Kitabı oku: «Rahel», sayfa 2
Und unter der Gewalt dieses Vaters wuchs Rahel heran, deren Wesensart gerade die ausgeprägteste Selbständigkeit war!
Zu den vielen Machtsprüchen des Vaters gehörte auch der, daß in der Familie keine Geburtstage gefeiert werden durften. Rahel wußte so von dem ihren nur, daß sie am ersten Pfingsttage 1771 geboren war und daß dieser in den Mai gefallen war; ihre Biographen haben festgestellt, daß er in diesem Jahre auf den 19. Mai fiel. Sie war das erste Kind und so überaus zart und schwach, daß sie anfangs in einer Schachtel in Watte lag. Ihren Körper durch geeignete Mittel zu stärken, fiel ihren Eltern ebensowenig ein wie es damals andern Eltern in den Sinn gekommen wäre. Eine Krankheit nach der anderen griff in der Kindheit ihre empfindliche Konstitution an; und diese Empfindlichkeit dauerte das ganze Leben fort, als ein Teil ihrer Leiden, aber auch ihres Glücks. Denn die feine Organisation, die sie durch einen Windhauch erkranken und durch einen Sonnenstrahl genesen ließ, bedingte auch jene ungeheure Empfänglichkeit für alle Sinneseindrücke, durch die ihre Genüsse sich vertausendfachen. Diese Empfänglichkeit, diese »Reizsamkeit« in Lamprechts vertiefter Bedeutung des Wortes, hatte nichts von jener Rücksichtslosigkeit, jenem Mangel an Selbstbeherrschung an sich, den die modernen Menschen mit dem elastischen Begriff »Nervosität« bezeichnen und entschuldigen. Rahel hat vielleicht der Strenge im Hause ihre seltene Selbstbeherrschung zu danken, teils unmittelbar, teils, weil sie ihre Widerstandskraft hervorrief. Trotz alledem zu leben und inhaltsreich zu leben, ihre Umgebung ihre Leiden nicht merken zu lassen, darauf konzentrierte Rahel schon von den Kinderjahren an jene Willenskraft, die sie von ihrer Rasse im allgemeinen und von ihrem Vater im besonderen ererbt hatte.
Die Energie der Selbsterhaltung, die gerade die Kränklichkeit bei ihr noch steigerte, hatte sie in dem noch schwereren Kampf um die Selbständigkeit ihrer Persönlichkeit gegenüber jenem Vater sehr nötig, dessen Zornesausbrüche, unvernünftige Befehle, hohnvolle Worte und rohe Handgreiflichkeiten die ganze Familie vor ihm erzittern ließen. Nur Rahel wagte hie und da Widerstand. Ihre unbestechliche Wahrheitsliebe, ihre unbeugsame Selbständigkeit wurden vom Vater als Trotz und Eigensinn betrachtet, die er – mit demselben Genuß, mit dem der Kannibale Menschenglieder knickt – zu brechen sucht. Man schaudert bei dem Gedanken an die Mißhandlung, die das geistig wie körperlich gleich empfindliche Mädchen durchmachte, die Mißhandlung, die sie in die Worte zusammenfaßt:
»Eine gepeinigtere Jugend erlebt man nicht, kränker war man nicht, dem Wahnwitz näher nicht.«
Jedes Kind, das aus dem einen oder anderen Grande unter schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen ist, hat sein Lebenlang an den Folgen seiner ersten Lebensjahre zu tragen. So auch Rahel. In diesen Jahren litt sie so, daß sie nach ihren eigenen Worten ihre ganze Leidensfähigkeit für immer verbraucht haben sollte! Sie fühlt, daß der Mangel an Grazie – womit sie Freimütigkeit, Selbstvertrauen, Leichtigkeit meint – den sie so bitter empfindet, seinen Grund in dieser mißhandelten und unterdrückten Kindheit hat. Sie weiß, daß das Leben freundlich gegen jene Menschen ist, deren »erste Verhältnisse gesegnet sind«. Und diese nahen in der Tat dem Leben mit sonnigem Vertrauen, während die in der Kindheit Unglücklichen erstarrt und verzagt dastehen, wenn das Glück seine Hand ausstreckt, so wie es ihnen auch an Mut gebricht, sich einen Platz zu erobern und an Kraft, ihn zu behaupten, wenn sie ihn zufällig gefunden haben.
