Kitabı oku: «Abara Da Kabar», sayfa 6

Yazı tipi:

»Ok, Baum.«

»Siehst du?«

»Nein. Was?«

»Jetzt hör zu: Wenn du ›Baum‹ sagst, kommt kein Baum aus deinem Mund und fliegt durch die Luft und dringt in mein Ohr. Aber auch dein Bild von diesem Baum kann nicht fliegen. Der Inhalt von etwas Gesagtem wird nicht zugestellt. Nur die Verpackung. Was hier durch die Luft fliegt ist nur ein Wachrufer für deine eigene Vorstellung von einem Baum, die du im Hirn-Archiv gespeichert hast. Wenn ich ›Baum‹ sage, siehst du nicht meinen Baum, sondern deinen eigenen, und der wird immer anders aussehen als meiner, egal, wie genau ich ihn beschreibe. Meine Beschreibung ist nur ein Rezept für den Nachbau aus deinem eigenen Archivmaterial.«

Ich verstand. Alles, was sich beim Sprechen durch die Luft bewegen konnte, war die Luft selbst in deformiertem Zustand, als Klangbild. Luft war elastisch, man konnte sie ausatmen und dabei mit den Lippen Druck- und Dichteschwankungen bewirken und dabei wellenartige Muster erzeugen, die durch den Luftraum davontrieben. Wenn jemand sprach, bewegte sich wellenförmige Luft durch ruhende Luft. Alles, was sich bewegte, waren Wellen. So konnte man Lautbilder in die Luft stempeln wie Rauchringe. Man konnte der Luft etwas sagen und sie sagte es weiter. Ein Windstoß verbog und dehnte das Lautbild, es prallte gegen eine Wand und dann hallten Bruchstücke wider, oft mehrmals, bevor sie sich verloren. Trafen solche Wellenbilder auf einen Empfangstrichter wie das sogenannte Ohr, »hörte« man etwas.

Mir kam meine eigene Begeisterung irgendwie übertrieben vor und ich fragte: »Bin ich so ungebildet, oder ist das alles wirklich so faszinierend? Deine Worte sind so schwerwiegend. Ich glaube dir jedes einzelne, Frau Volksschullehrerin.«

»Du sollst nicht glauben, du sollst verstehen«, sagte die Volksschullehrerin.

»Du sagst doch selbst, das geht nicht.«

»Hör jetzt auf.«

»Also gut: Das ganze Spiel mit dem Baum heißt ›Ich sehe nur, was du nicht siehst‹, oder?«

»Wenn du es so schön sagen möchtest.«

»Genauer gesagt lautet das Spiel der scheinbaren Kommunikation, ›Was ich sehe, wirst du niemals sehen können‹, oder?«

Sie zuckte mit den Schultern: »Ja.«

Alles war noch viel radikaler, als ich angenommen hatte. Ich hatte gedacht, beim Sprechen, also bei der Übermittlung von Begriffen, würden vielleicht Fehler auftreten und es könne etwas verloren gehen. Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, was mit dieser Luftpost während des Überfluges passierte. Und da war jetzt die Antwort: Gar nichts. Mit dieser Luftpost passierte gar nichts. Es gab keine Luftpost. Die Aussage eines anderen zu verstehen, war pure Illusion.

Michaela Halbmond hatte nur den seltsamen Einwand, dass das normal sei. Und dass man eben nicht so übertrieben genau hinschauen dürfe.

Was? Konnte man denn übertrieben genau hinschauen? Ich meine, alles, was diese Frau sagte, zog mich an und nahm mich ein. Doch ich sollte nicht genau hinschauen? Tut mir leid, große Expertin, ich schaue aber genau hin. Und zwar ganz genau. Und ich hatte nicht vor, weniger als ganz genau hinzuschauen. Wegen nichts anderem war ich da.

Ich sah ihre Seidenlippen, wie sie sich in Zeitlupe bewegten, diese scharf gezeichneten, großen Lippen mit den Fältchen und Plättchen, wie sie stumm nach vorne kamen, einen Trichter bildeten, sich weich aufeinanderlegten, wieder aufgingen, zurückwichen, sich schmal machten und in die Breite spannten.

»Aber das ist normal«, sagte sie.

»Es ist normal, dass nichts, was Menschen je gesagt haben, je bei einem anderen Menschen angekommen ist? Dass nichts jemals so verstanden wurde, wie es gemeint war, aber alle dachten, es richtig gesagt und richtig verstanden zu haben?

