Kitabı oku: «Fußball-Taktik», sayfa 4
Das Risiko des kompakten Stehens
Eng beieinander zu stehen und die Abstände zwischen den Spielern nicht zu groß werden zu lassen, das ist der Kerngedanke des kompakten Auftretens einer Mannschaft. Viel wurde darüber berichtet, wie beeindruckend kompakt Deutschland bei der WM in Brasilien agierte und damit defensiv wie offensiv ein Vorreiter war. Die DFB-Elf hatte in Ballnähe immer sehr viele Spieler, auch in der Offensive. Nur so konnte sie ihren Ballbesitzfußball ausüben, weil dafür immer ausreichend Spieler als Anspielstationen verfügbar sein müssen. Viele andere WM-Mannschaften hatten bis zu acht Mann hinter dem Ball, doch zwei blieben oft vorne. Bei Argentinien waren es Gonzalo Higuaín und Lionel Messi, bei den Niederlanden Arjen Robben und Robin van Persie. Ob das ein Grund war, warum diese Mannschaften die WM nicht gewannen, sei dahingestellt. Doch es zeigt, wie geschlossen die Deutschen auftraten, da bei ihnen jede Offensivkraft auch in Defensivarbeit eingebunden war.
Abb. 8: Anfälligkeit für Konter: Kompaktheit nach vorne bietet Räume dahinter.
Angesichts dieser Lobhudelei verwundert es zunächst, wie viele Chancen die deutsche Abwehr in der Vorrunde gegen Ghana (2:2) oder im Achtelfinale gegen Algerien (2:1 nach Verlängerung) zuließ. Gerade die Partie gegen Algerien ist noch präsent, bot sie doch das spektakulärste Torhüterspiel des Turniers: Manuel Neuer interpretierte seine Position völlig neu und wurde zum Libero, zum elften Feldspieler, der seinen Strafraum immer wieder im Vollsprint verließ, um einen algerischen Pass abzufangen und vor dem heranstürmenden Angreifer zu retten.
Dass Neuer so oft eingreifen musste, hatte auch etwas mit dem kompakten Stehen seiner Teamkollegen zu tun. Das ist kein Widerspruch. Denn wenn die Deutschen in der Offensive kompakt nachrückten, hieß das auch, dass hinter der Viererkette viel Platz entstand. So war Neuer gezwungen, mitzuspielen – eine Anforderung, die ihm angesichts seiner fußballerischen Fähigkeiten nicht zu viel abverlangte. »Die Algerier haben sich hinten reingestellt und auf Konter gesetzt. Um solche Gegenangriffe zu vermeiden, muss gut zugeordnet werden, aber dennoch ist der Raum vorhanden. Das müssen Sie in Kauf nehmen, anders geht es nicht, wenn Sie Ihr Team kompakt nach vorne rücken lassen wollen, um dort mehr Anspielstationen zu haben und den Gegner unter Druck zu setzen«, klärt uns Wormuth auf.
Der Spielverlauf dieser Partie war also kein Zufall. Die Art, wie Neuer die Szenen auflöste, war für die Zuschauer berauschend. Mit einem weniger großzügigen Schiedsrichter allerdings hätte der Keeper in einer brenzligen Situation auch die Rote Karte bekommen können und der schöne Plan wäre hinfällig gewesen – so wie beinahe auch im WM-Endspiel gegen Argentiniens Higuaín, als Neuer allzu rustikal in den Zweikampf ging. Diese Art der Spielinterpretation ist daher riskant angelegt.
