Kitabı oku: «Love – Konsequent scheitern (Band 2)», sayfa 4

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„Wer weiß. Vielleicht sind die neuen Filmheldinnen der richtige Anfang, damit sich Frauen aus ihren Opferrollen herauslösen, was Männer dann auch gut fänden. Momentan sieht es danach aus, dass die Geschlechterrollen in der Filmindustrie neu gedacht werden.“ Manuel gelang es, der Diskussion eine optimistische Sicht beizufügen.

„Ups, eine neue Perspektive. Jeder Impuls für die Befreiung von Mann und Frau muss genutzt werden, um eine neue Menschheit zu konstruieren,“ brachte Mara in die Diskussion ein.

Giulia, die es sich inzwischen auf dem Fenstersitz gemütlich gemacht hatte, nickte heftig, erstaunt darüber, wie gut sich Mara die Gedanken und Ansätze von der Frauenrechtlerin Helene Stöcker gemerkt hatte. Dennoch Giulia war in diesem Moment wenig optimistisch, da es noch ziemlich ungewiss sei, wie sich die heutigen jungen Generationen zu dieser Thematik in der Praxis stellen würden.

„Generell bleibt es doch jedem Mann überlassen, was er aus der Situation macht, wenn er sich in eine unabhängige Frau verliebt“, äußerte sich Manuel dazu.

Giulia stand auf, schmiss die Kaffeemaschine an und verlautbarte: „Singles verlagern ihre Bedürfnisse auf verschiedene Menschen. In meinem Fall gibt es etliche Menschen, mit denen ich etwas unternehme, zusammensitze: Mit Mark ziehe ich um die Häuser, besuche Kunstausstellungen. Mit Laura verreise ich. Leo ist mein persönlicher Berater in Liebesfragen. Ein anderer erledigt diverse Botengänge – und so weiter.“

Die Kaffeemaschine war einsatzbereit.

„Gib mir bitte Bescheid, wenn du noch einen Posten zu vergeben hast“, entgegnete Manuel amüsiert, „und du beispielsweise jemanden für die Romantik brauchst. Bin beeindruckt von deiner Art der Aufgabenverteilung, und selbstverständlich felsenfest davon überzeugt, dass da keiner zu kurz kommt.“

„Mal diese, mal jene“, konterte Giulia. „Du scheinst sehr flexibel zu sein …“ Noch ehe sie den Satz zu Ende sprechen konnte, fingen Mara und Clarissa an, wie verrückt zu lachen.

Manuel, dem das nichts auszumachen schien, erwiderte darauf lässig, dass es doch genauso bei den Männern ablaufen würde. Im Geheimen. Worauf erneutes Gelächter ausbrach.

„Was ich damit aber sagen wollte …“, Giulia stellte eine Tasse unter die Kaffeemaschine, drückte auf den Knopf für Espresso und sog genussvoll den aufsteigenden Duft ein, „… wenn Aufgaben verteilt werden, verlangt man nicht zu viel von einem einzigen Menschen. Gleichzeitig schützt man sich doch davor, bei einer Trennung oder beim Tod eines Partners nicht gleich die gesamte persönliche Welt zu verlieren.“

Aus der Kaffeemaschine floss ein erstklassiger Espresso mit einer perfekt cremigen Schaumschicht. Manuel holte sich eine Espressotasse aus dem Schrank und nahm eine Zitrone aus der Obstschale. Während er nach dem richtigen Messer suchte, um ein Stück abzuschneiden, sagte er: „Singles sind eigentlich zu beneiden“, und fragte, wer Espresso mit Zitrone haben möchte. Alle schüttelten energisch mit dem Kopf, obschon das vielleicht gar keine so schlechte Idee war. Etwas Zitrone im Espresso soll bekanntlich den Kopf frei machen, was ausreichend Wasser aber genauso tat.

Clarissa holte sich eine große Tasse aus dem Schrank und gönnte sich einen cremigen Cappuccino, Mara einen Latte Macchiato. Innerhalb kürzester Zeit waren alle wieder topfit und blieben mitten in der Küche in einem Kreis stehen.

„Ob nun verheiratet, getrennt lebend, geschieden, verwitwet, alleinlebend – was auch immer. Das ist doch nicht das Thema“, begann Clarissa, nachdem sie den ersten Schluck Cappuccino getrunken hatte. Und betonte, dass das Problem für sie der Mythos über die romantische Liebe sei, der mit dem modernen Leben und den alltäglichen Anforderungen nicht mehr in Einklang zu bringen sei, eben weil Frauen unabhängig von ihrer Beziehungskonstellation selbstständiger werden würden. Diese Entwicklung würde auch traditionelle Ehegemeinschaften in Schwierigkeiten bringen. Früher oder später.