»Ja«, sagte sie, »wenn man es allzu genau nimmt.«

Das war ja das Beste. Allzu genau. Ich berührte ihre Hand wie um sie zu beknien, doch vernünftig zu sein: »Aber das heißt doch, dass Menschen nie miteinander reden, sondern immer nur nacheinander abwechselnd jeder mit sich selbst.«

Sie musste lachen. »Ja«, sagte sie, »das klingt so witzig, aber es stimmt.«

Der Übermittlungsvorgang war es einfach nicht. Es lag kein technisches Problem vor. Der wahre Grund war verletzend banal: Es war der allgegenwärtige Irrglaube, Sprache könne etwas, was sie einfach nicht konnte.

»Bist du sicher, dass das kein Grund zur Aufregung ist?«, fragte ich.

Michaela lächelte nur. Sie ließ mich leben. Sie nahm mich ernst, obwohl ich verrückt sein musste. Sie teilte ihr großes Wissen mit mir, aber sie ließ mich einfach. Ich hatte es in dieser Redaktionskonferenz einfach so dahinbehauptet, ich hatte gelogen und schön knallig zugespitzt. Aber jetzt war klar: Meine erfundene Geschichte entsprach den Tatsachen. Ich hatte die Wahrheit gelogen. Alles, was der Mensch von der Welt draußen hereinzubekommen und zu verstehen dachte, war in Wahrheit schon da, hausgemacht. Von draußen kam gar nichts.

Der Mensch bildete sich ein, mit anderen Menschen verbunden zu sein, aber er war vollkommen allein. Ein universeller Selbstversorger, ein Eremit der Sinne, ein absoluter Einzelgänger. Er lebte in einer selbstgebastelten virtuellen Realität. In einer bunten Blase aus körpereigenem Seifenwasser. Er braute sich alles selbst aus körpereigenen Säften, er malte sich alles aus körpereigenen Farben, er belegte alles mit seinen eigenen Erfahrungen. Sein Verständnis bezog er aus seinem eigenen Wissen. Er verstand nur, was er ohnehin wusste. Von draußen erfuhr er gar nichts, nur Codes. Die rote Farbe, die er wahrnahm, war sein eigenes Rot und nicht jenes, das ihm als Schallwellen-Konstrukt zugeflogen kam, denn da kam kein Rot geflogen, sondern ein akustisches Symbol lautend auf R-O-T, zur Abrufung des eigenen Rot. Sonst nichts.

Und diese Laut-Symbole galten nicht einmal den Dingen, die sie bezeichneten. Sie waren nur an die Bibliothek des Geistes gerichtet. Wörter vertraten nicht die realen Dinge, die sie benannten, sondern die Lagerplätze ihrer Abbilder im Hirn, damit der Geist sich auskannte, was er hervorholen musste. Wir Menschen redeten überhaupt nicht über die Welt draußen, sondern über unsere gespeicherten Archive. Wir transportierten gar nichts. Unsere Hirne spielten Kartentauschen, das war alles. Wir agierten in einer Stellvertreter-Welt aus Abbildern. Wir lebten nicht, wir spielten Leben.

Wozu hatte ich versucht, Gedichte zu schreiben? Wozu hatte ich mein Leben lang überlegt, was ich sagen sollte, bevor ich den Mund aufmachte? Warum hatte ich versucht, dem Wesen der Dinge näher zu kommen, indem ich Wortbedeutungen präzisierte? Ganz einfach: Weil ich nicht wusste, dass ich das Wesen der Dinge niemals mit Wörtern durchdringen würde, weil Wörter nichts mit dem Wesen der Dinge zu tun hatten, sondern draufgeklebte Archiv-Schilder waren. Vor mir stand die Lichtgestalt mit der silbrigen Mähne und den übertriebenen Sprachkenntnissen und mein Latein war am Ende.

Mein Latein war am Anfang. Ich sagte: »Wir fechten sogenannte Meinungsverschiedenheiten aus und glauben, über Meinungen zu streiten, dabei streiten wir über Wörter. Es ist sinnlos, wahre Bedeutungen von Wörtern herausarbeiten zu wollen mit immer mehr Wörtern, die allesamt nichts mit dem zu tun haben, was wir suchen.«

»Ja«, sagte sie mitfühlend und lächelte etwas ernster. Sie blickte mich wieder an wie bei der Buchpräsentation, als ich das Gefühl hatte, sie würde an meinem Lachen etwas erkennen.

