entsenden, die im Morgengrauen, also in nur wenigen Stunden, im Visier der Kameras vom Sturmtief erreicht werden. Zur Überbrückung zeigt man für die wenigen Zuschauer, die noch wach sind, Archivbilder der durch die Flutkatastrophe von 1953 ausgelösten Überschwemmungen, so als würde man einen Gedenktag begehen. Man übt sich in Geduld, indem man die Verbundenheit der sechzig Jahre zuvor vom Schicksal hart getroffenen Nordeuropäer heraufbeschwört – so hart getroffen, dass man in den Niederlanden daraufhin einen zweihundert Kilometer langen Schutzwall errichtete. Moderatoren und geladene Experten improvisieren, geben eine Warnmeldung nach der anderen heraus, noch stehen sie nicht unter Hochspannung, noch reden sie sich nicht die Köpfe heiß. Insgeheim dankt man Xaver für sein Timing, denn er hätte ja auch zur besten Sendezeit heranstürmen können.

Der Sturm breitet sich aus, in ganz Großbritannien herrscht Warnstufe Rot, man hat sich in seinen vier Wänden eingeigelt, der überwiegende Teil der Bevölkerung schlummert seelenruhig, obwohl sich draußen vor ihrer Tür ein solches Ausnahmeereignis abspielt. Manche schlummern sogar deshalb so gut, weil sie sich im Kontrast dazu hinter der schützenden Wand in der Wärme ihres Zimmers besonders sicher fühlen. So ergeht es zum Beispiel David Ross, dem Sohn von Stephen und Margaret, der in der Villa seiner Eltern an der Queen’s Terrace in St. Andrews eine Einzimmerwohnung im Gartengeschoss bewohnt und in regelmäßigen Abständen durch das Knarzen der alten Holzveranda aufwacht, von der man nicht weiß, ob sie dem Sturm standhalten wird. Jedes Mal, wenn er in diesem komaähnlichen Zustand kurz davor ist, wieder einzuschlafen, lauscht er einen Moment lang auf das Heulen und Pfeifen draußen, um das wohlige Gefühl, in seinem warmen Bett zu liegen, noch etwas länger auszukosten. Dort unten bekommt er von dem Kommen und Gehen oben nichts mit. Er hört noch nicht mal, wie das Parkett über seinem Kopf knarrt, als seine Mutter aufsteht. Er liebt es, dem Wind draußen zu lauschen. Selbst an einem Tag wie heute, vor allem an einem Tag wie heute, wenn Wind und Wasser zugleich in Aufruhr sind. Er liebt dieses Toben, vor dem ihn die Mauern beschützen, dieses Gefühl inneren Friedens, das erst durch die Gewalt der Ereignisse draußen entsteht, und die absolute Gewissheit, außerhalb ihrer Reichweite zu sein. Schon als Kind liebte er es, auf dem Boot in seiner Koje liegend, den Wind und den Regen zu hören, wenn der Sturm draußen das hektische Klirren der Flaggleinen an den Masten übertönte und das Boot, das Innere der Kajüte, vom Rest des Hafens abgetrennt zu sein schien. Nur den Lärm der Trosse, das Knirschen und Ächzen der schlecht vertäuten Haltetaue übertönte er nicht. Ihr Klagen, das vermutlich nur deshalb an die Oberfläche kam und sich seinen Weg übers Wasser suchte, weil es eine besonders schrille Frequenz hatte und sich ständig wiederholte, drang bis an sein Ohr. Er liebte es, im Trockenen zu sein, es warm zu haben, wenn der Regen in Böen aufs Ufer traf und so heftig gegen die Fenster der Steuerkabine hinter der Trennwand prasselte, dass er klanglich mit dem Brüllen des Windes mithalten konnte. Er liebte es, sich vorzustellen, er wäre jetzt auf offener See, würde mit Erfolg gegen die Elemente kämpfen, in dem beruhigenden Gefühl, dass sein Kutter, der schon so manche Bewährungsprobe hinter sich hatte, standhalten würde. Dabei war er voller Bewunderung für diesen Onkel, der erst spät, nach seiner Rückkehr von den Falklandinseln, in ihr Leben getreten war, ihren Horizont erweitert und ihnen einen ganz neuen Blick auf die Nordsee eröffnet hatte, ihm und dem Rest der Familie, die aus lauter Landratten bestand. Beagle lautete der Name des Trawlers. So hieß auch das Segelschiff, auf dem Charles Darwin damals zu seiner Südsee-Expedition aufgebrochen war, aber möglicherweise wusste sein Onkel das gar nicht. Die ersten beiden Werke Darwins, Die Fahrt der Beagle und Über die Entstehung der Arten, stehen neben der Originalausgabe von Submerged Forests in einem der Bücherregale im Wohnzimmer, ein Durchgangszimmer, das nach vorne ebenerdig zur Straße liegt, während es nach hinten, zum Garten hin, im ersten Stock liegt, weil das Gelände ein starkes Gefälle hat. Der Flur, der von vorne nach hinten durchgeht, ist mit schwarz-weißen Zementfliesen im Schachbrettmuster ausgelegt. Im Oberlicht über der Eingangstür zieht der Himmel wie ein Filmausschnitt im Schnelldurchlauf vorbei, nur schwach erleuchtet. Oder, wenn die Sonne zwischen den Wolkenbergen hindurchblitzt, ab und zu auch mal heller angestrahlt.