In der Diskussion um die Vielzahl der Chancen, die Deutschland in diesem Spiel zuließ, rät Wormuth ohnehin zu einer anderen Sichtweise, nämlich zu einer größeren Wertschätzung für die Qualität Algeriens: »Sie haben ihre Konter mit One-Touch-Fußball glänzend herausgespielt, das darf man nicht vergessen. Das ging ruckzuck, dann waren sie schon heraus aus ihrer eigenen Hälfte. Da können Sie auch als beste Mannschaft der Welt nichts machen, sondern nur feststellen: ›Wir bekommen keinen Zugriff, also fallen lassen, defensiv sicher stehen.‹ Andererseits haben wir ja ganz bewusst kompakt gespielt und haben schon in ihrer Hälfte attackiert, um Druck auszuüben. Und dann mussten wir plötzlich feststellen, dass die Algerier einen richtig feinen, guten Fußball spielen. Sie sind alle hervorragend ausgebildet. Schauen Sie sich an, bei welch guten Klubs sie spielen. Heutzutage darf man keinen Gegner mehr unterschätzen. Algerien, Tunesien, Marokko, die können alle sehr gut kicken.«
Druck für Jugendtrainer führt zu Mangel an Außenverteidigern
Bis zum Sommer 2014 hieß es, »den Philipp Lahm müsste man klonen«, wenn es um die Besetzung der zweiten Außenverteidigerposition im Nationalteam. Nach dem WM-Triumph folgte die Ernüchterung: Nun stand auch das Original nicht mehr zur Verfügung, da der Kapitän nach dem Turnier aus der Nationalmannschaft zurückgetreten war. Guter Rat war gefragt. Viele Namen wurden gehandelt, doch Bundestrainer Löw tut sich noch immer schwer bei der Suche nach einem adäquaten Nachfolger. Woher auch nehmen? Selbst während der WM in Brasilien vertraute Löw mit Jérôme Boateng (rechts) und Benedikt Höwedes (links) zunächst auf gelernte Innenverteidiger auf den Außenpositionen, da Lahm im zentral-defensiven Mittelfeld noch dringender benötigt wurde, Löw zudem auf Kopfballstärke im Abwehrverbund setzte. Auch der vielversprechendste Nachfolge-Kandidat Joshua Kimmich wurde aufgrund seiner strategischen Fähigkeiten mit der Zeit ins Mittelfeld versetzt. Doch woher kommt der Mangel an qualifiziertem Außenverteidiger-Nachwuchs, warum rücken so wenige potenzielle Lahm-Nachfolger nach?
Wormuth legt die Stirn in Falten, ein sensibles Thema. Er hat aber einen sehr interessanten Erklärungsansatz, der in der öffentlichen Diskussion bisher kaum Berücksichtigung fand: »Es ist schon bemerkenswert, wenn ein Rechtsfuß in der Nationalmannschaft links spielen muss. Wie Benedikt Höwedes oder Erik Durm. Dann kann etwas nicht stimmen. Natürlich machen wir uns in der Ausbildung Gedanken darüber und reden mit den Trainern. Wir glauben, dass ein Grund darin zu finden ist, dass die Vereine ihre Trainer durch unsere leistungsorientierte Struktur schon im U15-Bereich zu stark unter Erfolgsdruck setzen – durch die C-Jugend-Regionalliga, die fast schon eine Junioren-Bundesliga ist. Denn was passiert? Die Trainer stellen ihre besten Spieler in die Mitte, weil sich dort das Spiel entscheidet. Da geht es dann nicht mehr um den ursprünglichen Gedanken der Ausbildung, sondern rein ums Gewinnen.
Wenn schon in der B-Jugend U17-Trainer beurlaubt werden, da sie nach zehn Spieltagen nicht ausreichend Siege eingefahren haben, dann werden diese Trainer natürlich erfolgsorientiert aufstellen. Und nicht so verfahren, wie es Robin Dutt mal beschrieben hat: ›Wenn wir einen Linksfuß haben, der nicht überragend kickt, aber ein potenzieller Kandidat für die deutschen Auswahlteams ist, dann muss der linker Verteidiger spielen.‹ Dann entgegnet der U15-Trainer: ›Hört sich ja prima an. Aber dann verliere ich über diese Seite und bin anschließend meinen Posten los.‹ Plakativ gesagt: Der Jugendtrainer stellt nicht mehr aus Ausbildungs- oder Nationalmannschaftssicht auf, sondern für sich selbst. Das ist ein Grund für den Mangel an sehr guten Außenverteidigern.«
Vor der Strukturreform war der Druck geringer, denn die einstigen Spielklassen waren regionaler geprägt, die Gegner schwächer. Da gewann man mal mit 8:2 und mal mit 10:0. Das ist inzwischen Vergangenheit und soll auch nicht mehr so sein, denn Partien mit Klassenunterschied zwischen den Teams sind nicht leistungsfördernd.