„In den USA haben heute bereits genauso viele Frauen wie Männer einen Job. Außerdem sind sie an Schulen und Universitäten erfolgreicher als Männer und verdienen gut. Paradox ist doch, dass es sich dabei häufig um Single-Frauen handelt. Zurück bleiben also die Männer, meist junge, schlecht ausgebildete, statuslose Männer aus prekären Verhältnissen, wodurch sich der hohe Anteil von alleinlebenden jungen Männern erklären lässt“, trug Mara zum Themenkomplex bei, die sich in ihrer Jeanshose mit den ausgestellten Beinen jugendlich burschikos präsentierte.

„Ja, so scheint es zu sein. Dabei sollte man nicht vergessen, dass Frauen bevorzugt nach oben heiraten“, ergriff Manuel das Wort und verwies darauf, dass das in erster Linie auf Männer mit einem höheren beruflichen und gesellschaftlichen Status – Männer mit Geld – zutreffen würde. „Damit hatte ich es schon oft zu tun, ähm, mit Frauen, die meinen beruflichen Status mehr liebten als mich, was mich, ehrlich gesagt, ziemlich anwiderte. Ich möchte nicht darüber nachdenken, wie arme, statuslose Männer, denen die Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern erschwert oder gar verwehrt wird, unter diesen Voraussetzungen noch an eine kluge Frau kommen sollen? Die Eroberung eines adäquaten weiblichen Partners wird beileibe nicht einfacher werden für uns Männer.“

„Setzen wir uns doch an den Kamin“, schlug Clarissa vor, köpfte eine Flasche, goss den Rotwein in einen Steinkrug und setzte sich in Bewegung. Im Wohnzimmer stellte sie den Krug auf einen kleinen Beistelltisch. Dann ließ sie sich mit einem leichten Seufzer in den bequemen Ohrensessel fallen und bat Giulia, ihr ein Glas einzugießen. „Ich muss ein paar Minuten chillen“, sagte sie und schloss die Augen.

„Kann mir im Moment nichts Schöneres vorstellen, als mit drei klugen Frauen vor einem offenen Kamin herumzuhängen“, flachste Manuel, legte einen Anzünder in die Mitte des Brennraums, schichtete kleine Holzspäne und immer dickere Scheite darüber. Mit einem langen Streichholz zündete Giulia den Anzünder an, schloss die Sichtklappe und stellte eine Wasserschüssel auf den Kamin. Sie setzte sich neben Mara aufs Sofa. Manuel stand vor dem Kamin, eine Hand in der Jeanshose, in der anderen das Glas Rotwein, das ihm Mara eingeschenkt hatte. Andächtig beobachtete er den Flug der springenden Funken, schob regelmäßig neue Holzscheite in den Kamin, bis die Flammen emporloderten.

Giulia schloss ebenfalls die Augen und hörte Maras wohlklingender Stimme zu: „Wenn nun in modernen Gesellschaften immer mehr Frauen alleine leben und nicht mehr heiraten wollen, auf der anderen Seite junge Männer immer häufiger ohne Frauen auskommen müssen, werden die Veränderungen unser aller Leben betreffen.“

Giulia öffnete ihre Augen und wandte sich Mara zu: „Probier den Wein. Der ist sehr intensiv.“ Sie stand auf, nahm den Krug und füllte Maras Glas, ehe sie sich selbst einschenken konnte. Beide gesellten sich zu Manuel und Clarissa, die inzwischen auch vor dem Kamin stand.

„Parallel dazu finden noch ganz andere gesellschaftliche Entwicklungen statt“, warf Clarissa nachdenklich in die Runde, „weil Frauen sich weltweit immer mehr verweigern, in traditionelle Rollen zu schlüpfen. Männern kommen somit nicht nur Frauen als potenzielle Ehe- und Geschlechtspartnerinnen abhanden, sondern auch Partnerinnen in der Rolle von kostenlosen Dienstleistern für Haus- und Putzarbeiten im Eigenheim oder in der Wohnung.“