So gering der Lichteinfall auch ist, er genügt, um die Dunkelheit im Flur zu durchbrechen, so dass Margaret Ross, wenn sie aus dem Badezimmer kommt, den Weg zum Wohnzimmer findet, oder sie schaltet, ohne lange zu überlegen, das Licht in der Vitrine an, die den Flur indirekt beleuchtet und in der einige Stücke aus ihrer Sammlung ausgestellt sind, die sie sich aufgebaut hat, als die Fischer noch regelmäßig archäologische Fundstücke in ihren direkt über der Doggerbank ausgerichteten Schleppnetzen fanden. Normalerweise klingelt ihr Wecker eine Stunde später, dann macht sie sich leise fertig und geht zu Fuß zu den an der Promenade liegenden Gebäuden, in denen das Labor untergebracht ist, in dem sie arbeitet. Sie nutzt die fünfzehn Minuten Fußweg, die sie, wenn es nicht regnet, verdoppelt, in dem sie noch einen Abstecher zu den Ruinen der Kathedrale macht, um sich mental auf das einzustellen, was sie erwartet, um zu ihrer Basis zu finden, von der aus sie den Faden zu ihrer Arbeit und ihrem sozialen Umfeld wieder aufnehmen kann. Heute bricht sie mit dieser Gewohnheit und bereitet sich auf einen Flug in die Hafenstadt Esbjerg vor, an der Westküste Jütlands, wo der alljährliche Kongress der dänischen Unterwasserarchäologen stattfindet. Man erwartet vierhundert Teilnehmer, es gibt etwa zwanzig Gesprächsrunden oder Runde Tische, neben der Kongresshalle stehen diverse Konferenzräume und eine Ausstellungshalle zur Verfügung, und es gibt ein Abschluss-Dîner. Und nun lässt sich das alles komplizierter an als gedacht. Zumindest für die, die wie Stephen und sie dafür noch die Nordsee überqueren müssen.

Das Wohnzimmer der Familie Ross ist gemütlich eingerichtet, mit einem Mix aus ziemlich unterschiedlichen Materialien. Im ersten Moment hat man den Eindruck, eine wohnzimmerartige Hotelbar einer internationalen Kette zu betreten, und so wie dort stellt sich sogleich ein Gefühl von Behaglichkeit ein, es hat den gleichen wenn nicht unpersönlichen, so doch zeitlosen Touch und verbreitet eine Atmosphäre, die man als cosy bezeichnen würde. Eine dieser Hotelbars, in denen man jeden Monat einen anderen Künstler der Stadt ausstellt, um ihm die Möglichkeit zu geben, seine Arbeiten zu zeigen und zum Verkauf anzubieten. In diesem Monat wäre dieser Künstler dann eben zufälligerweise Kevin Hamilton, Margarets jüngster Bruder. Richtig ausgeleuchtet wäre dieses Bild kaum kompatibel mit seiner Umgebung, aber durch die heruntergedimmte Beleuchtung wirkt es weniger krass und fügt sich trotz seines radikalen Charakters, der sich erst bei näherem Hinsehen herausstellt, in das Ambiente ein und trägt auf seine Art zu dem eine Spur unkonventionellen und anheimelnden Charakter des Raumes bei. Die gegenüber der Couchgarnitur nach Süden ausgerichtete Essecke, mit einem Tisch aus hellem Holz in der Mitte und vielen Bücherregalen an den Wänden, dient Margaret zugleich als Arbeitsplatz. Sie hat zwar ein Büro im Gartengeschoss, aber dort ist es nicht so hell und sie hat ihre Bücher nicht griffbereit.