Die Bestandsanalyse klingt überzeugend, doch wie kann die Lösung aussehen? Zum einen, die Erwartungshaltung zu reduzieren. Klingt simpel, doch eine neue Denkweise in den Köpfen zu verankern, nimmt reichlich Zeit in Anspruch. Variante zwei klingt da schon vielversprechender: »Je mehr gute Spieler wir finden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die auch außen eingesetzt werden«, sagt Wormuth. Dass das Thema »Außenverteidiger« kein ganz einfaches ist, weiß er aus eigener familiärer Erfahrung: »Mein Sohn spielt derzeit bei den D1-Junioren linker Verteidiger in der Viererkette und ist sauer, weil er nicht im Mittelfeld spielen darf, da er sich dort wohler fühlt. Klar, da ist er mehr am Ball. Wenn er im Mittelfeld spielt, mit mehr Ballbesitz als auf den Außen, dann entwickelt er sich auch besser, logisch.«
Bis eben lief das Gespräch so gut, in so angenehmer Atmosphäre. Bis, ja bis wir zwei falsche Themen ansprachen, und die auch noch kurz hintereinander. Das erste: »Herr Wormuth, das mit der falschen Neun, ist das …« Weiter kamen wir nicht.
Der Ärger über die »falsche Neun«
»Ach, immer dieser Unfug mit der falschen Neun. Sie war nur eine kurze Phase, die sich mit der WM in Brasilien praktisch schon wieder erledigt hat. Im Übrigen war die Phase auch nie richtig da. Spaniens Nationaltrainer Vicente del Bosque hatte während der EM 2012 davon gesprochen und schon da habe ich gefragt, was genau das eigentlich heißt, falsche Neun? Dann habe ich in diversen Gazetten versucht, die sogenannte »falsche Neun« von der »variablen Neun« zu unterscheiden. Nándor Hidegkuti, legendärer Spieler aus Ungarns WM-Finalmannschaft 1954, oder Johan Cruyff waren vielleicht beide falsche Neuner, selbst der als klassischer Mittelstürmer wahrgenommene Klaus Fischer gehörte dazu, weil er sich immer wieder ins Mittelfeld zurückzog und dann wieder in den Sturm vorrückte. Inzwischen ist es aber so, dass die Neunerposition von unterschiedlichen Spielern besetzt wurde. Es spielten ein Thomas Müller, ein Mario Götze, ein Mario Gomez oder ein Marco Reus im Angriff der Nationalmannschaft, alle völlig unterschiedliche Spielertypen. Und durch diese variable Besetzung der Neun handelt es sich nicht um eine falsche Neun, sondern um eine variable Neun. Freiburgs Trainer Christian Streich sagt dazu ›schwimmende Neun‹.«
Was Wormuth moniert, ist die missverständliche Deutung des Begriffs, die alleinige Vorstellung von einem Spielertypen á la Mario Götze, der klein, quirlig, technisch sehr stark und viel in Bewegung ist. Mario Gomez als hochgewachsener, körperlich robuster Stürmer ist auf dem Spielfeld ebenfalls viel unterwegs – wie ist er dann einzuordnen? Richtige Neun? Falsche Neun? Gar keine Neun? Bayerns Stoßstürmer Robert Lewandowski ist zwar ein klassischer Neuner, taucht aber plötzlich links auf, dann wieder rechts. Er wäre demnach eigentlich auch eine falsche Neun.
