Kitabı oku: «Ille mihi», sayfa 16
Aber plötzlich waren über Nacht allerlei Einwendungen aufgetaucht. »Der Posten in Kairo,« so hieß es, »sei doch gar zu sehr en vue, um gerade die Waldens dort verwenden zu können … die vielen fürstlichen Touristen …!«
Ein Anderer wurde nach Kairo ernannt.
Wolf dagegen sagte man, er sei für einen gleichwertigen Posten in Aussicht genommen, wo er ebenfalls selbständig sein würde. Dieser Posten war zwar viel besser als alle, die Wolf bisher bekleidet hatte, und während er seit seiner Verheiratung an lauter Orte gesandt worden war, die den Diplomaten zweiter Klasse vorbehalten zu bleiben pflegen, so näherte sich dieser Ort schon eher jenem Zauberzirkel, drin die Bevorzugten kreisen. – Aber – er lag auch wieder weit fort, in einem Lande mit ganz bekannt gefährlichem Klima, gefährlich besonders auch für Kinder!
An eigene Gesundheit hatten Wolf und Ilse nie gedacht, nachdem sich Wolf von der einstmaligen Krankheit in Zanzibar ja scheinbar völlig erholt hatte. Was man in der Hinsicht etwa zusetzte, mußte eben ins große Verlustkonto eingetragen werden – ein Opfer, mit dem man nicht kargen durfte. Aber Klein-Wölfchens Gesundheit gefährden? Sein Leben vielleicht? Das konnte doch nicht gefordert werden!
Zum erstenmal wagte Ilse zu kämpfen, tat für das Kind, was sie nie getan, bettelte bei Wolfs Vorgesetzten, suchte deren Frauen, die doch auch Mütter waren, für ihr Bübchen zu interessieren. Aber es wurde ihr geantwortet: »Es ist nichts anderes frei,« oder »man wird sie ja nicht lange dort lassen.« Und gerade Wohlmeinende, wie Geheimrat Duval, sagten: »Aber so freuen sie sich doch! Endlich kommen sie mal auf einen Posten, der hier interessiert: Die Berichte von dort werden stets seiner Majestät vorgelegt!«
»Ja,« antwortete Ilse, »wären Wolf und ich noch allein, so würden wir uns ja auch sicher freuen.« Hinter ihrem Rücken aber zuckten manche die Achseln und meinten: »Diesen Waldens kann man es nie recht machen! Eigentlich sind sie ja doch Streber – aber jetzt, wo sie mal was Gutes kriegen sollen, sind sie auch wieder nicht zufrieden.«
Die also urteilten, konnten ja nicht wissen, daß, was sie Strebertum nannten, bei Wolf der brennende Wunsch gewesen war, durch besondere Leistung den Beweis zu liefern, daß er sein neues Bürgerrecht in der deutschen Heimat auch wirklich verdiene. Bei Ilse hatte sich in diesen Wunsch der mystische Glaube gemischt, daß dadurch auch ihrer Liebe und Ehe eine Art Berechtigungsschein erworben werden würde. Sie meinte, ein Abweichen vom gesetzmäßigen, allgemein gültigen Pfade, könne nur durch Erfüllung außergewöhnlicher Aufgaben seine nachträgliche Rechtfertigung finden. Aber solch Denken und Empfinden war schwächer geworden seit Klein-Wölfchens Erscheinen – der war jetzt, in Ilses Augen, der lebende schönste Berechtigungsnachweis!
Unschlüssig wie noch nie, innerlich ganz zerrissen, stand Ilse vor der Frage: Sollte sie etwa Wolf allein auf den neuen Posten gehen lassen? Aber das vermochte sie nicht – sie kannte ihn jetzt ja so genau, wußte, daß er daran innerlich zugrunde gegangen wäre – und sie selbst hätte solche Trennung ja auch nicht ertragen. – Sollte sie das Kind vielleicht allein zurücklassen? Dies Kostbarste, das ihr wie endliche Segnung ihres Lebens erschien, dessen blaue Augen und goldene, eigenwillig aufstrebende Härchen sie sehen, dessen Händchen sie in den ihren fühlen mußte? – Das war ebenso unmöglich.
Während sie sich in solchen Zweifeln quälte, kamen Helmstedts nach Berlin. Vielleicht würde Gisi einen Ausweg finden! – Aber es war kein frohes Wiedersehen. Der Graf kränkelte, wollte Ärzte konsultieren; allerhand Kuren und Badereisen wurden ihm verordnet. »Wäre das nicht, so würde ich dir sogleich anbieten, dein Bübchen für dich zu hüten, bis ihr wiederkehrt,« sagte Gisi. – Aber es war ja so offensichtlich, daß ihrer selbst genug eigene schwere Sorgen harrten.