Gestern Nachmittag setzte David sich ihr gegenüber, während sie letzte Korrekturen an ihrem Vortrag vornahm. Er sah ihr wortlos dabei zu und checkte in seinem auf Vibrieren gestellten Handy seine Termine für den Nachmittag. Da fragte sie ihn unvermittelt, ob er damit einverstanden wäre, wenn sie ihm zwei, drei ihrer Ideen vortrüge.

»Ich habe dir jetzt schon so viel darüber erzählt«, rechtfertigt sich Margaret, »dass du dich inzwischen ganz gut damit auskennen dürftest.«

Er nickt. Hatte er denn die Wahl? Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als darauf einzugehen, sich für das zu interessieren, was sie begeistert, denn er ist sich ziemlich sicher, dass sie ihm bereits davon erzählt hat, als er noch in der Wiege lag.

»Man kommt kaum umhin, dir in dein Universum zu folgen«, sagt David lächelnd.

»Es ist nicht weniger interessant als andere.«

»Das leugne ich gar nicht.«

»Andere, die virtueller sind und dich mehr in ihren Bann ziehen …«

»Klar, da gebe ich dir Recht.«

»War es für dich denn wirklich so schwierig, dich auf diese Welt einzulassen?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

Er legt sein Handy beiseite und schaut auf.

»Aber es hat schon eine Weile gedauert.« Er überlegt kurz. »Es hat gedauert, bis ich verstanden habe, wo wir uns da eigentlich befanden, was wir da wollten, ob es ein reales Land war oder nur ein Phantasieland. Andere Eltern haben sich für ihre Kinder Geschichten ausgedacht, und du hast mir eben, als ich klein war, davon erzählt. Du sagtest damals zu mir, du hättest keine Phantasie und würdest deshalb nichts erfinden. Dann zeigtest du mit dem Finger auf die Weltkarte und los ging’s. Dann nahmst du mich mit auf diese Reise und ich folgte dir, ganz instinktiv, natürlich aus Interesse, aber nicht nur.«

Er zögert. Dann fährt er fort:

»Auch ein bisschen aus Notwendigkeit, so wie der Sohn einer schwerhörigen Mutter beginnt, die Gebärdensprache zu erlernen.« Er lächelt. »Das ist im Grunde bis heute so. Ich tue mich manchmal schwer, die Dinge richtig einzuschätzen, zu unterscheiden, was Fiktion und was Realität ist. Das liegt daran, dass, wenn wir darüber reden, ich immer eine Brücke zwischen Kindheit und Erwachsenenalter schlage, und dadurch kommt alles Mögliche wieder hoch.«

»Das Doggerland ist keine Fiktion.«

»Ich weiß, es ist ein Stück Realität, das du rekonstruierst.«

»Ich bin nicht die Einzige. So einige haben sich dieser Sache verschrieben.«

»Seit ihr daran arbeitet«, sagt David, »seit du dieses Gebiet abläufst, weißt du da eigentlich wirklich, wonach du dort suchst, ist dir das klar?«

»Nach Artgenossen. Nach Leuten wie dir und mir. Und nach dem Zeitraum, der zwischen ihnen und uns liegt, der Leerstelle, die es zu füllen gilt.«

»Sind dir deine Zeitgenossen nicht genug?«

»Scheinbar nicht …«

»Dieser Ort kann uns möglicherweise etwas mitteilen, uns etwas lehren«, fügt Margaret hinzu.