Vor zwanzig, dreißig Jahren standen die Mittelstürmer im Sturmzentrum, sie standen fast wortwörtlich und warteten auf verwertbare Vorlagen. Diese Spielweise ist heute überholt, denn aufgrund der Ketten in Abwehr und Mittelfeld müssen sich auch die Angreifer bewegen, sonst finden sie keine Bindung zum Spiel, gelangen nicht in die Lücken. Also müssen sie sich mehr zwischen den Ketten bewegen und in die freien Räume stoßen.
Die öffentliche Reduzierung der falschen Neun auf die oben genannten Eigenschaften ist zu kurz gedacht – zumindest dann, wenn groß, kräftig, weniger technisch stark, aber ebenfalls viel in Bewegung, keine falsche Neun sein soll. Wormuth erinnert sich an seinen vergeblichen Kampf um die korrekte Bezeichnung in den Medien: »Anfangs habe ich noch gesagt, ›Hört doch mit diesem Begriff auf, der ist schlicht falsch‹. Dann habe ich versucht zu klassifizieren in ›falsch‹ und ›variabel‹, doch dann war es eh schon durch und der Begriff öffentlich bereits fest verankert.«
Bei der WM 2014 besaß Argentinien mit Gonzalo Higuaín eine echte Spitze, bei den Niederlanden spielte Robin van Persie die Neun, auch mal Arjen Robben, Karim Benzema spielte sie bei Frankreich – viele Teams traten mit großem, kräftigem Neuner an. Deutschland hatte mit dem WM-Rekordtorschützen Miroslav Klose ebenfalls seine Neun, aber auch der war nahezu überall auf dem Platz zu finden. Die sogenannte falsche Neun, sie wird in der taktischen Entwicklung des Fußballs wohl nur eine kurze Episode bleiben.
In einem verbalen Fehlpass lag dann das sensible Thema Nummer zwei versteckt. »Herr Wormuth, als taktisches Mittel gegen eine tief stehende Verteidigung, gegen die es kein Durchkommen gibt, haben Sie den bewussten Fehlpass …« »Stopp. Nicht ganz. Den geplanten Fehlpass habe ich empfohlen, den geplanten. Auch wenn ich dafür hin und wieder kritisiert werde, so stehe ich doch zu der Idee, die dahinter steckt.«
Der geplante Fehlpass
»Den geplanten Fehlpass erwähnte ich schon 2010 in der Ausbildung. Dann hat Stefan Effenberg mal im Fernsehen gesagt: ›Ja, den haben wir in der Ausbildung auch gemacht. So ein Schmarrn, ich gebe doch den Ball nicht her!‹ Da habe ich gemerkt, dass die Idee zu Missverständnissen führt, oder Stefan den Sinn dahinter nicht verstanden hat. Worum geht es also? Der geplante Fehlpass ist ein Ball, der zum Angriff führt. Wenn wir nicht durch die gegnerische Abwehr durchkommen und keine Möglichkeit zum Torabschluss finden, dann spiele ich den Ball bewusst, also geplant, in den Rücken der Abwehr hinein, und zwar in den Halbraum, damit der Torwart nicht rankommt. Denn was passiert? Der Gegner dreht sich um und holt sich die Kugel. Und in dem Moment, in dem das geschieht – Gegner mit Rücken und Ball zu uns an der Außenlinie – ist das ein Auslöser für uns: pressen!