„Ähm, die dann nicht einmal das Katzenfutter finden, wenn die Frau weg ist.“

Manuel zwinkerte Clarissa zu, wohl wissend, was sie damit meinte, goss Wein in ihr Glas bis es randvoll war und setzte den Krug wieder schwungvoll ab. Als alle ein volles Glas in der Hand hielten, hob Manuel seins und blickte in die Runde: „Also dann, noch einen Toast“, sagte er feierlich, worauf ihn die Frauen erwartungsvoll anschauten. „Meine Lieben. Ich möchte mich bei euch bedanken: für inspirierende Gespräche und entspannende Tage, die ich mit euch verbringen durfte. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich mit drei blitzgescheiten Frauen so wacker schlagen würde. Um ein weiteres Mal habe ich gelernt, dass ein Mann gut beraten ist, mit Frauen zu verhandeln, und dass er sich persönlich weiterentwickeln muss, um sich überhaupt mit unabhängigen Frauen auf Augenhöhe entspannt einlassen zu können. Wir Männer sollten wirklich lernen, über unsere Gefühle zu sprechen. Und was den weltweiten Frauenmangel angeht, ähm …”, Manuel nahm einen großen Schluck, „… noch muss man abwarten, ob sich das Phänomen in der westlichen Welt stark ausbreitet.“ Manuel sprühte vor Ideen und Witz und brach, nach einem kurzen Augenblick der Stille, erneut in schallendes Gelächter aus. Er zeigte sich in bester Trinklaune: „Für mich ist die Liebe eine Reise, in der man durch bestimmte Phasen miteinander geht, man sich jederzeit aber wieder trennen kann. Auf die Verliebtheitsphase folgt die Phase der Ernüchterung. In dieser können Beziehungen leicht aus dem Gleichgewicht geraten, da das Risiko, sich selbst und den anderen zu verletzen, groß ist. Schließlich kommt es in der Kampf- und Entscheidungsphase zu Machtkämpfen, infolgedessen zu Enttäuschungen und Ängsten vor Ablehnung, zu Eifersucht und Wut. Schlussmach-Profis beenden jetzt eine Beziehung, Aushalter finden sich damit ab, passen sich an oder suchen nach Aufmerksamkeit und Liebe außerhalb der bestehenden Verbindung.“

„Woher weißt du das?“, fragte Clarissa misstrauisch, stellte ihr halb volles Glas auf den Kamin und verschränkte ihre Arme.

„Habe das irgendwo gelesen. Weiß nicht mehr, wo. Die Informationen fand ich aber komprimiert genug, um sie mir zu merken.“ Mit einem verschmitzten Grinsen eröffnete Manuel den Frauen freimütig, dass er noch nie über die Kampf- und Entscheidungsphase in einer Beziehung hinausgekommen sei, auch nicht mit seiner Ex-Frau. Er sei aber gewiss kein Schlussmach-Profi, würde sich aber wie jeder Mensch, Stabilität, Verlässlichkeit und Sicherheit in einer Beziehung wünschen.

„Die Beziehungsphasen folgen nicht linear aufeinander und auch nicht zwingend hintereinander“, ergänzte Mara und räumte ein, sich damit auch schon auseinandergesetzt zu haben: „Die Phasen überlappen sich, greifen ineinander, können übersprungen werden. Man kann auch in eine schon durchlebte Phase zurückfallen und sich nach Jahren in denselben Partner verlieben.“ Sie führte aus, dass es von den beteiligten Partnern abhängen würde, wie lange die einzelnen Phasen andauern, wie sie in Krisenzeiten miteinander umgehen und ihre Konflikte lösen würden. Da keine Liebesbeziehung der anderen gleichen würde, und jede neue Liebesbeziehung wieder ganz anders laufen könne. Deshalb sei es sinnvoll, dass sich die Partner kontinuierlich hinterfragen: In welcher Phase befinden wir uns? Was wünscht sich der andere? Was wünsche ich? Wo stehe ich? Wo steht der andere? Wie gehe ich damit um, wenn mein Partner oder meine Partnerin noch nicht so weit ist, das gar nicht will? Es sei auch wichtig, sich offen, ehrlich und respektvoll zu begegnen. Dabei helfe das Wissen, dass Streit für eine Beziehung sowohl gewinnbringend als auch zerstörend sein kann. Letzteres würde zutreffen, wenn dem anderen eigene Wünsche und Bedürfnisse aufgezwungen, man der Beziehung weder Zeit noch Raum für die Entwicklung lassen und die eigene Ausgeglichenheit, das Gefühl für sich und sein eigenes Leben verlieren würde.

„Das sind hoffnungsvolle Worte, Mara. Wobei sich mir bei deinen Ausführungen die Frage nach der Praxis stellt. Klar, die Partner können sich neu begegnen. Doch Wut- und Eifersuchtsgeschichten sind sehr belastend. Therapien sind auch nicht das Gelbe vom Ei“, brachte Giulia ein, sah Manuel an und überließ ihm das Schlusswort: „Auf die Liebe. Und dass wir sie jemals begreifen mögen.“

Eifrig erhoben sie ihre Gläser und beschlossen, sich auf der Finca wiederzutreffen. Mit strahlenden Augen verkündete Mara: „Wie ihr wisst, werde ich wieder heiraten. Zur Abwechslung eine Frau. Zur Hochzeit seid ihr herzlich eingeladen.“ Mara sah zuerst Manuel an, dann Clarissa und Giulia. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, das so viel Sympathie ausstrahlte, sodass ihr alle nacheinander um den Hals fielen.