Bei der Freundin Worte war in Ilses Erinnerung das Bild jener alten träumenden Florentiner Villa aufgestiegen, in deren Loggia die halbverwischten Worte » Ille mihi« standen – und der Gedanke zog ihr durch den Sinn: Dort vielleicht wäre Sicherheit, dort Ruhe und Frieden zu finden. – Aber solche Umkehr durfte sie Wolf nicht zumuten – nicht jetzt, wo sein Weg sich zum erstenmal zu ebnen begann, wo schöne Ziele ihm zu winken schienen!
So reisten denn die drei zusammen, die drei, die zusammen gehörten – hin in das Land, dem, in langem Zuge, ganze Reihen von Völkern entstiegen sind, und in dessen stets neue Millionen gebärendem Brodeln, ein einzelnes gefährdetes kleines Menschenleben gar so geringfügig scheint.
*
Drückend heiß war diese Meerfahrt gewesen. Nachts konnten es die Reisenden nicht in der beklemmenden Luft ihrer Kajüten aushalten, sondern flüchteten vor der Schwüle auf das Verdeck, um etwas Kühlung zu suchen. Da sah man sie denn alle kampieren. Erst wenn an der Horizontlinie über dem bleiernen Meer das erste Tageslicht sich zeigte, stiegen sie wieder hinab in die dumpfige Tiefe des Schiffes – denn hier war die Sonne kein freundlich lichtspendendes Gestirn, sondern ein gefahrbringender Feind.
Auch Ilse trug ihr Bübchen allabendlich auf das Verdeck und bettete es da. Oftmals in der Nacht beugte sie sich über das schlafende Kind und lauschte seinen Atemzügen, und dann wiederum wandte sie sich zur anderen Seite, wo Wolf lag, ob ihm nichts fehle. Und sie fühlte, daß ein unsichtbarer Passagier mit ihnen reiste, – das war die Angst in ihrem Herzen.
Anfänglich schien es aber, als solle es ihnen in diesem neuen, seltsam fremdartigen Lande gut gehen. Wolf freute sich, zum erstenmal selbstständig zu sein und fühlte sich in seiner Arbeit wohl. Eifrig berichtete er über dies Völkergemenge, unter dessen scheinbar hoffnungsloser Ruhe ein dumpfes Grollen sich bereits zu regen begann, und dessen nur mit Widerwillen ertragenen weißen Beherrschern hier vielleicht einst eine Stunde der Not schlagen könnte, wo ihnen nicht Kraft und Muße für europäische Verwicklungen bleiben würde; die der Rüstung dieses gefährlichsten Rivalen Deutschlands innewohnende Schwäche vermochte Wolf gerade in diesem, einem Weltreiche gleichenden Kolonialbesitze zu erschauen, dessen gefährdetste Grenzstriche, die bereits in den ältesten Zeiten den Zug der Eroberer gesehen, nur spärlich besetzt und ungenügend verteidigt waren.
Ilse aber freute sich, Wolf nach langer Zeit wieder so froh zu sehen, ihm das Interesse an allem, was ihn beschäftigte, in den Augen abzulesen.
Und ganz wie der Vater, fand auch Klein-Wölfchen, daß es hier immer etwas zu schauen gab; ein riesiges Bilderbuch schien vor ihm aufgeschlagen, aber was er sonst nur gemalt gesehen, die Elefanten, Kamele und Affen, die waren ja hier alle wirklich lebendig. Und merkwürdige braune Menschen gab es, Männer mit hohem weißen Turban, Frauen, an deren Nasen silberne Ringe hingen – lauter Leute, die nur da zu sein schienen, um die vielen Wünsche kleiner weißer Menschenkinder widerspruchslos zu erfüllen. Ja, es war ein herrliches Land! Abends beim Einschlafen unter dem großen Moskitonetz dachte das Bübchen schon an all das Viele, was er am nächsten Tage tun wollte. Schade nur, daß man immer so heiß hatte, so müde war – man kam gar nicht recht dazu, all das Viele zu tun.
Klein-Wölfchen wuchs so rasch wie die Farren, die nach der tropischen Regenzeit überall aus Mauerfugen und Baumstämmen hervorsprießen, als hätten sie es eilig, weil sie ja doch in der kommenden Dürre versengen werden. – Er war sehr dünn und sehr blaß geworden; an seinen Schläfen und Lidern schimmerte unter der weißen Haut ein Netzwerk bläulichen Geäders.