Ich habe gehört, dass man in Dortmund sogar mal trainiert hat, den Ball in den Rücken der Abwehr zu spielen und dann hinterherzugehen. Auch Pep Guardiola hat in einem Interview mal gesagt: ›Eigentlich müssten wir dem Gegner den Ball in dessen Hälfte geben und dann Gegenpressing (Anmerkung: Pressing nach Ballverlust) machen.‹ So ganz falsch kann die Idee also nicht sein. Ziel dieses geplanten Fehlpasses ist es, den Gegner in dessen Hälfte an den Ball zu lassen, um ihn ihm dann durch Gegenpressing wieder abzunehmen – dann in einer Zone, die dem gegnerischen Tor näher ist und in einer Situation, in der der Gegner sich öffnet, weil er zum Spielaufbau ansetzt.«
Ob der geplante Fehlpass in der Bundesliga bereits praktiziert wird? Eine Aussage von Arno Michels in Mainz, Dortmund und bei Paris St. Germain Co-Trainer von Thomas Tuchel, liefert zumindest einen Beleg. Lange Bälle werden häufiger geschlagen, doch wie viele davon sind ein geplanter Fehlpass? Beim VfL Wolfsburg unter Felix Magath gehörten lange Bälle zum guten Ton, wie Verteidiger Robin Knoche seinem Trainer Wormuth bei der U20-Nationalmannschaft berichtete: »Magath meint, wir seien in der Abwehr spielerisch nicht so stark und könnten daher beim Spielaufbau den Ball verlieren. Um nicht unnötig Fehler zu produzieren, hauen wir die Kugel nach vorne.«
Eine auch heute noch gängige Praxis in der Bundesliga: Der Ball wird hoch auf den Mittelstürmer gespielt, der kann ihn zwar von dort kaum herunternehmen, verlängert ihn aber stattdessen. Es wird also auf den zweiten Ball spekuliert – einen zunächst von der Verteidigung abgewehrten Ball, der die Möglichkeit zum Nachsetzen oder zur neuen Torchance lässt. Den Ball durch lange Pässe schnell in des Gegners Hälfte zu bringen, ist ein probates taktisches Mittel, um Fehler im Spielaufbau zu vermeiden. Das eigene Tor ist zunächst ungefährdet und bei einem Ballverlust in weiterer Entfernung vom eigenen Tor bleibt Zeit, sich defensiv zu sortieren.
Der FC Bayern mit seiner Spielkultur der letzten Jahre würde nur notfalls mit langen Bällen agieren, vielleicht in der Schlussphase eines Spiels, wenn angesichts eines Rückstands die »Brechstange« notwendig wird. Doch die Münchener wollen im wörtlichen Sinne Fußball spielen. Lange Bälle widersprächen ihrer Spielphilosophie, die Ballkontrolle vorsieht. Bei weiten Bällen ist die Gefahr größer, den Ball zu verlieren, weil sich der Gegner in seiner Hälfte meist in Überzahl befindet. Womöglich könnten die Bayern den Ball auch gar nicht in die Lücken hineinspielen, weil der Gegner zu tief steht. Mit ihrer Sicherheit am Ball sind sie auf ein Stilmittel wie den geplanten Fehlpass nicht angewiesen: Sie finden in aller Regel auch gegen eng stehende Abwehrreihen eine spielerische Lösung. Gedacht ist er für Mannschaften, die mit ihren Kombinationsversuchen an Grenzen stoßen und die das Mittelfeldpressing ihres Gegners nicht durchstoßen können. Diese Teams spielen der gegnerischen Abwehr den Ball in den Rücken, setzen nach und schauen, ob der Gegner die Situation lösen kann. Wormuth: »Der geplante Fehlpass muss grundsätzlich so kommen, dass der Gegner ihn annimmt, aber so, dass er mit dem Rücken zu uns steht – also flach in den Rücken der Abwehr.«
Und das Gegenmittel? Wie lässt sich auf den geplanten Fehlpass reagieren? Spielerisch starke Mannschaften sagen schlicht »danke für den Ball« und spielen von hinten heraus ihren Angriff. Sie geben den Ball so schnell nicht her und der Plan des Gegners geht nicht auf. Es sei denn, dass das Gegenpressing so gut ist, dass eine Balleroberung auch gegen diese spielstarken Mannschaften funktioniert. »Falls aber auch sie selbst in der Spieleröffnung Schwächen haben, werden sie den Ball einfach zurückschlagen«, beschreibt Wormuth ein Szenario zur Rückkehr des guten alten ›Kick and Rush‹ (den Ball nach vorne schießen und hinterrennen). »Oder, wie ich es gerne sage, des ›Hit and Hope‹, also ›nach vorne schlagen und hoffen‹. Das kennen wir von der zweiten Liga schon seit jeher, nichts Ungewöhnliches also.«
Nach zwei Themen, die bei Frank Wormuth aufgrund der Art der öffentlichen Diskussion keine rechte Freude mehr wecken, wird es Zeit für etwas Schönes, Harmonisches, ein fußballerisches Meisterwerk. Drei Worte genügen: Sieben zu eins.