Er hat für sie genau die richtige Größe, ist weder zu groß, noch zu klein, ist zugleich begrenzt und offen. Begrenzt, weil er durch den Anstieg des Meeresspiegels vom Rest des Kontinents abgetrennt und so zur Insel geworden ist, offen, weil man so wenig über ihn weiß, dass er geradezu dazu einlädt, unterschiedliche Hypothesen über ihn anzustellen, Vermutungen, wie er ausgesehen haben könnte. Allerdings haben diese Darstellungen wenig damit gemein, wie die Bewohner des Doggerlands sich selber und ihr dann nicht mehr zugängliches Gebiet gesehen haben. Offen ist er auch insofern, als diese Menschen zwar ein ebenso hoch entwickeltes Gehirn hatten wie wir, aber einen ganz anderen Bezug zur Welt, und durch ihre Existenzweise, die sich von unserer heutigen stark unterschieden hat, besonders geschärfte Sinne. Zu gerne würde sie die Denkweise dieser Menschen durchdringen, aber dafür sind manche ihrer Kollegen besser gerüstet als sie. Also begnügt sie sich durch ihre Arbeit als Geologin damit, das Material aus dem Untergrund zu Tage zu fördern, das die Paläontologen benötigen. Nachdem sie die Umgebung rekonstruiert hat, die noch frei von jedem menschlichen Leben ist, gibt sie ihre Ergebnisse weiter und ist immer wieder aufs Neue fasziniert, welche Schlüsse sie daraus ziehen.

»Ich liefere ihnen einen bewohnbaren Ort«, sagt Margaret, »und erhalte ihn bewohnt zurück. Dieser Ort eröffnet mir die Möglichkeit zur Zusammenarbeit, bietet Raum für einen Austausch, es ist ein Geben und Nehmen.«

»Ist er für dich genauso real wie Dänemark oder die Niederlande?«

»Auf jeden Fall konkreter als viele Länder, in die ich nie einen Fuß gesetzt habe.«

»Bald fühlst du dich bei diesen Menschen wie zu Hause. Sie sind also unseresgleichen. Aber selbst wenn wir das gleiche Gehirn haben und den gleichen Planeten bewohnen, stößt du bei deiner Arbeit doch an Grenzen. Du besuchst die Erde, die sie trägt, lässt sie auf dich wirken, aber sie gibt dir nur begrenzt Auskunft, du wirst nie erfahren, in welcher Welt sie eigentlich leben.«

»Genau, ihre Kultur bildet eine Barriere. Ich werde nie über die nötigen Codes verfügen. Sie gleichen uns, ja, und sind zugleich so verschieden von uns, dass es nur natürlich ist, dass wir Mühe haben, sie zu verstehen. Wir können das auf die Zeit schieben, die uns voneinander trennt. Auch wenn achttausend Jahre gemessen an der Menschheitsgeschichte nicht gerade viel sind. Die Menschen aus dem Mesolithikum haben keine Pyramiden gebaut, sie haben keine Megalithen errichtet, aber ihre Kultur ist deshalb weder ungeschliffen noch rudimentär. Vielleicht war ihre Gesellschaft im Ganzen betrachtet sogar lebenswerter als unsere, das ist gut möglich.«

Was vom Doggerland übrig ist, die Doggerbank, ruht in fünfzehn bis dreißig Metern Wassertiefe quer über dem 54. Breitengrad. Einige betrachten sie als Fischfanggebiet, andere als eine Erhebung des Meeresbodens, die sich für die Verankerung von Offshore-Plattformen anbietet. Sie ist eine Art Furt inmitten der Nordsee, in der Dinge vorstellbar sind, die anderswo undenkbar wären, und zugleich, da stimmen alle Berichte überein bis hin zu denen von Kapitänen aus der Zeit der Segelschifffahrt, ist dieser Bereich, vor dem die Seeleute schon immer auf der Hut waren, an Sturmtagen eine der gefährlichsten Untiefen und besonders schwer zu umrunden, da sie sehr ausgedehnt ist. Sie hat die Ausmaße der Insel, die das Doggerland am Ende war, bevor auch sie endgültig von der Landkarte verschwand. Über die Art und Weise, wie sie untergegangen ist, gehen die Meinungen auseinander. Aber eins ist sicher, auf dieser Insel ließ es sich gut leben, besser als andernorts in Nordeuropa, und sie war mehrere tausend Jahre lang besiedelt.