Oft, wenn Ilse ihn anschaute, konnte sie kaum atmen; die Angst in ihrem Herzen war so groß geworden, daß sie nicht noch Platz darin zu haben schien. Es war, als müsse sie das Herz zersprengen.
Und dann kam der Tag, wo der Arzt sagte: »Sie müssen das Kind nach Europa zurückbringen – sofort.«
Aber ehe noch gepackt werden konnte, lag Klein-Wölfchen schon schwerkrank in dem Bettchen unter dem großen Moskitonetz. Nun war keine Zeit mehr mit ihm heimzukehren! Nein, eine andere Reise war es, die das Büblein wohl antreten würde, dorthin, wo vielleicht die eigentliche Heimat der weißen wie der braunen Menschenkinder liegt!
Gleich von Anfang an hatten es die anderen Leute alle erkannt. Nur Ilse sah es nicht – oder vielleicht wollte sie es nicht sehen. Mit Wolf zusammen wachte sie all die langen Nächte an dem kleinen Bette, und weil die Krankheit sich länger hinzog, als sie es von anderen Kindern gehört, schöpften sie beide wieder Mut. Aber es war ja nur, daß ihr Kind ein so tapferes Bübchen war! Ganz Nerv und Rasse, wollte es sich nicht unterkriegen lassen, kämpfte lange mit dem furchtbaren unsichtbaren Etwas den ungleichen Kampf. Aber unerbittlich nahte die Stunde, wo die kleinen Kräfte zu Ende gingen. Kein Ringen war jetzt mehr. Ganz still lag Ilses Bübchen. Mager zeichneten sich die Kniee und Beinchen unter dem dünnen Laken ab. Ganz spitz geworden das herrisch gebogene Näschen, und um den Mund ein müder, weher Zug. Kein Kindergesicht mehr. Eine seltsame Ähnlichkeit mit Wolf, aber so viel älter und verzehrter, daß es das Herz zerriß, in dies kleine Antlitz zu schauen.
Noch einmal hoben sich die bläulich geäderten Lider über den großen, tief eingesunkenen Augen, und Wölfchen sah seine Eltern an, die jeder eine seiner kleinen abgemagerten Hände hielten. Er sah sie mit demselben ernst aufmerkenden Ausdruck an, den er für alle besonders schwer verständlichen Erscheinungen seines kurzen Lebens gehabt, und den sie so gut an ihm kannten.
Und doch wollte es ihnen nachher scheinen, als habe etwas ganz Neues, ein schmerzliches Anstrengen in diesem letzten Blick gelegen – als habe das Bübchen ihre Züge fest in sein schwindendes Bewußtsein prägen wollen, um sie mit sich zu nehmen – weit fort – in ein unbekanntes Land!
In der Veranda hatten die braunen Männer mit weißem Turban und die Frauen, an deren Nasen silberne Ringe hingen, die ganze Nacht gekauert, lautlos erhoben sie sich nun, glitten davon wie Schatten. Draußen erbleichten die Sterne vor dem Licht kommenden Tages. Auf dem noch dämmernden Wege schritt ein Zug Kamele, mit wiegenden, wippenden Köpfen, gespenstisch vorüber – Wesen aus Klein-Wölfchens großem Bilderbuch – die würde er nun nie mehr sehen.
Wie eigentlich die nächsten Zeiten verronnen waren, konnte sich Ilse später nie genau entsinnen. – Sie begriff wohl anfänglich kaum, was geschehen war, weil sie nicht begreifen konnte, daß so etwas geschehen dürfe. Aber mit jedem dahingleitenden Tage wuchs das Bewußtsein der Leere, die das Kind zurückgelassen hatte. Kleine, gleichgültige Dinge konnten oftmals die Erinnerung am stärksten heraufbeschwören, und wie durch graue Schleier sah sie dann alles; selbst Wolf schien in solchen Augenblicken im Nebel zu versinken. Eine große Müdigkeit überkam sie bisweilen, die Sehnsucht nach jenem geheimnisvollen Nichtmehrsein, das des Landes Priester in ihren Tempeln als letzte, höchste Erlösung vom Leid des Lebenmüssens priesen.