Sieben zu eins – das historische Spiel
Es gab viele Erklärungsversuche, was an jenem sportlich denkwürdigen Abend des 8. Juli 2014 im WM-Halbfinale zwischen Brasilien und Deutschland passierte. So richtig verstanden hat es aber wohl kaum jemand, wie das 1:7 in Belo Horizonte zustande kommen konnte – das höchste Ergebnis in einem Fußball-WM-Halbfinale überhaupt. Zumindest ein Erklärungsansatz ließ sich jedoch schon vor Spielbeginn im Estádio Governador Magalhães Pinto, kurz Mineirão, finden – ausgerechnet auf der Homepage des Deutschen Fußball-Bundes. Dort erklärte Ralf Peter, in Brasilien Mitglied der WM-Beobachtungsgruppe des DFB, wie die Seleção zu packen sein könnte. »Wir müssen uns zwischen den Ketten gut anbieten«, sah Peter als ein Erfolgsrezept, »denn dort habe ich viele Räume gesehen. Dann werden wir zu unseren Chancen kommen.« Und so kam es. So manches weitere Tor schien eine Wiederholung des vorherigen zu sein, so sehr ähnelten sich ihre Entstehungen: herausgespielt in Form schneller Kombinationen durch die Mitte, bei denen Brasilien der Zugriff fehlte.
»Das soll bitte nicht arrogant klingen, aber man hat schon im Vorfeld der Partie gewusst, was sich ereignen würde – natürlich nicht vom Ergebnis her. Dass es solche Ausmaße annimmt, das konnte keiner ahnen. Aber der Spielverlauf kam angesichts der vorherigen Spiele nicht gänzlich unerwartet. Dass wir dieses Spiel gewinnen würden, davon war ich fest überzeugt«, sagt Wormuth und schiebt die Begründung gleich hinterher: »Die Brasilianer ließen in der Verteidigung viel zu große Räume und gingen nicht richtig in die Zweikämpfe. Sie hatten defensiv große Probleme im Eins gegen Eins, arbeiteten auch nicht gleichzeitig. Ihr Fokus lag auf der Offensive. Als dann eine Mannschaft kam, die Fußball im besten Wortsinn spielte, die den Ball laufen ließ, dann offenbarten sich die Lücken, durch die Brasilien ganz schnell auszuspielen war. Und genau das ist gegen Deutschland passiert.« Der Unterschied zu einem konsequenten Abwehrverhalten wurde im Vergleich mit dem Finalgegner deutlich: Argentinien stand kompakt, spielte stark ballorientiert und schaltete schnell um.
»Ich kann Ihnen Spielszenen der deutschen Nationalmannschaft aus dem Trainingslager vor der WM in Südtirol zeigen, wie immer wieder das Anlaufen aus dem Mittelfeld geübt wurde. Und die gleiche Spielszene zeige ich bei meinen Vorträgen aus der Partie gegen Brasilien: Die Entstehung des vierten Tores, bei dem Toni Kroos seinem Gegenspieler den Ball wegnimmt, dann zu Sami Khedira quer herüberspielt, die beiden noch mal hin- und herpassen und Kroos den Ball dann reinschiebt – das haben sie vorher immer wieder geübt.« Mit diesem Druck, den Ball nicht in Ruhe annehmen und verwerten zu können, konnten die Brasilianer nicht umgehen. Es stand ihnen immer schon ein Gegenspieler auf den Füßen. Und wenn die Deutschen den Ball erobert hatten, waren sie vom Tor nicht mehr weit entfernt, so früh, wie sie attackierten. Und dann schalteten sie blitzschnell um, erwischten Brasilien ungeordnet, kombinierten in einstudierten Spielzügen und schlugen zu.