Nachdem sie sich zugeprostet hatten, entstand ein Moment der Stille. Und Giulia hätte nicht sagen können, warum sie danach wieder auf die Beziehungsphasen zu sprechen kam. Vielleicht war es die etwas wehmütige und feierliche Stimmung vor dem offenen Kaminfeuer. Vielleicht war es ihre tief sitzende Enttäuschung mit Alex.

„Alex und ich kamen nicht über die Kampf- und Entscheidungsphase hinaus. Ständig taumelten wir zwischen Verliebtheit, Kampf und Frustration hin und her – ohne Chance auf Entwicklung, auf Verlässlichkeit, auf Sicherheit. Mit seinen Wutausbrüchen, seiner Geheimnistuerei musste ich allein fertig werden.“ Giulia atmete tief und gleichmäßig, als sie das den Freunden ehrlich offenbarte.

„Mit Linda bin ich todsicher in der Verliebtheitsphase“, reflektierte Mara, „obschon viele Momente von Geborgenheit und Vertrauen zwischen uns sind.“ Sie blickte sich um und sagte, dass sie auf schwierige Phasen eingestellt sei, sie aber keine Angst davor hätte und sich vor der Verantwortung auch nicht scheuen würde.

Am Ende der Diskussion waren sich dann alle einig, dass die Liebe zwar ein Nährboden für Neurosen und seelische Verletzungen ist. Aber es tausendmal besser ist, eine neue Liebe zu wagen, anstatt fortwährend unerfüllbaren Träumen nachzuhängen.

Insgeheim spürte Giulia, dass es ihr nichts mehr ausmachte, über ihr klägliches Scheitern mit Alex zu sprechen. Sie hatte ihre innere Balance wiedergefunden und gleichzeitig den Wert des Scheiterns erkannt. Die Liebeserfahrung mit Alex lehrte sie: Scheitern kann jeden treffen, zu jeder Zeit, an jedem Tag. Und wenn es einen in irgendeiner Weise persönlich trifft, dann erfährt man nicht nur Schuld, Leid und Vergänglichkeit, sondern Klarheit und Dringlichkeit, die für eine höhere Bewusstseinsstufe benötigt werden.

Der Banker

Giulia war für eine neue Beziehung bereit, für eine unaufgeregte Beziehung. Unter diesen und ähnlichen Vorstellungen reifte Lucas zu einem ernsthaften Kandidaten heran. Ob es eine wahre, neue Liebe war, überlegte Giulia nicht. Einzig und allein zählte der Umstand, dass sie es wollte, und er nach außen hin ein normales Leben führte: Wie tausend andere pendelte er zwischen Arbeit und Wohnung hin und her, mehr als zwei Stunden täglich. Er war verheiratet, was ein befreiend offenes Geheimnis war, Vater eines pubertierenden Sohnes. Ob Lucas nun glücklich oder unglücklich war, war ihr weniger wichtig, auch wenn sie leise Vorahnungen hatte. Entscheidend war: Lucas war kein Trinker. Er ignorierte sie nicht, konnte zuhören und Fragen stellen. Er interessierte sich für ihre Erfolge, Errungenschaften – kurz: für ihr Leben. Alles in allem war Lucas erfolgreich und konnte auf eine beachtenswerte Bankkarriere zurückblicken. Das Leben schien für den gebürtigen Münchner wie am Schnürchen zu laufen. Auch wenn es ihr konventionell und langweilig erschien, war es das, wonach Giulia in der Liebe gerade suchte, was sie brauchte. Das könnte also was werden.

Giulia war aus Malle zurück. Gleich packte sie ihren Koffer aus, räumte alles an seinen Platz und ließ die Waschmaschine laufen. Sie tat eins nach dem anderen, mit Sorgfalt, um die Reise innerlich abzuschließen und anzukommen, in der heimeligen Atmosphäre der eigenen vier Wände. Dann öffnete sie das Fenster im Schlafzimmer, schlug die Bettdecke zurück und warf einen Blick in den Garten. Es war Frühsommer, der Garten zeigte seine volle Pracht: mit Dahlien, Kornblumen, Rhododendron. Grün, so weit das Auge reichte. Giulia setzte sich an den Schreibtisch. Bevor sie den Laptop hochfuhr, blätterte sie ihre Post durch. Zehn erholsame Tage lagen hinter ihr, ohne Computer und ohne dass sie auch nur eine einzige Mail auf ihrem Handy abgerufen hatte – was im Nachhinein eine gute Entscheidung war, dachte sie, während sie im privaten Postfach eine belastende Nachricht nach der anderen las:

Ach so, was ich dir noch sagen wollte, schrieb Laura, was Giulia stutzig machte. Sie fühlte sofort, dass etwas nicht stimmen konnte: Bei einer Blasenuntersuchung hat meine Hausärztin festgestellt, dass ich Zucker im Urin habe. So muss ich mich auch noch in einem Diabeteszentrum melden. Dem sehr netten Arzt habe ich meine Situation mit der Leukämie geschildert. Jetzt soll ich mir auch noch Insulin in den Bauch spritzen, kann aber normal weiteressen, weil ich während meiner Chemo keine Diät machen darf. Der Arzt machte mir Hoffnung, in ein paar Monaten wieder ohne Diabetes leben zu können. Wenigstens etwas.

Am nächsten Tag die zweite Mail. Laura ließ wissen, dass wegen des niedrigen Leukozytenwerts die Chemotherapie vorerst eingestellt wurde, da die Gefahr einer Infektion groß sei, und ihr nichts anders übrig bliebe, als zu warten. Immerhin hätte sich ihr Hämoglobingehalt verbessert, was positiv sei, weil sie keine Bluttransfusion benötigen würde. Aktuell fühle sie sich fit und könne Sport treiben. Auch hätten sich ihre Blutzuckerwerte verbessert, sie müsse aber weiter Insulin spritzen, bis die Chemo vorbei sei. Zum Diabetologen müsse sie aber vorerst nicht.

Lauras Lebensmut beeindruckte Giulia ungemein – ihre Kraft, ihr Tatendrang. Doch in dem Augenblick, als sie aufmerksam die geschätzten fünfzehn Mails gelesen hatte, wurde ihr der Ernst der Lage erst richtig bewusst. Lauras Nachrichten um ihre miserablen Blutwerte und Nebenerkrankungen nahmen kein Ende, weshalb Giulia nicht länger so tun konnte, als sei das nur eine leichte Grippe, von der sich ihre langjährige Freundin rasch erholen würde. Eine lebensbedrohliche Krankheit ist schwer zu begreifen, und noch schwerer, wenn Familienangehörige davon betroffen sind. Laura gehörte ganz selbstverständlich dazu – zu ihrer Familie. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Es war der Kreislauf von Geben und Nehmen, von wechselseitiger Unterstützung und Zuneigung, die diese Freundschaft einzigartig und zu einem Quell der puren Freude machte. Nie wurde es den beiden miteinander langweilig. Nie hatte Giulia das Gefühl, dass die gemeinsame Zeit bedeutungslos war. Und nie kam ein Vorwurf, weil sie sich nicht meldete, unterwegs war, was das Klima in jeder Beziehung knifflig machen konnte. Freundschaft ist eine langfristige Angelegenheit, bestenfalls hält sie ein ganzes Leben, wenn man ehrlich für einen anderen Menschen da sein will. Giulia las ihre Mails mindestens ein halbes Dutzend Mal. Es war einfach fürchterlich und es fühlte sich schrecklich an, was sie binnen kürzester Zeit aufnahm und verdauen musste. Sie wollte etwas tun – aus vollem Herzen tun, nicht eine kalte Mail schreiben, die schnell gelöscht wird und in Vergessenheit gerät. Giulia zog die unterste Schreibtischschublade auf und holte das Briefpapier heraus, das sie erst kürzlich gekauft hatte, nahm ihren Lieblingskugelschreiber aus dem Lederetui und setzte sich an ihren Wohnzimmertisch vor die Kerze, die sie, einem inneren Impuls folgend, anzündete.

Liebe Freundin und Weggefährtin, der Brief fällt mir schwer. Nicht weil ich nicht weiß, was ich schreiben soll, sondern weil ich die trüben Gedanken nicht wahrhaben will, die jetzt in meinem Kopf herumschwirren. Und weil ich an unsere gemeinsamen Momente denke, an Reisen, Spaziergänge, Gespräche von Herz zu Herz – an die Laura, mit der ich spannende und bewegende Erinnerungen teile: im verführerisch roten Badeanzug am Strand, hinter mir herkeuchend während einer Bergtour in Tirol oder lauthals schimpfend, wenn dir die Straßenbahn vor der Nase davonfährt. Erinnerungen, die nur uns gehören. Zwar weiß ich nicht, wohin uns diese Reise führt. Aber, ich weiß, dass ich mich davor fürchte.