In dieser Zeit ihres ersten Schmerzes traf plötzlich Taudien ein. Er hatte vor Monaten schon an Wolf geschrieben, daß er sie in diesem ihm noch unbekannten Lande besuchen wolle. »Da er seit dem Rückzug der deutschen Politik aus Zanzibar seine Lebenshoffnungen endgültig begraben und im schwarzen Erdteil nichts mehr zu suchen habe, wolle er resigniert sich nur noch darauf verlegen, in der Welt Umschau zu halten, was andere Nationen aus den Gebieten gemacht haben, die ihre Abenteurer und Pioniere einst, ohne viel nach Recht und Gesetz zu fragen, erobert und ihrem Lande zum Besitz aufgedrängt hatten.« – Aber Ilse war das alles ganz entfallen. Seit seiner Landung hatte Taudien bereits einen wochenlangen Ritt durch allerhand Gebirgsstaaten unternommen, von da kam er. Und wie Ilse ihn nun so wiedersah, auf dem buntscheckigen zottigen Pony, das ihm ein eingeborener Häuptling geschenkt, umgeben von einem Troß seltsam malerischer Gefolgschaft, die ihm allerhand Geräte, Zelt und Jagdbeute nachschleppte, da begrüßte sie ihn nur mit den Worten: »Ach, wenn er das hätte sehen können!«
Taudien glitt sofort in das Leben der Freunde, als sei er immer da gewesen, und seine sonst etwas rauhe Art paßte sich merkwürdig gut dem Schmerz Ilses an – für echte, große Gefühle hatte er ja immer Verständnis. Als er aber einige Tage so still beobachtend verweilt, bat er Ilse an einem Nachmittag, wo Wolf zu arbeiten hatte, mit ihm spazieren zu gehen. Und nachdem sie lange unter den alten Deodaren dahingeschritten waren, auf deren Geäst graue Affen hockten, sagte Taudien plötzlich und beinahe barsch, als habe er mühsam einen Entschluß gefaßt: »Wolf macht mir Sorge – sein Wesen erinnert mich ganz an seine Art von damals in Afrika – da war er auch innerlich so zerwühlt, daß es die Krankheit dann leicht hatte, ihn niederzuwerfen.«
Ilse schaute ihn an, erschrocken aus ihrer Leidversunkenheit erwachend. Und er fuhr fort: »Es mag grausam scheinen, daß ich Ihnen das so sage – aber – ich sehe ja, daß er solch beständiges Trauern nicht mehr lange ertragen kann – darum dürfen Sie sich Ihrem Kummer nicht so hingeben, gnädigste Frau – Sie müssen Wolf aufrecht erhalten – Sie sind ja im Grunde doch die Widerstandsfähigere.«
Das war Taudiens Kur für Ilse gewesen. Und sie half ihr über diese steile Stelle des Weges. Ja, er hatte recht! Nicht hinzusinken galt es in erlösendem Erlöschen alles Willens, sondern trotzig weiter zu schreiten auf jenem glühend heißen Felsenpfade, wo jeder gerade die Last trägt, die ihn am schwersten dünkt.
Mutig zwang Ilse ihr Denken und Sorgen ins Leben zurück, und sie gewahrte, daß Taudien recht gesehen, daß Wolf auf seine Art mehr vielleicht noch als sie gelitten hatte. Er war es jetzt, der ihrer bedurfte. Da wandte sie auf ihn all ihre gegenstandslos gewordene, wie verirrt suchende Mütterlichkeit. In seinem Antlitz erkannte sie ja auch bisweilen Klein-Wölfchens entschwundene Züge wieder – und wie sie einst in dem Kinde zuerst ihn geliebt hatte, so liebte sie nun in ihm zugleich auch die Erinnerung an das Kind.
Aber durch die Strenge, die Ilse gegen sich selbst anwenden mußte, um ihren Schmerz niederzukämpfen und wieder lächeln zu können, damit Wolf sich daran freue und erstarke – durch diese äußerste Selbstüberwindung war etwas verschlossenes, oft beinahe Hartes in ihr Wesen gekommen. Und dabei regte sich ein Unwille in ihr gegen die Menschen, die sie einst hierher gesandt und ihr auf ihr Bitten so gleichgültig geantwortet hatten: »Es wird ja nicht lange dauern!« Für Klein-Wölfchen hatte es freilich nicht lange gedauert! – Unlogisch, aber begreiflich, machte sie jene für des Kindes Tod verantwortlich, und es kam ihr nun bisweilen vor, als habe sie ihnen eine gewaltige Gegenforderung zu stellen für das, was ihr genommen. Immer mehr und mit einer Art steigender Leidenschaftlichkeit richtete sie dabei all ihr Sinnen und Trachten auf Wolf, der ihr allein geblieben – auf seine Zukunft. Was sie aber früher sehnsüchtig und mit beinahe mystisch idealem Empfinden an Erfolg und Anerkennung für ihn erfleht, das, wollte sie dünken, könne sie nun als ihr gutes Recht verlangen. Er sollte, er mußte Ruhm und Ehren erwerben – das wenigstens war ihnen beiden das Schicksal schuldig.