Dabei lag die Kunst auch im Detail, so beim ersten Tor von Thomas Müller. Bei der vorangegangenen Ecke wurde Müllers Gegenspieler von Miroslav Klose geblockt, denn die Deutschen hatten vor der Partie festgestellt, dass die Brasilianer dem Ball bei Ecken entgegengingen und demzufolge der Rückraum frei blieb. In diese Lücke musste ein deutscher Spieler stoßen. Doch da der vermutlich gedeckt werden würde, musste sein Gegenspieler wie beim Basketball blockiert werden. So passierte es und deshalb war Müller völlig frei, als ihm der Ball vor dem 1:0 förmlich vor die Füße fiel.
Wir fragen uns, ob der brasilianische Trainer Luiz Felipe Scolari nicht frühzeitig hätte reagieren können, ja müssen? Hätte er nach dem zweiten Gegentor nicht umstellen können, seine Mannschaft mit einer Umstellung auf Defensive in die Halbzeit retten und neu sortieren können? »Ja, sofern dieser Fall vorher durchgespielt worden ist: ›Was machen wir, wenn wir keinen Zugriff bekommen und der Gegner plötzlich 2:0 führt? Wie sollen wir uns dann konsolidieren? Lasst uns erst einmal kompakt und tief stehen, damit wir wieder ins Spiel reinkommen.‹ Aber was passiert häufig, wenn eine Mannschaft in Rückstand gerät? Die meisten Teams öffnen dann noch mehr, wollen möglichst schnell den Ausgleich erzielen. So hat auch Brasilien nach dem Rückstand genauso weitergespielt wie zuvor, ist nicht von der ursprünglichen Überlegung abgewichen. Denn Scolari war von seinem Stil überzeugt, was im Prinzip völlig in Ordnung ist. Zumindest dann, wenn man so stark spielt, dass man keinen Plan B braucht.
Diese Einstellung erinnert mich an Volker Finke*, der bei meinem Praktikum 1997 in Freiburg voller Überzeugung sagte: ›Wir werden unser Kurzpassspiel bis zum Spielende durchziehen, auch wenn wir zurückliegen. Wir werden nicht anfangen, lange Bälle zu schlagen. Das entspricht nicht unserer Philosophie.‹ Da fragte ich ihn, ob nicht wenigstens in Ausnahmefällen? ›Nein, wir ziehen das durch, auch wenn wir dadurch mal ein Spiel verlieren.‹«
Der FC Barcelona sammelte allein mit Plan A, dem Ballbesitz- und Kurzpassspiel Tiki-Taka, jeden Titel, den es zu gewinnen gab. Doch irgendwann, bei den Katalanen ohnehin nach bemerkenswert langer Zeit, ging der Plan nicht mehr auf wie zuvor. Dann würde ein Plan B, eine Alternative, helfen. Aber Veränderungen fallen schwer, wenn der alte Plan jahrelang überaus erfolgreich war. Brasilien sah sich spätestens nach dem gewonnenen Confederations Cup 2013 auch für die WM im eigenen Land in der eindeutigen Favoritenrolle. »Sie waren so überzeugt von sich. Ähnlich dem Bild, wenn eine Katze ins Bild guckt und einen Löwen sieht. Das können Sie kaum mehr beeinflussen. Und falls sich die Brasilianer nur auf ihre Spielweise fokussiert haben sollten, vielleicht versäumten, auf andere Spielverläufe als die erwarteten zu reagieren, dann kann es bei der Qualität der WM-Gegner schwierig werden. Schon im WM-Achtelfinale gegen das sehr starke Chile hätte Brasilien aus dem Turnier ausscheiden können.«