Unter Tränen schrieb sie den Brief, bis ihr kein einziges Wort mehr einfiel. Dabei schienen die Sätze nicht genug zu sein für das, was sie auszudrücken versuchte. Ihre Hände zitterten, als sie den letzten Satz schrieb und ihr bewusst wurde, dass etwas vorbei war. Dass sie, ohne es wahrzunehmen, darin mit jeder Zeile und jedem Wort Abschied von ihrer Freundin nahm. Beziehungen verlaufen in Wellen, ob fern oder nah. Sie kommen und gehen. Manchmal sind sie enger, manchmal offener. Manchmal liegt das Ferne in der Nähe, manchmal die Nähe in der Ferne. Wie das Leben, so sind sie Entwicklungen und Veränderungen ausgesetzt, brechen ab, verblassen, finden sich neu, ziehen fort, verschwinden auf ewig – getrennt durch den Tod. Bei den aufkommenden Gedanken an Tod, Seele, Weiterleben – an die eigene Sterblichkeit, war es Kant, der Giulia einfiel. Der Philosoph hielt es für unmöglich, auf theoretischer Ebene die Existenz einer unsterblichen Seele nachzuweisen. Wann das Leben endet und der Tod beginnt, ist reine Definitionssache, meinte David, der nach seinem Nahtoderlebnis den Tod nicht mehr fürchtete. Der klinische Tod treffe ein, wenn es zu einem Atem- oder Herz-Kreislaufstillstand kommt und unsichere Todeszeichen, wie Bewusstlosigkeit oder fehlende Atmung, festzustellen seien. Der Hirntod sei nach Meinung der Mediziner endgültig. Die Kernfrage für David lautete: Besteht der Mensch nur aus Materie, sind demnach Emotionen, Bewusstsein und Geist eine Funktion physikalischer und chemischer Prozesse? Oder existiert im Menschen etwas Immaterielles – eine Seele?

Während Giulia noch darüber nachdachte, kam eine Mail von Clarissa herein:

Kaum, dass ich aus Malle zurück bin, träume ich von Südafrika. Wollte eigentlich schon immer dorthin reisen. Alles steht und fällt mit dem Job und wann ich mich aus diesem Stress zurückziehen kann. Meine Tochter möchte, dass ich nach Berlin ziehe. Von früh bis spät bin ich ausgelastet, da bleibt kaum Zeit für Privates. Der Alltag mit meinem Mitbewohner ist unverändert und keine Silbe wert.

Lucas meldete sich, wie üblich, mit einer Textnachricht. Nach dem Urlaub sei der hundsgewöhnliche Alltag über ihn hereingebrochen. Giulia unterstellte ihm zwar keine direkten Absichten, die auf eine intime Beziehung zwischen ihnen abzielten, doch sein Jagdfieber war definitiv ausgebrochen. In dem kurzen Chat erfuhr sie, dass er zum zweiten Mal verheiratet war. Woran die erste Ehe gescheitert war, erzählte er nicht, und sie fragte nicht danach. Offen gesagt, war es ihr ziemlich egal. Sie wusste, dass die Zuneigung zu einem anderen Menschen viele Facetten hat. Und dass es Dinge in der eigenen Persönlichkeit gibt, die man weder kennt noch bereden würde, auch nicht in der liebevollsten Partnerschaft.