Und sie selbst tat alles, um dieses Ziel näher zu bringen. Sie, die übersprudelnde, leicht Begeisterte, ward klug und überlegt, suchte mit bewußter Voraussicht diejenigen zu gewinnen, die Wolf zu fördern vermochten; spornte ihn selbst an, jede Gelegenheit zu nützen, wo er sich bemerkbar machen konnte, und dabei doch jene unschädliche Farblosigkeit zu wahren, die dem Beamten in seinen Personalien jene neidenswertesten aller Epitheta einträgt: »leicht verwendbar« und »wird nirgends etwas verderben.«
Bestrebt, ihr einstmaliges, sie belastendes Sonderschicksal aus der Erinnerung anderer zu löschen, waren Wolf und Ilse äußerlich allmählich beinahe banal-korrekt geworden. »Typische Diplomaten!« sagte, wer sie jetzt zufällig kennen lernte. – Innerlich aber waren sie zerwühlt von jener Unrast, die vom gegenwärtigen Posten immer schon auf den künftigen schielt, die in jedem Erreichten nur eine Übergangsstufe erblickt und fiebernd strebt nach möglichst hohem Ziele. – Auch dies vielleicht typisch.
Ein Ziel wenigstens hatten sie dann wirklich bald erreicht. Wolf erhielt eine Gesandtschaft.
Dieser neue Posten lag an der entgegengesetzten Ecke des großen Weltenschachbrettes, auf dem die Schicksal spielenden Großen der Wilhelmstraße die ihnen unterstellten Figuren hin und her schieben – scheinbar planlos – vielleicht aber geheimnisvollen Regeln und Erwägungen folgend.
Manchmal aber, so hieß es, fuhr eine mächtigere Hand plötzlich mitten hinein ins Spiel, faßte diese oder jene Figur und rückte sie ganz unerwartet an besondere Stelle.
Daß solches tatsächlich hier und da vorgekommen war, wurde in anderen Fällen verwertet, um manche Einwendungen und Klagen unangenehm Betroffener achselzuckend mit den geflüsterten Worten abzuschneiden: »nichts zu machen, mein Bester – Entschließung von oben!«
Denn je höher einer steht, desto mehr läßt sich auf sein Konto schieben!
In Wolfs Fall aber erschien es glaubwürdig, als ihn der Personalrat mit den Worten empfing: »Ihre letzten Berichte, lieber Herr von Walden, sollen Allerhöchsten Orts so gefallen haben, daß Sie, wie ich Ihnen wohl vertraulich mitteilen darf, Ihre jetzige Ernennung als Beweis dieser maßgebenden Zufriedenheit betrachten dürfen. – Gestatten Sie auch mir, Sie zu beglückwünschen, mein lieber Herr von Walden.«
Nicht der wehmütige Duval mehr war es, der also sprach. Er, der mitleidsvollen Herzens so vielen ihre Versetzungen verkündet, war inzwischen selbst an jenen Ort »berufen« worden, für den alle Menschen, vom Anfang ihrer Lebenskarriere an, zu endgültiger Verwendung »in Aussicht genommen« sind.
An seinem Platze in dem mit Personalakten überfüllten Zimmer waltete nunmehr der Geheime Legationsrat Dr. von Norbert. – Der hatte in einer langen Dienstlaufbahn mit so viel geheimen und ganz geheimen Dingen zu tun gehabt, daß es ihm zur Gewohnheit geworden war, nur im Flüsterton zu sprechen, und alle Angelegenheiten, auch solche, die abends bereits in den Zeitungen standen, als tiefe Geheimnisse zu behandeln; besonders wachsam aber achtete er darauf, daß völligste Verschwiegenheit über Revirements bewahrt wurde, bis sie offiziell »raus« waren, wie eine lebendig gewordene Akte mit der Aufschrift »streng vertraulich«, so wirkte Herr von Norbert.
Seine erste Weisung an Wolf war: »Es wäre dem Chef erwünscht, daß Sie Ihren neuen Posten mit tunlicher Beschleunigung antreten.«
Denn das war nun einmal behördliche Eigentümlichkeit, sogar Posten, die monatelang unbesetzt und wie vergessen gelassen worden, sobald ein Inhaber ernannt war, plötzlich für so wichtig zu erklären, daß der neu Ernannte gar nicht rasch genug hinkommen konnte.