Rahels erste Jugend scheint noch dadurch erschwert worden zu sein, daß der Vater stolz auf die von ihm selbst ererbte Begabung der Tochter war, auf die Einfälle, mit denen sie schon früh in seinem ausgewählten Gesellschaftskreis Aufsehen erregte. Seine eigene glänzende Intelligenz und sein scharfer Witz machten ihn und seinen Salon gesucht; und in der Tochter wollte er eine Verstärkung seines eigenen Einflusses gewinnen. Rahel sagt selbst, daß sie bis zu ihrem vierzehnten Jahr witzig war und sich so in ihrem jüdischen Kreise mißliebig machte – eine Aeußerung, die darauf schließen läßt, daß sie auf anderer Kosten witzig gewesen ist. Mit dem Eintritt der Jugend begann vermutlich ihre bewußte Kritik der Art, wie der Vater seinen Witz gebrauchte, und damit auch der stumme oder offene Kampf nicht nur zwischen ihren Willen, sondern zwischen ihren Seelen. Er wollte die Tochter nach seinem eigenen Bilde prägen, dem Bilde eines äußerlichen glänzenden Gesellschaftsmenschen.
Aber gerade diese Umformungsversuche dürften Rahels Selbstbewußtsein geweckt haben, sowohl was die Versuchungen betrifft, denen sie widerstehen mußte, wie das Ideal dem sie nachstreben wollte. Der Abscheu, den der Vater und sein ganzes Wesen ihr einflößte, tilgte jede Möglichkeit der Eitelkeit und Oberflächlichkeit aus und wendete ihren Sinn nach innen, in der Ueberzeugung, daß sie nur auf einsamen Pfaden ihr eigenstes Ich finden und bewahren konnte.
Goethe bemerkt irgendwo, daß »Beharrlichkeit« und »Unmittelbarkeit des Zweckes« Eigenschaften sind, die man auch bei dem geringsten Juden findet. Wenn sich diese Eigenschaften mit einem reichen Persönlichkeitsstoff verbinden, dann bewirken sie jene Einheitlichkeit, Ganzheit, Geschlossenheit, die Rahel bei sich selbst – wie andere bei ihr – als das erkennt, was sie von anderen Menschen in nachdrücklichster Weise unterscheidet »Mein ganzes Leben lang habe ich mich nur für Rahel gehalten und für nichts anderes«, sagte sie, als sie einmal ihre Verwunderung über die Aufmerksamkeit ausdrückte, die man ihr während einer Krankheit erwies.
Aber sie wurde Rahel in jenem »Schmelzofen der Betrübnis«, aus dem ihre Persönlichkeit wie in Bronze gegossen und ihr Wille wie gehärteter Stahl hervorging.
Rahel nennt es eine Gottesgabe, daß sie immer weiß, was sie will, obgleich sie trotz ihrer Willensstärke »überdummt und überschrieen und überhandelt« worden ist – etwas, was doch nur von dem Peripherischen in ihrem Dasein gilt.
Ihre Willensstärke hielt sie nicht nur trotz ihrer Kränklichkeit aufrecht, sondern verzehnfachte ihre Kräfte, wenn sie für andere benötigt wurden, z. B. als Krankenpflegerin. Aber auch einen anderen im täglichen Leben bedeutungsvollen Zug hatte sie von ihrer Rasse: die Sachlichkeit, Geistesgegenwart und Organisationsgabe, die ihr Macht über die stets mit dem Chaos drohende Mannigfaltigkeit der kleinen Aufgaben des Alltagslebens gab. Dieser rasche, zweckmäßig handelnde Wirklichkeitssinn, der das Geheimnis der Erfolge der jüdischen Rasse bildet, wird durch Rahels reiches Gemüt bei ihr zu einer segensbringenden Ausstrahlung eines ewig frischen »aus lauter wahrem Sein geformten Lebens«, wie Varnhagen sich ausdrückt. Diese Eigenschaften machten sie nicht nur gut, sondern wirklich hilfreich. Diese organische Verbindung von Wirklichkeitssinn und Mystik finden wir überall wieder, wo die Mystik tief ist. Ja, ist sie nicht sozusagen der wahre Religionsstifterzug, und hat nicht auch zum Teil darum der Orient der Welt alle großen Religionen gegeben?
Die germanische Natur und Kultur, in der Rahel aufwuchs, trug ganz gewiß dazu bei, ihr Wesen zu vertiefen, ihm eine größere Mannigfaltigkeit zu geben. Aber das Unbändige ihrer Eigenart, ihr unauslöschliches Feuer, ihr blitzschneller klarer, Blick, ihre tiefe Grübelsucht, die Schärfe ihrer Analyse, die Wildheit ihrer Verzweiflung, der Jubel ihrer Dankbarkeit, all dies ist morgenländisch, so wie der Psalter und der Prediger Salomo es ist.