Obwohl Lucas viel um die Ohren hatte, nahm er sich Zeit, Fragen zu stellen. Er wollte wissen, wie ihr Tag war, was gut lief, was nicht, ob sie etwas auf dem Herzen hatte. Lucas war einfach interessiert daran, was sie tat, wie sie es tat. Es war eine Form der Kommunikation zwischen Mann und Frau, an die sie nicht mehr gewöhnt war. Zweifellos übte dies eine starke Anziehungskraft auf sie aus. Und es war ein angenehm entspannter Zustand, in den sie kam, wenn sie miteinander chatteten, kein Flow-Zustand wie beim Schreiben, der sie jegliches Zeitgefühl verlieren und glückvolle Schaffensmomente erleben ließ. Nein, so war es nicht. Aber schön. Giulia haderte mit sich, weil Lucas verheiratet war. Doch sie setzte auf die alten Zeiten, auf die Vertrautheit und Offenheit zwischen ihnen. Auf dieser Basis glaubte sie, die komplizierte Gefühlslage einer Dreierkonstellation im Griff zu haben. Zum anderen war sie sicher, dass sie sich nicht blind verstricken würde. Was sie bei dieser groben Lagebeurteilung zum wiederholten Mal unterschätzte, waren Gefühle, die sich klammheimlich aufbauten und eigene Wege gingen. Freilich wäre es übertrieben zu behaupten, bloße Gedanken an Lucas würden sie emotional aufwühlen. Und doch wirkten ihre Vorstellungen über diesen Mann majestätisch und zärtlich auf ihre Gefühlswelt ein, sodass die Nähe, die sie verspürte, sich warm und sanft anfühlte, sobald Nachrichten von ihm auf ihrem Handy eintrafen. Eines Abends, sie ließ sich gerade ein Bad einlaufen, wollte Lucas den Chat in der Badewanne fortzuführen. Froh darüber, eigennützigen männlichen Wünschen gewachsen zu sein, verneinte sie entschlossen. Ja, sie konnte Nein sagen, sich von stereotypen Zuschreibungen befreien, davon: Mädchen und Frauen müssen alles hinnehmen und das tun, was sich Männer wünschen. Sie wollte sich Zeit nehmen, sich nicht hineinstürzen, überlegte sie, während sie sich auszog und den Badeschaum wegpustete, der die Wanne zentimeterhoch bedeckte. Danach rutschte sie vorsichtig vom Ende der Badewanne in das nasse Vergnügen hinein und machte es sich bequem. Sie spann die vorherigen Gedanken weiter, froh darüber, die Sehnsucht nach einer Liebebeziehung zügeln zu können. Auch wollte sich Giulia nur noch auf Sex einlassen, nachdem eine Beziehung etabliert war, wozu Sexologen raten, weil Sex erst dann zu einem achtungsvollen Ereignis wird und eine Sexualität hervorbringt, die Partner selbst in schwierigen Zeiten miteinander vereinen kann. Mitnichten war damit eine Enthaltsamkeit gemeint, wie sie Priestern und Ordensschwestern abverlangt wird, vielmehr ein geduldiges Erwarten. Sodass Sexualität nicht nur eine isolierte körperliche Aktivität vom Rest einer Liebesbeziehung ist, sondern eine gute Basis für eine geistig-seelische Verbindung bildet. Giulias Geist und Körper entspannten sich. Und langsam fielen unliebsame Gedanken von ihr ab. Lucas akzeptierte ihr Nein, ohne Wenn und Aber. Für den Moment.

Am frühen Morgen erhielt Giulia seine übliche Guten-Morgen-WhatsApp. Er wollte wissen, wie das Wetter war. Sie saß beim Frühstück und browste verschlafen durch den Nachrichten-Ticker.

Sonnig.

Wie schön. Und, ähm, hast du Appetit auf …?

Auf was?

Lucas nervte. Ungehalten tippte sie auf ihr Smartphone ein, dass sie den Kopf mit anderen Dingen voll hätte, mit Reisevorbereitungen und diversen Vorbereitungen von Geschäftsterminen. Beim besten Willen hätte sie weder Zeit noch Lust, sich mit seinen Bedürfnissen zu beschäftigen. Dagegen war sie mächtig an einer Nachrichtenmeldung über die Zufriedenheit von Verheirateten interessiert, die sie auf ihrem Tablet entdeckte, anklickte und gleich las. Es ging um die sexuelle Lust in der ehelichen Beziehung und dass diese nach ein paar Ehejahren automatisch sinken würde. Am stärksten bei Frauen, die, wie man weiß, die meisten Scheidungsanträge stellen. Mit der Zeit sollen Eheleute und Paare sogar Selbstbewusstsein und Willenskraft verlieren, wenn sie sich keinen neuen Herausforderungen stellen würden. „Oh là là. Was für ein starkes Argument fürs Fremdgehen“, schmunzelte Giulia in sich hinein, ging zum Schreibtisch, packte ihren Laptop samt Bürounterlagen in einen handlichen Aktenkoffer, eilte zum Schrank und holte den Gepäckkoffer heraus. In ihrem Nomadenleben hatte sie gelernt, Koffer sparsam und platzsparend zu packen. Als sie drauf und dran war, die Wohnung zu verlassen, klingelte das Telefon.

„Deine Worte tun gut“, hustete Laura ins Telefon. Sie war in keiner guten Verfassung. Zuerst bedankte sie sich für den Brief, der sie noch zu Hause erreicht hätte. Und berichtete, dass sie gestern im Notfallwagen in die Klinik gebracht worden sei und jetzt vor einer größeren Darmoperation stehen würde. Außerdem sei sie vor ein paar Tagen auf dem Weg zur Hausärztin gestürzt und hätte sich den rechten Arm gebrochen. Mit einem eingegipsten Arm liege sie nun im Krankenbett. Sie fühle sich wie ein Vogel mit gebrochenem Flügel. Und weil sie zu schwach sei, könne sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Der Schreck ging Giulia durch Mark und Bein. Zutiefst darüber betroffen, wie schnell es sich ändern konnte: das Leben. Noch vor zwei Tagen feierte Laura ihren 57sten Geburtstag, schmiedete Pläne und beteuerte, dass sie bald wieder fit sein und im See schwimmen werde, was mit einem künstlichen Darmausgang möglich sei.