Mit der anbefohlenen Eile besorgte Ilse die für die neue Stellung erforderliche Ausrüstung, indessen Wolf trachtete, in den wenigen ihm gegönnten Tagen seine Kenntnisse über das Land, in dem er fortan wirken sollte, zu erweitern und auch zu erfahren, welche Ziele der deutschen Politik er dort eigentlich vertreten und fördern solle. »Informationen und Instruktionen holen« nennen das die Herren, die zu Aktenlektüre und kurzer Audienz bei den verschiedenen Chefs zur Wilhelmstraße wallen.
Es ward aber Wolf nicht sonderlich viel gesagt – vielleicht gab es auch niemand, dem jene Ziele völlig klar waren. »Ein Posten von wachsender Bedeutung,« »ein Posten, aus dem sich was machen läßt,« und ähnliche verheißungsvolle Worte vernahm er von den Lippen eiliger Vorgesetzter, aber was zu machen sei und worin die Bedeutung lag, wurde nicht näher erörtert. Das würde sich ja alles an Ort und Stelle ergeben.
Einer der Exzellenzen sagte ermahnend: »Auch mit der dortigen deutschen Kolonie müssen Sie und Ihre Frau Gemahlin sich zu stellen trachten – das ist nicht immer leicht und nicht jedes Diplomaten Sache – aber schon wegen all dem Getratsch der liberalen Presse über die allzu ausschließliche Verwendung von Adligen im diplomatischen Dienst muß es uns darauf ankommen, daß keinerlei Klagen über Exklusivität unserer Beamten laut werden.« – Dieser Herr wußte offenbar gar nichts von der bisherigen Laufbahn Wolfs und Ilses, die sich allerorten gerade unter ihren deutschen Landsleuten warme Freunde erworben hatten. Wolf aber war weise geworden; er zeigte nicht die schmeichelhaften Nachrufe aus seinem letzten Posten, die ihm gerade an dem Tage zugegangen waren. Er verbeugte sich nur und dankte ehrerbietig für den so kostbaren Wink, den er und seine Frau »zu beherzigen nicht verfehlen würden.«
Am ergiebigsten, wenn auch nicht gerade ermutigend, erwies sich Wolfs Besuch bei den Herren, denen die Behandlung der Rechtsbeschwerden deutscher Interessenten im Auslande obliegt. Da war man auf den Staat, in den Wolf gesandt wurde, nicht gut zu sprechen. Stets, so wurde gereizt gesagt, gab es dort etwas zu reklamieren, und in dem, durch die Mißwirtschaft wechselnder Diktatoren, ausgesogenen Lande hielt es schwer, die Forderungen deutscher Gläubiger einzutreiben. Besonders viel Weitläufigkeiten verursachte eine Bahn, an der deutsches Kapital stark beteiligt war. Unermüdliche, eindringliche Ermahnungen des Gesandten würden da oftmals von nöten sein!
Im ganzen bemerkten Wolf und Ilse bei diesem kurzen Berliner Aufenthalt einen neuen Ton in der Art, wie man ihnen begegnete, vielleicht war die Anerkennung, die Wolfs Berichte »oben« gefunden, bekannt geworden, oder es lag an dem Interesse, das ihr neuer Posten in manchen finanziellen Kreisen erregte – aber sie empfanden, daß die Aufmerksamkeit sich auf sie zu richten begann. In einigen Blättern erschienen Bilder von Wolf mit den üblichen Begleitworten, die ihn als »einen der begabtesten und zukunftsreichsten unter unseren jüngeren Diplomaten« priesen. Und auch die Verehrer, die sich Ilse nun doch mal erworben hatte, feierten Wolfs Ernennung etwas geräuschvoll als einen Triumph, und sprachen gelegentlich von ihm als »kommenden Mann«. – Dies alles erweckte in der Gesellschaft alte und neue Mißgunst, und auch dienstlich fand man, daß um diese Waldens ein bißchen viel Aufhebens gemacht werde; so folgte der Geheime Legationsrat Dr. von Norbert denn auch nur vertraulicher Weisung, als er, die Wimpern wie Geheimniswächter über die Augen senkend, mit gespitzten, schmalen Lippen den Rat flüsternd wiederholte: Der neue Gesandte möge nun doch wirklich möglichst rasch seinen Posten antreten.