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Nach dem Tode des Vaters, 1789, gestaltete sich Rahels Leben leichter. Von den täglichen Qualen befreit, wurde sie wie durch eine »glückliche Revolution« auch gesünder. Ihre Freude an jugendlichen Vergnügungen erwachte; sie lernte sogar tanzen – aber hatte bald vom Tanz als Gesellschaftsvergnügen genug. In ihrer »Dachstube« im väterlichen Hause hatte sie reichlich Zeit und Ruhe für ihre innere Entwicklung, aber im Familienkreise bestand z. B. die vom Vater auf die Brüder übergegangene Autorität über die weiblichen Mitglieder der Familie noch fort, eine Autorität, die für Rahel namentlich in Geldfragen sehr drückend war, Fragen, in denen außerdem der Sparsamkeitssinn der Mutter im täglichen Leben sich noch unangenehmer fühlbar machte als der Erwerbssinn der Brüder.
Die Mutter scheint eine unbedeutende, durch die Tyrannei des Mannes gebrochene und schwermütig gewordene Frau gewesen zu sein, bei der Rahels Wesen kein Verständnis fand. Von den Geschwistern scheint die Schwester Rose in einem herzlichen Verhältnis zu Rahel zu stehen, doch ohne tiefere Seelengemeinschaft. Eine solche verband sie hingegen mit dem jüngeren Bruder Ludwig – ihrem »Herzensbruder« – der, selbst Schriftsteller, Rahels Verkehr mit der jungen Dichterwelt Berlins vermittelt. Die älteren Brüder, Moritz und Markus, gehen hingegen in der ökonomischen Interessensphäre auf; und obgleich sie sich in dieser Beziehung gegen die Schwestern gut benehmen, ist doch die innere Gemeinschaft gering.
Und Rahel scheint darauf gefaßt zu sein, im Familienkreise kein Verständnis zu finden. Was sie verlangt, ist, daß man sie in Frieden läßt. Aber wie gewöhnlich sehen Mutter und Geschwister, auch nachdem Rahel die berühmte Rahel geworden ist, in ihr nur die Tochter und Schwester, auf deren jüdischstarke Familienliebe sie stets rechnen konnten, wenn sie in Krankheit oder Mühe, Kummer oder Unruhe ihrer bedurften. In der Zwischenzeit fühlt sie sich übersehen, getadelt, überstimmt, mißverstanden. Die Verwandten ermahnen oder mißbilligen Rahel mit jener Unzartheit, die Familienglieder noch heute als das unbestreitbare Familienprivilegium betrachten. Einem Freunde gegenüber spricht Rahel sich ans: »Ich bin krank durch Gêne, durch Zwang, solange ich lebe; ich lebe wider meine Neigung ... Mein ewiges Verstellen, meine Vernünftigkeit, mein Nachgeben verzehren mich; ich halte es nicht mehr aus, und nichts und niemand kann mir helfen.«
... »Kein Schlag, kein Stich, kein Nagel und kein Stachel blieb mir erspart,« sagt sie in diesem Zusammenhang.
Es ist anzunehmen, daß Rahel wie die meisten starken Naturen solange als möglich duldete, bis sie – aus irgend einem für die übrigen unbedeutenden Anlaß – aufbraust. Sie sagt selbst: »Wenige sind explosiver als ich: zurückhalten kann ich es lange, aber früher oder später kommt es hervor.« Es ist wahrscheinlich, daß sie gegen die Ihren – wie gegen Varnhagen – heftig, ungleich und überempfindlich in Fragen sein konnte, in denen sie doch im Innersten Recht hatte. Sie besaß eben wie andere les défauts de ses qualités.
Im großen ganzen zeigt sie durch die Tat, wie tief ihr Familiengefühl ist. Sie schreibt an die Ihren: »Teil' ich Euch nicht alles mit? Ruhe ich eher, eh' Ihr Intellektuelles, Angenehmes, Geselliges, alles habt, was ich nur erreichen konnte; hab' ich je ich, nicht immer wir gesagt? Und Gott weiß, wie ewig gedacht. Ich bin kein stockiger Selbstler, sondern ein freudiger, empfindlicher Lebensverbreiter.«
Rahel hat das Bedürfnis anzubeten, zu Menschen aufzusehen.