1985 brachte ein holländischer Fischer dem Paläontologen Dick Mol das neuntausend Jahre alte Gebiss eines Menschen und damit den allerersten Beleg für die Existenz des Doggerlands. Margaret erinnert sich, wie sie, eine Gruppe von etwa zehn Studenten aus St. Andrews und Birmingham, von dieser Nachricht elektrisiert waren und einige Jahre später die Keimzelle einer multidisziplinär arbeitenden Gruppe bildeten. Auf der Höhe des Thatcherismus fanden sie dort so etwas wie frischen Wind, und diese Art von Schatzsuche zog sie auf jeden Fall mehr in ihren Bann als der Run auf das schwarze Gold. Aber paradoxerweise verdankten sie ausgerechnet der Eisernen Lady und ihrer bedingungslosen Unterstützung der Erforschung und Ausbeutung der Offshore-Kohlenwasserstoffe die Beschleunigung ihrer Forschungen, da sie so unverhofft permanent mit geophysikalischen Daten versorgt wurden, die man am Grund der Nordsee gesammelt hatte.

Das Doggerland wurde dank ihrer Bemühungen vor dem endgültigen Untergang bewahrt. Und umgekehrt. Mit Sicherheit hat das Doggerland auch sie gerettet, stellt es doch einen Schlüsselmoment in ihrem an Schlüsselmomenten nicht gerade reichen Leben dar. Das den Tiefen der See entrissene, in seiner Topografie täuschend echt rekonstruierte Doggerland, das sich auf der Weltkarte orten lässt und insofern absolut greifbar ist, das nachweislich so aussieht, wie sie es sich vorstellt, ist eben kein Werk der Fiktion, ist nicht ihrer Phantasie entsprungen, sondern, nachdem es einmal kartografiert und seine Flora und Fauna dank ihrer täglichen Erkundungstouren inventarisiert waren, ein Ort, an dem sie ihren Mitmenschen entkommen und anderen Mitmenschen begegnen kann, Menschen, die ihr ähneln und die zugleich ein bisschen anders sind, und zwar in genau dem Maße anders, das nötig ist, um ihre eigene Andersartigkeit damit zu kaschieren, um ihre Schwierigkeit, die Wahrnehmungen, Codes und Bräuche der anderen zu teilen, darauf schieben zu können. In ihrem Forschungslabor beschränkt sie sich darauf, den einen oder anderen Umweltparameter zu verändern und sich vorzustellen, wie Menschen, die dort leben, sich daran anpassen können, rein materiell betrachtet, unabhängig von Riten und vom Glauben. Eine Spezialistin für alte Kulturen wäre auch nicht anders vorgegangen, nur musste man sich, um das zu sein, in seiner Umgebung, seiner Herkunftsgesellschaft so beheimatet fühlen, dass man den Unterschied ermessen konnte. Sie hingegen fühlt sich bereits unter ihren eigenen Zeitgenossen ein wenig wie eine Ethnologin, die sich ständig auf unbekanntes Terrain begibt und bezüglich Verhaltensweisen und Sozialisationsregeln alles neu erlernen, sich alles neu aufbauen muss. Seit ihrer Geburt macht sie einen Prozess der Akkulturation durch, so zumindest ihre Einschätzung, ohne jedoch eine Herkunftskultur zu haben, auf die sie sich stützen kann. Sie sind fünf Geschwister und sie ist das einzige Mädchen, insofern schob sie ihr Anderssein zunächst auf ihr Geschlecht, das war lange Zeit die einzig naheliegende Erklärung, die sie hatte und die ihr Gefühl rechtfertigte, nicht dazuzugehören. Es war ihr Glück, dass sie als einziges Mädchen unter lauter Brüdern, das sich in seine Phantasiewelt zurückzog, um sich vor Eindringlingen von außen zu schützen, diesen Sonderstatus hatte. Er lieferte ihrer Familie eine einfache Erklärung, denn wäre sie inmitten von vier Schwestern mit den gleichen Vorlieben und Sorgen so isoliert gewesen und hätte sich derart in ihre eigene Welt geflüchtet, hätte das natürlich Fragen aufgeworfen.

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