Kaum zu den nötigsten Vorbereitungen hatten Wolf und Ilse Zeit gehabt, noch war es ihnen möglich gewesen, Gisi zu besuchen, die ihren sterbenden Mann in einem Badeorte pflegte. Und Taudien, der mehr und mehr zum Weltvaganten geworden war und die Freunde eigentlich gleich begleiten wollte, mußte sich darauf beschränken, ihnen seinen Besuch für etwas später in Aussicht zu stellen.
Am Tage, ehe die beiden nun abreisen mußten, begegnete ihnen zufällig in dem Restaurant, wo sie zwischen allerhand letzten Besorgungen zu Mittag essen wollten, ein Marineoffizier, Kapitänleutnant von Plenker, der auf einem der Kriegsschiffe gewesen war, die Wolfs vorletzten Posten besucht hatten, und der ihm seitdem eine freundliche Erinnerung bewahrte.
Er beglückwünschte Walden zu der Ernennung auf seinen neuen wichtigen Posten, der so große Möglichkeiten enthalte, und den er persönlich wohl bald kennen lernen würde, da er zum Kommandanten des voraussichtlich in die dortigen Gewässer beorderten Schulschiffes ernannt worden sei. Dann fuhr er fort: »Na, jetzt wo Sie hinausgehen, da könnte vielleicht auch noch mal was aus unseren Hoffnungen dort werden.«
Dann zog er seinen Stuhl an Waldens Tisch und begann leise und eifrig zu reden.
Nachdem Herr von Plenker gegangen, sahen sich Wolf und Ilse erstaunt an, und Wolf sagte: »Davon hat man mir im Amt kein Wort gesagt.«
Ilse aber, in deren Augen plötzlich wieder der einstmalige Glanz verzückter Begeisterung aufleuchtete, den sie hinter banaler Korrektheit zu verbergen gelernt, dachte mit innerem Jubel: »Aber das wäre ja herrlich! Endlich, endlich solch eine Aussicht für Wolf – und«, setzte sie hinzu, »für Deutschland!«
Der Posten, zu dessen Antritt Waldens sich auf lange Seefahrt begeben hatten, wurde inzwischen von dem Legationssekretär, Baron Dedo von Lenval, verwaltet.
Im Gegensatz zu anderen tatenlustigen und auszeichnungssüchtigen Geschäftsträgern war Baron Dedo, auf eine ihm eigene matte und müde Weise, hoch erfreut, als er erfuhr, daß sein neuer Chef demnächst eintreffen werde. Mochte der sich nun herumzanken mit den wechselnden, aber stets gleich unzuverlässigen Regierungen dieses eingebildeten und doch so kulturlosen Volkes! Mochte der auch sich auseinandersetzen mit der anspruchsvollen und nie befriedigten deutschen Kolonie! – Er selbst würde dann endlich wieder Muße finden, sich seinem eigentlichen Herzensberuf, dem Aquarellieren, zu widmen, wozu die vielen malerischen Winkel dieses gottvergessenen Tropennestes ja mancherlei Anregung boten. Jetzt wurde er ja immer wieder gestört, durch Anfragen der neugierigen Vorgesetzten in Berlin, Wünsche der unleidlichen Landsleute, oder auch durch Geschehnisse in diesem unruhigen Lande, bei denen selbst seinem beschaulichen Gemüt eine Berichterstattung nach Hause unvermeidlich erschien.
Da aber, bei der ganzen Sinnesart der Eingeborenen, eine gewisse Schaustellung zur Aufrechterhaltung des Prestige nötig war, beschloß Dedo seufzend, den für den neuen Gesandten zu veranstaltenden Empfang mit dem deutschen Wahlkonsul zu bereden. – Zu diesem Zweck zog er einen frischen bastseidenen Anzug an, da ihn der am Morgen angelegte nicht mehr ganz makellos dünkte, setzte den weichen Panamahut auf und begab sich gähnend zu Herrn Großmann. Er hätte den Konsul auch zu sich bitten können, aber er zog es in solchen Fällen stets vor, Besuche selbst zu machen, da es dann in seinem Belieben lag, sie rasch abzubrechen.