»Ich kann nicht über ihn sprechen – denn ich kann nur gerecht sein«, äußert sie sich einmal. »Bei meiner Natur habe ich mich genug gerächt, wenn ich nicht mehr lieben kann.« Sie ist immer von Anfang an gläubig. »Es gehört zu meinen achtungswerten Dummheiten, die Leute immer ernst zu nehmen«, sagt sie. »Meine einzige Eigenschaft ist, die Dinge im Großen sehen zu können, mein einziger Reiz – und einziger Leichtsinn – mich selbst zu vergessen«, schreibt sie ein andermal. Und diese Eigenschaften konnten auch ihre Nächsten mitgenießen. Aber gerade ihre Eigenschaft der »Lebensverbreiterin« mißfiel vor allem der ängstlichen und kleinlichen Mutter, die eine kühle und dumpfe geistige Atmosphäre um sich verbreitete. Rahels Liebe zu den Ihren war, was sie selbst »Faserliebe« nennt, das Gefühl, das die Natur mit den Fibern unseres Wesens verwebt, und das auch noch dann seine Stärke bewahrt, wenn man kaum mehr einen Gedanken gemeinsam hat. Zeit, Kräfte, Geld, Vergnügen kann sie für ihre Familie opfern, wenn es nötig ist; und alle ihre wirklichen Interessen gehen ihr »durch und durch ins Herz«.
Aber der Kleinlichkeit und Engherzigkeit will sie nicht nachgeben. Der nähere wie der weitere Familienkreis ließ sich von dem Gesichtspunkt bestimmen, den Rahel haßte: »was sich schickt«. Für diese Bewertung wurde das Unbedeutende groß und das Bedeutungsvolle klein. Wenn Rahel sie selbst war – kühn, lebensvoll, überschäumend, vorurteilslos – dann hielt sich der geringste aus dem Verwandtenkreis für berechtigt, ihr Pflichtgefühl, Rücksicht, Maß, Klugheit zu predigen!
Indessen sammelte sich der Zorn in ihr an. Wenn dann der »schwer gefüllte Horizont« ihrer Seele »losgewittert«, ist es selbstverständlich, daß sie durch die leidenschaftliche Heftigkeit ihrer Meinungen erschreckte; daß man sie hochmütig oder herrschsüchtig nannte, wie eben die Menschen, die einer tiefen Ueberzeugung unfähig sind, die starken Ueberzeugungsmenschen zu nennen pflegen. Doch alle jene, die selbst eigene Ansichten hatten, fanden Rahel feinfühlig, taktvoll, nachsichtig, duldsam gegen alles außer gegen die anspruchsvolle Dummheit, Verleumdung und Lüge in jeder – mehr oder weniger bewußten, mehr oder weniger frechen – Form. Wenn Rahel sich z. B. schulmädchenhaft daran freut, »am hellen Sabbath« mit einer Opernsängerin im Wagen zu einer Generalprobe zu fahren, dann begreift man, wie sich der Druck der jüdischen Sitte mit dem des Familienlebens verband. Im ganzen blieb doch Rahels Verhältnis zu den Brüdern ein gutes; und wenn sie ausruft, daß sie sie »weder achteten noch liebten«, dürfen diese Worte nicht absolut genommen werden, sondern nur relativ, im Verhältnis zu Rahels eigener Fähigkeit der Hingebung.
Mit der Mutter hingegen wurde das Verhältnis schließlich so gespannt, daß diese verlangte, Rahel solle das ihr trotz allem liebgewordene Vaterhaus in der Jägerstraße verlassen, wo die Mutter dann in eine »düstere, ruppige, unbequeme« Einsamkeit versank, in »erbarmungswürdigen Geiz«. Aber täglich suchte die so vertriebene Rahel die Mutter auf, obgleich diese sie mit der größten Gleichgültigkeit aufnahm; bis die Mutter 1809 auf dem Totenbett lag und Rahel sie vier Monate hindurch Tag und Nacht pflegte. Die Nähe des Todes zerstreute die kleinen Mißverständnisse, die ihr das wirkliche Wesen der Tochter verborgen hatten. Die dankbare Liebe, die die Mutter Rahel endlich zeigte, sowie die Geduld, die sie im Leiden bewies, ließ Rahel sie mit einer »Leidenschaft von Schmerz« betrauern, obgleich Rahel ihr Verhältnis zu ihr ebensowenig umdichtete wie das zum Vater: ein jeder von ihnen hatte seinen Anteil an den Leiden der Kindheit und Jugend gehabt, unter denen ihr Herz gewehklagt hatte. Aber während sie dem Vater niemals verzeihen konnte, verzieh sie der Mutter, die ebenso wie sie selbst ein Opfer des Vaters gewesen war.