„Giulia, wann kommst du nach Bremen?“, fragte sie Laura zum Schluss. Ihre Stimme klang ängstlich, keinesfalls resigniert, als sie ihr mitteilte, dass sie den Wohnungsschlüssel bei den Nachbarn hinterlegt und frische Bettwäsche im Gästezimmer für sie bereitgelegt hätte, damit sie jederzeit anreisen könne. Als sie sich dafür entschuldigte, dass der Kühlschrank leer sei, weil ihr keine Zeit zum Einkaufen blieb, konnte Giulia ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie seufzte und weinte ins Telefon und fragte sich, was ihr Versprechen jetzt noch wert sei. Das Versprechen, sie eiligst zu besuchen, völlig ahnungslos, dass sich die Antwort darauf bald finden würde.

Die anstehende Geschäftsreise war komplett durchgeplant: Hotels gebucht, Kundentermine vereinbart, Präsentationen organisiert. Auf keinen Fall konnte Giulia diese mir nichts dir nichts absagen. Davon abgesehen war sie fest davon überzeugt, dass Laura die Operation gut überstehen würde. Ihre Freundin war eine Kämpfernatur und hatte auf ihrem Lebensweg schon viele Hindernisse überwunden. Während Giulia mit dem Telefonhörer in der Hand nur so dasaß, summte ihr Handy, einmal, zweimal, dreimal. Es kündigte Textnachrichten an. Von Lucas, das konnte sie auf einen Blick sehen. Giulia antwortete nicht, zumal Chatverläufe mit Lucas unergiebig und leer sein konnten, wie der gestrige, den sie noch nicht gelöscht hatte:

(Lach!)

Hey!

Schön, dass du da bist.

Kein Problem, worum geht’s?

Hm. Du weißt.

Eine tropische Schwüle lag über Graz, als sie am frühen Abend in dem eleganten Altstadthotel ankam. Auch wenn sie der stets gut gelaunte Hotelmanager herzlich empfing und sie in einen heiteren Smalltalk verwickelte, fühlte sie sich niedergeschlagen. Während der ganzen Autofahrt musste sie an Laura und ihren Gesundheitszustand denken. Sodass sie ein sonderbares Verlangen überfiel – eine Melange aus Einsamkeit und Sehnsucht nach intimer Nähe. Da Lucas in ihrer Vorstellung zu einem starken, durchsetzungsfähigen Mann herangereift war, der einfühlsam auf sie eingehen konnte, brauchte es wahrlich nicht viel Fantasie, um sich ihn als einen Helden vorzustellen, der allerlei Aufgaben bewältigen konnte. So ließ sie sich treiben in dieser schwülen Nacht und genoss das Gefühl, mit ihm zu verschmelzen. Störende Gedanken wurden ausgeblendet. Obschon sie die Risiken kannte und wusste, dass man es in einer Verliebtheit mit schizophrenen Denkweisen und Halluzinationen zu tun bekam. Und tatsächlich nahm sie an, Lucas würde halluzinieren, als sie am nächsten Morgen seine Nachricht las: Vor sehr langer Zeit lebte ein junger und bildschöner Prinz in einem fernen Königreich. Eines Tages erschien ihm eine Fee, als der Prinz wieder einen Menschen beleidigt hatte. Die Fee berührte ihn mit dem Zauberstab und verwandelte den Prinzen in einen hässlichen Frosch. Daraufhin setzte sie den Frosch im Wald an einem Teich aus und überließ ihn seinem Schicksal. Und so weiter. Die Moral von der Geschichte: Es gibt keine dummen Frauen. Entweder ist er jetzt völlig übergeschnappt oder es tut sich gerade nichts an der Börse, interpretierte Giulia und biss herzhaft in die köstliche Kaisersemmel am Frühstückstisch im Hotel. Da ihr diese Zeilen fortan im Kopf herumgingen, sie auf keinen Fall voreilig darauf antworten wollte, ließ sie wenigstens den halben Tag verstreichen. Am späten Nachmittag tippte sie auf ihrem Handy ein: dass sie aus lauter Frust über sein einfältiges Gehabe den Frosch getötet hätte, noch bevor er sich in den Prinzen zurückverwandeln konnte. Die Froschschenkel würde sie sich schmecken lassen, ausnahmsweise darüber hinwegsehen, dass sie seit acht Jahren keinen Bissen Fleisch vertilgt hätte.

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