Dedo traf Herrn Großmann inmitten seines Ladens gerade damit beschäftigt, die Aufstellung der allerneuesten vom Zoll angekommenen Waren kritischen Blicks zu prüfen. Herr Großmann hatte, wie immer bei solchen Gelegenheiten, einen scharfen Zusammenstoß mit den Zollbeamten gehabt, die jede Zollabfertigung von Waren fremder Importeure als Gelegenheit ansahen, einen Raubzug zu Gunsten der gleich zerrütteten Landes- und persönlichen Finanzen zu unternehmen. Aber sein gerechter Zorn legte sich beim Anblick der vielen Dinge, die der Kommis geschickte Hände kunstvoll aufgebaut hatten, und die so recht angetan schienen, einen Pionier der Kultur mit Stolz und Zuversicht zu erfüllen. Da gab es dem heißen Klima entsprechende blaue und rosa Tüllkorsetts, Kämme aus Schildpattimitation, glitzernde Schmuckgegenstände, die auf schwarzes Glanzpapier geheftet waren; vor allem aber weiße Atlasfächer, bedruckt mit den bunten Bildnissen des deutschen Kaisers und des Landespräsidenten, und auch anderer, besser zueinander passenden Paare, wie Elsa und Lohengrin, Faust und Gretchen. Besonders anmutig und an die ferne Heimat mahnend erschienen aber Herrn Großmann die kleinen Blechschildhäuschen, die Streichhölzer bargen, und neben denen ein braver, ebenfalls blecherner Pudel stand, der mit dem Gewehr vor einem imaginären Vorgesetzten präsentierte. Um alle diese Gegenstände hatten die Kommis künstliche Blumenzweige zwanglos gruppiert, und in sinniger Nachahmung der Natur saßen zwischen diesen riesige grünwollene Laubfrösche, deren breite Rücken als Stecknadelkissen dienten. – Den Hintergrund des ganzen Aufbaues aber bildeten die deutsche und die Landesflagge, zu einer großen Rosette derart verschlungen, daß die deutsche möglichst klein erschien – denn Herr Großmann verkaufte nicht nur deutsche Produkte, sondern er trieb auch auf seine Art deutsche Politik, die, in der Absicht, es mit niemand zu verderben, sich ja mitunter in selbstauferlegter Bescheidung gefällt.
»Guten Tag, Herr Großmann,« sagte der eintretende Geschäftsträger.
»Mahlzeit, Herr von Lenval, Mahlzeit,« antwortete der Kaufmann, denn es war um die Mittagsstunde, und er hatte diese Begrüßungsformel von Norddeutschland her beibehalten. Dabei streckte er dem Geschäftsträger über den sie trennenden Ladentisch die Hand entgegen.
Baron Dedo von Lenval war bei solchem Händeschütteln über Fettpuder, Lilienmilch und Tüllkorsetts hinweg immer noch ein bißchen zu Mute wie damals, wenn er als Attaché des Auswärtigen Amtes mit altmodisch sparsamen Tanten vom Lande deutschen Sekt trinken und zweiter Güte fahren mußte. Durch ein geschicktes Emporziehen der Stirnhaut, das unendlich blasiert wirkte, ließ er das Monokel aus dem Auge sinken, um all die da ausgebreiteten Gräßlichkeiten nicht gar so deutlich zu sehen, und legte dann seine wohlgepflegte Rechte, an der eine goldene Armkette sichtbar wurde, flüchtig in die breite Faust Herrn Großmanns.
Nachdem Dedo den Zweck seines Kommens dargetan, antwortete Großmann: »Dem neuen Gesandten einen dem Ansehen des deutschen Reiches entsprechenden Empfang bereiten? Kann gemacht werden, versteht sich, soll geschehen! Die ganze Kolonie bring ich auf die Beine.« Und dann, sich plötzlich besinnend, setzte er vertraulich hinzu: »Aber nicht wahr, Herr von Lenval, Sie erwähnen dann auch gelegentlich mal dem Gesandten gegenüber meine bisherigen Verdienste ums Deutschtum hier draußen, von wegen …«
»Ja, ja,« unterbrach ihn Dedo, »von wegen des Kronenordens IV.! – Ich kenne ja diesen an Größenwahn streifenden Ehrgeiz.«
»Es ist ja nur der besonderen Umstände halber, Herr von Lenval,« plaidierte Großmann, »sehen sie – die Schwester meiner Frau hat doch den General Fernando Ramon geheiratet, und ich bin immer noch der simple Karl Großmann – da gäbe es mir doch ein gewisses Gegengewicht, wenn ich mich doch wenigstens Ritter eines Ordens nennen könnte – Sie müssen das doch begreifen.«
»Aber wenn nun Ihr Schwager, der General Ramon, wie es ja allgemein heißt, wirklich nächstens Präsident der Republik wird – was werden sie da erst als Gegengewicht fordern?« fragte Dedo mit unterdrücktem Lachen.