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Die Leiden, die die engherzige Natur der Mutter nur umdüstern konnten, entzündeten in Rahels Natur eine große Glut, die Glut des Mitgefühls und gaben ihr eine große Kraft: die der Einsamkeit. Die Innerlichkeit und Vertiefung, die die Einsamkeit – und nur sie – schenkt, hat Rahels Wesen in entscheidender Weise bestimmt. Wie sehr sie auch später Gesellschafts- und Geselligkeitsmensch wird, so lebt sie doch, bis Varnhagen kommt, in einer steten inneren Einsamkeit, geschaffen durch die Schicksale, von denen sie sagt, daß ihr ganzes Leben durch sie mörderisch beraubt oder unmenschlich zertreten wurde, oder daß sie unwürdig um das Leben selbst bestohlen worden ist. Und die Folge davon ist jener Mangel an Grazie, den sie so bitter empfindet. In einem Brief an Varnhagen, sagt Rahel: »Diese Woche habe ich empfunden, was ein Paradox ist: eine Wahrheit, die noch keinen Raum finden kann, sich darzustellen; die gewaltsam in die Welt drängt und mit einer Verrenkung hervorbricht. So bin ich leider. Hierin liegt mein Tod. Nie kann mein Gemüt in schönen Schwingungen sanft einherfließen, wozu diese Schöne in der Tiefe meines geistigen Seins wie in den tiefen Eingeweiden der Erde verzaubert liegt. Wie richtig, geliebter Freund, und wie traurig vergleichst Du mich einem Baum, den man aus der Erde gerissen hat und dann seinen Wipfel hineingegraben; zu stark hat mich die Natur angelegt.«
Und sowie man Rahels besondere Denkkraft nur aus der Einsamkeit versteht, so versteht man ihren besonderen Gefühlston nur aus dem Leiden.
Rahel gehörte in geistiger Hinsicht zu derselben Art von Menschen, die man körperlich »Bluter« nennt. Eine Schramme, die bei einem anderen leicht heilt, kann bei ihnen zu Verblutung führen, und jedes Häutchen über einer Wunde ist so dünn, daß es bei dem leichtesten Stoß reißt und einen neuen Blutstrom verursacht.
Wer dies nicht einsieht, wird Rahel nie verstehen können, wenn sie mit den stärksten Worten von längstverflossenen Leiden spricht, oder wenn sie durch etwas, das anderen unwesentlich erscheint, zu Tode betrübt wird. Denn mit dieser kleinen Wunde gehen alle anderen Wunden auf, und in dieser Klage widerhallt die Klage ihres ganzen Volkes.
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Ob nun Rahel erkennen lernte, was sie ihrer Rasse zu danken hatte oder nicht: gewiß ist, daß die Bitterkeit, mit der sie in der Jugend von ihrer Geburt spricht, mit den Jahren verschwindet. Vielleicht kam dies ganz einfach von der Entwicklung jenes amor fati, der für den Menschen das ist, was die Blüte für die Aloe: ihre große Kraftprobe vor dem Tode. »Ich beneide keinen Menschen mehr als um Dinge, die niemand hat.« Diese Worte Rahels sind für ihren Seelenzustand in ihrem letzten Lebensabschnitt bezeichnend.
Rahel war stets bereit gewesen, für ihre Herkunft einzustehen. Ja, in Paris hatte sie sogar betont, daß sie eine »Jüdin aus Berlin« sei, und sich gefreut, daß sie ihrer Vaterstadt Ehre machte. So freute sie sich auch, als sie – in den Kriegsjahren – sowohl selbst wie durch ihre Glaubensgenossen den Christen die patriotische Opferwilligkeit der Juden zeigen konnte. Daß sie bei ihrer Verheiratung zum Christentum übertrat, war weder ein Abfall vom Judentum – dem sie nie gläubig angehangen – noch ein Glaubensakt gegenüber dem Christentum, sondern nur die Schaffung eines Gleichheitszeichens zwischen ihr und dem Manne, dessen Lebensstellung sie teilen sollte.
Als der patriotische Taumel nach dem Freiheitskriege Ausbrüche des Antisemitismus hervorrief, war sie tief empört und hielt auch bei ihren christlichen Freunden ihren eigenen Abscheu vor dieser Roheit wach. Je mehr sie – von der Abhängigkeit von ihren eigenen Angehörigen befreit – das Judentum objektiv sehen lernt, desto mehr söhnt sie sich auch mit dem Schicksal aus, das sie zu einem Mitglied dieses Volkes gemacht hat. Und auf dem Totenbette – als sie schließlich ihr ganzes Leben aus dem Gesichtspunkte der Ewigkeit sieht – preist sie in ergreifenden Worten das wunderbare Schicksal, das sie, »den Flüchtling aus dem Lande Aegypten und Kanaan« so geliebt gemacht wie sie es nun von ihren Teuern war. Schön sind diese ihre letzten Worte über die tiefe Qual ihres Lebens: »Mit erhabenem Entzücken denk' ich an diesen meinen Ursprung, und diesen ganzen Zusammenhang des Geschickes, durch welches die ältesten Erinnerungen des Menschengeschlechtes mit der neuesten Lage der Dinge, die weitesten Zeit- und Raumformen verbunden sind. Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht' ich das jetzt missen.«
II. Persönlichkeit.
Wie bei jeder andern ausgeprägten Persönlichkeit lassen sich auch bei Rahel gewisse Bestandteile nachweisen, die aus Rasse und Familie resultieren; und man kann auch den Prozeß des Gusses ahnen. Aber der Verlauf, durch den aus diesen Bestandteilen und dieser Behandlung, die bei anderen ganz andere Formen ergeben hätten, gerade diese Persönlichkeit entsteht, bleibt ewig ein Rätsel. Die besonderen Züge der Persönlichkeit, ihr eigentümlicher Stil, ihr einziger Zauber läßt sich bei dem lebendigen Kunstwerk – der menschlichen Persönlichkeit – ebensowenig beschreiben oder begreifen, wie bei der Statue aus Bronze. Nicht nur das Kunstwerk ist, wie ein Denker sagt, »aus dem Schoß einer flammenden Phantasie entsprungen«: auch die Individualität entspringt einem solchen Schoße, dem der Natur selbst. Ihre Phantasie arbeitet ebenso heiß wie die des Genies, und ihr Stil läßt sich ebenso unmöglich mit den losen grauen Maschen der Worte einfangen. Mehrere von Rahels größten Zeitgenossen haben ihre Persönlichkeit zu schildern versucht. Die dies am besten vermochten, dürften auch zugleich ihrer eigenen Selbstanalyse am nächsten gekommen sein. Denn wenn man von irgend einem Menschen sagen kann, daß er sich selbst wirklich gekannt hat, so ist es Rahel. In der ganzen Frauenwelt gibt es niemand, der sich an Entdeckermut und Entdeckerlust in der eigenen Seele, an Eifer der Selbsterforschung und Ehrlichkeit der Selbstmitteilung mit Rahel vergleichen kann außer Marie Bashkirtseff. Daß Schamlosigkeit nicht mit Ehrlichkeit, Mitteilsamkeit nicht mit Selbsterkenntnis gleichbedeutend ist, das muß ich durch verschiedene moderne Frauenbeichten veranlaßt, scharf betonen.
Rahels nach ihrem Tode herausgegebenen Briefe waren für ihre Zeitgenossen ebensosehr die Offenbarung eines neuen Frauentypus wie Maria Bashkirtseffs Tagebuch für unsere Zeit. Wie verschieden die beiden Naturen auch voneinander sind, so begegnen sie sich doch darin, daß ihr Seelen- und Willensleben so eigenartig, so ausgeprägt war, daß es sich so unmittelbar und zugleich so bewußt offenbarte, daß es mit einem Schlage eine geistige Macht wurde, zu der man in ein, sei es sympathisches, sei es antipathisches Verhältnis treten mußte. Nur Gleichgültigkeit war unmöglich.
Im übrigen ist die Manier der beiden Selbstporträts so verschieden wie die Zeiten, in denen sie hervortraten. Die junge Russin malt sich »plein air«, in schonungslosem, alles verratendem Morgenlicht; Rahels Bild hebt sich von jenem clair-obscur ab, in dem man immer mehr entdeckt, je länger man hineinblickt
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Wenn ich versuchen will, meinen Eindruck von Rahels Persönlichkeit wiederzugeben, bin ich ihrer eigenen Worte eingedenk: daß wir uns selber konkav sehen, andere aber konvex: daß, wenn wir versuchen, uns in einen Menschen zu versetzen, um ihn zu beurteilen, wir immer auf uns selbst stoßen und dies eine wirkliche Objektivität unmöglich macht Denn die Aehnlichkeit, schließt Rahel, die zwischen allen Menschen besteht, »geht nur bis zu den Grenzen des Wesens«! ... Und in diesen tiefen Worten Rahels liegt eben das Geheimnis der Individualität, ihre Unbeschreiblichkeit eingeschlossen.
Wenn man seinen Eindruck einer Persönlichkeit nicht unmittelbar wieder mitteilen kann, versucht man es durch Bilder zu tun. So kann ich z. B. sagen, daß Rahel für mich dieselbe tiefviolette, beinahe schwarze Farbe hat wie Eleonora Duse; daß der Duft, der ihrem Wesen am nächsten kommt, der der gelben Tazette ist während die Musik, die sie am vollsten ausdrückt, Beethovens Apassionata ist. Aber mit diesen Bildern habe ich höchstens jenen, die von dieser Farbe, diesem Duft und dieser Musik Eindrücke mit derselben Gefühlsbetonung wie meine eigene empfangen, eine Ahnung von meiner Empfindung für Rahel gegeben. Stets ist das Bild im Verhältnis zu der großen mystischen Wirklichkeit – der einzigen Persönlichkeit – das, was in der Hieroglyphenschrift das ägyptische Lebenszeichen im Verhältnis zum lebendigen Leben ist. Es gibt nur eine einzige Art, eine persönliche Eigenart zu zeichnen: die eigenen Aussprüche und Handlungen der Persönlichkeit mit dem Eindruck zu vergleichen, den diese Persönlichkeit auf ihre Mitwelt gemacht hat. Denn die eigenen Worte betrügen häufig, die eigenen Handlungen nicht selten, die Urteile anderer am häufigsten. Aber stimmen alle drei überein, dann kann man mit Sicherheit wissen, daß in dem vorliegenden Fall wenigstens die Einheit und Geschlossenheit der Persönlichkeit unzweifelhaft gewesen ist. Und gerade diese oben erwähnte Uebereinstimmung zwischen dem Eindruck, den Rahel auf andere machte, und dem Einblick, den sie in ihr eigenes Wesen gibt, berechtigt zu dem Schlusse, daß sie das war, was sie zu sein behauptet, daß man sich aus ihren eigenen Bekenntnissen das beste Bild von ihr macht.
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Was Rahel vor allem und immer betont, ist, daß »Gott und die Natur« es gut mit ihr gemeint haben, aber daß das Schicksal und das Glück gegen sie gewesen sind; daß die Natur groß, ja übermütig war, als sie zur Welt kam; daß sie eine »Hochgeborene« hätte werden sollen und daß die sprudelnde Kraft zum Glück, die sie besaß, nur ein wenig Befreiung von unmittelbaren Leiden gebraucht hätte, um ihr Lebensfähigkeit zu zeigen. Sie weiß sich dazu geschaffen, das Leben zu genießen, es nicht nur zu durchleiden. Diese Lichtquelle in Rahels Natur, ihre gesunde, schöne Sinnlichkeit, ihr Sonnenwille, ihre »Freude an den nächsten Dingen«, ihre Freude an dem Glück aller Glücklichen macht Rahel so unmittelbar erwärmend. Und nur mit dieser Lebensenergie als Wesensgrund ist ein wirklich tiefes Leiden denkbar, einer Lebensenergie, die sich gegen die Qualen sträubt, die bald besiegt wird, bald siegt, aber niemals dem Schmerz das Recht einräumt, der Sinn des Lebens zu sein. Rahel nennt sich selbst einen »gesünderen, munteren, brünetteren Hamlet«, und ihr Jugendfreund Veit sagt, daß sie mit Philinens fröhlicher Laune Aureliens Geist und Herz verband, ihre Gutmütigkeit und ihren Hang zur Schwermut ... Alle, die Rahel tief verstanden haben, vor allem Varnhagen, heben das, was ich das clair obscur in Rahels Wesen nannte, als das Geheimnis ihres Zaubers hervor. In einem Brief von Jean Paul an Rahel, der mit den Worten beginnt: »Geflügelte – in jedem Sinn« – sagt er: Sie behandeln das Leben poetisch und das Leben daher Sie. Sie bringen die hohe Freiheit der Dichtkunst in die Gebiete der Wirklichkeit und wollen die Schönheiten dort auch als Schönheiten hier wiederfinden.« ...Dies ist ein zentrales Urteil über Rahels Wesen.
Rahel fühlte, daß dieser ihr ursprünglicher Charakter auch ihr Schicksal hätte werden müssen. Nun wurde dieses – infolge der schon erwähnten Ursachen – ein ganz anderes. Sie kann nicht nach ihrem Charakter leben, aber sie stirbt wenigstens danach, so wie es nach ihren Worten im Grunde jeder Mensch tut. Sie weiß: jeder Mensch »hat ein ganz eigenes Schicksal«, da er »ein Moment des Ganzen ist, der nur einmal existieren kann«; und wenigstens dieses ihr besonderes Unglücksschicksal verlangt sie vom Dasein, wenn es ihr ihr Glücksschicksal versagt. So schrieb sie während der Cholera in Berlin: »Ich verlange ein besonderes persönliches Schicksal. Ich kann an keiner Seuche sterben wie ein Halm unter anderen Aehren auf weitem Felde, von Sumpfluft versengt. Ich will allein an meinen Uebeln sterben; das bin ich, mein Charakter, meine Person, mein Physisches, mein Schicksal.«
Und so wie jeder sein Schicksal hat, so war Rahel überzeugt, daß jeder auch seine Eigenart besitzt. Originalität, sagt sie, ist viel häufiger als Ehrlichkeit; ja die meisten könnten originell sein, wenn sie nur wahr sein wollten! Sie kann von sich selbst – ohne daß ihr jemand widerspricht – sagen, daß sie sich einem Gott, der Wahrheit, hingegeben hat; und jedesmal, wenn sie aus dem Elend des Lebens erlöst wird, ist es durch diesen Gott geschehen. Auf keine Frage kommt sie in ihren Briefen häufiger zurück als auf die der Originalität; und wo sie diese findet, verzeiht sie fast alles. »Wer ehrlich fragt und sich selbst antwortet, ist immer mit Wirklichkeiten beschäftigt und entdeckt unaufhörlich ... Um zu denken, bedarf es vor allem der Ehrlichkeit.« ..
Was sie am allermeisten haßt, ist Pedanterie, denn ihr Ursprung ist innere Leere, und darum klammert sie sich an die Formen.
»Ein Mensch, der nicht wahr, ehrlich und unschuldsvoll ist, kann weder Dichter noch Künstler, Philosoph, Mensch, Freund, Familienmitglied, Gesellschaftsmensch, Geschäftsmensch, Regent sein ... Wahrheitsliebe fehlt uns; das ist der kranke Punkt der Menschheit, der Grund all unsrer Seelenepidemien ... Es hängt von uns selbst ab, Menschen (Originale) zu werden. Aber dazu bedarf es eines unendlichen Mutes ... Es ist ganz einerlei, wie man ist, sobald man nicht sein kann, wie man will.« »Ein Teil der Menschen hat zu wenig Verstand, die Wahrheit in sich zu finden, ein anderer nicht den Mut, sie zu gestehen, und die allermeisten weder Mut noch Verstand. Und irren und lügen und tappen oder ruhen das ganze Leben entlang bis nach der Gruft!« Ein andermal ruft sie aus: »Ich bin außer mir: so nennt man es, wenn das wahre Herz spricht!« Ehrlichkeit ist für sie die Voraussetzung bewahrter Jugendlichkeit: »Ehrlich sein im Denken: dann ist man wahr. Und nur bei Wahrheit ist Heil! Wer ohne sie ist, altert; die Runzeln allein machen nicht altern.« Ja, Rahel versichert, daß die treuherzige, reine Roheit sie erquicken kann, wenn die Lügenhaftigkeit sie zur Verzweiflung gebracht hat!
Alle diese Aeußerungen charakterisieren die Natur, die sich in folgender Antwort Varnhagen gegenüber Luft machte, als dieser scherzhaft äußerte, man müsse sie umgießen, damit sie fügsamer werde: »Dann würde ich aus der Gußform spritzen!«
An einen jungen Freund (Bokelmann) schreibt Rahel die tiefen Worte: »Was macht des Menschen Geist und Seele kälter als Stillstand ... Denken Sie immer rastlos! Das ist die einzige Pflicht, das einzige Glück ...«
Und sie fährt fort, ihn anzuflehen, nie aufzuhören, eine Sache stets aufs neue »durchzuackern«, wie oft er sie auch schon durchdacht haben mag; sich von keinen lieben und verehrten Freunden und Freundinnen – nicht einmal von sich selbst – so verführen und beherrschen zu lassen, daß er die Pflicht zu unablässiger geistiger Arbeit vergißt. Immer muß er den Mut haben, sich selbst mit Fragen und Zweifeln zu verwunden, das bequemste und schönste Gedankengebäude, das ein Lebenlang halten könnte, zu zerstören, wenn die Ehrlichkeit es verlangt; es wagen, sich selbst unablässig solche Fragen zu stellen, vor denen jedes Verhältnis zu anderen Menschen in seinen Grundfesten erzittern kann; sich niemals von einer ein für allemal aufgestellten, gutschützenden und kleidsamen Moral einhüllen lassen; niemals nach irgend einer Hinsicht in das Gewohnheitsmäßige herabsinken und so die Pforten seiner Seele verschließen; stets geistig rastlos, unruhig bleiben. Er sollte ihrer – Rahels – ewigen Beweglichkeit und Freiheit, ihrer strengen, untersuchenden Wahrheitsliebe eingedenk sein; sich von niemandem und nichts zu einem Glauben verführen oder von einem Band fesseln lassen, so daß er sein Leben als eine Pflicht durchseufzen muß; nie etwas nur deshalb seinen Tribut zollen, weil es alt und wohlbekannt ist!