Mir wurde ein bisschen übel. Jeder einzelne Mensch befand sich in seiner eigenen Sprachblase. Wir, die Menschen, waren autistische Eigenbrötler, die sich einbildeten zu kommunizieren und nicht verstanden, warum sie nichts verstanden. Sie redeten in einer Sprache, die nichts mitteilen konnte, in einer Sprache, die sie nicht verstanden und nicht beherrschten und dennoch missbrauchten. Sie logen mit dieser Sprache, obwohl mit ihr ohnehin keine Wahrheit zustande zu bringen war. Damit meinte ich nicht nur die anderen. Ich meinte hauptsächlich mich selbst. Was denn sonst.

»Ich muss gehen«, sagte sie plötzlich, erschrocken von der Uhr aufschauend, »ich komm schon zu spät.«

Ich erwachte wie aus einer Hypnose. »Bitte verzeih mir«, fuhr ich hoch, »dass ich dich so vereinnahme.« Ich griff mir auf die Stirn: »Wie erhellend und einnehmend das alles ist. Tut mir leid.«

»Ist ja spannend«, sagte sie und ich wusste nicht, ob in ihrem Schmunzeln Müdigkeit oder Traurigkeit oder Besorgtheit lag. Sie berührte mich mit der Handfläche seitlich am Kopf wie ihren braven Volksschüler und nickte aufmunternd: »Bleib dran, ok?«

Und dann blieb ich zurück. Allein mit meiner neuen Wirklichkeit. Allein mit meiner bestätigten alten Wirklichkeit, welche die Unsicherheit verloren und Kontur gewonnen hatte und erst jetzt so richtig neu und echt und wirklich war. Da stand ich am Eingang des unter grauem Industriestaub erstickten Parks und Michaela Halbmond entschwand.

Ich hatte ihre Verabschiedung reaktionslos über mich ergehen lassen. Nun stand ich am Gehsteig, zurückgelassen wie ein aufgerissenes Gepäckstück und sah sie noch, wie sie sich beeilte, ein bisschen Zeit gutzumachen. Sie überholte Passanten, wich betonierten Blumentöpfen und Ampelmasten aus und verschwand in der Flut aus Menschen und Fahrzeugen.

8

Ich ließ sie. Ich drehte ab und ging zur U-Bahn. Ich hatte Anerkennung von hoher Stelle bekommen. Doch es war eigenartig. Es war Sternstunde, aber es leuchteten keine Sterne. Ich begann zu spüren, dass die Bestätigung keine gute Nachricht war, auch, wenn sie mein Ego bediente. Ich fühlte mich wie bei einem Zieleinlauf, bei dem nicht die erwartete Glorie ausbrach, sondern Schlaffheit und Leere, in der sich die Mühsal entlud, die mich an ein Ziel gebracht hatte, das von niemand gefeiert wurde, weil es nicht das Ziel, sondern das Ende war. Schon im Gespräch mit ihr hatte ich die Konsequenzen ihrer Ausführungen gesehen, hatte ich hereinbrechen gesehen, was es bedeutete, dass Sprache keinen Austausch betrieb und die Menschen eben nicht miteinander verband. Und wenn Menschen nicht mit Menschen verbunden waren, womit dann? Mit nichts und niemandem. Schon während Michaela sprach, hatte ich die Einsamkeit gesehen, in der jeder Mensch abgekapselt in seiner Eigenbau-Welt dahinvegetierte. Ich sah die Menschen wie unter Wasser auf sich gestellt, in einer Blase aus Selbergebrautem, Nachgebautem und im Eigenen Gespiegeltem.

Die Menschen waren nicht in der Welt. Sie waren in ihren selbst gebastelten Kulissen einer vorgestellten Welt, die sich aus Bauteilen zusammensetzte, die ohnehin bei ihnen zu Hause herumlagen. Mir zog es das Herz zusammen vor Mitleid mit den Kindern ihrer eigenen Fantasie, den Käfig-Kindern, die mit der äußeren Welt nicht einmal verbunden waren, sondern sie nachzeichneten und dann ihre eigenen Zeichnungen betrachteten, die sie für die Welt hielten. Sie spielten Welt. Sie spielten Leben. Sie feierten keine Feste. Sie zeichneten ihre einsamen Vorstellungen von einem Fest auf und betrachteten die Zeichnung mit freudloser Feierlichkeit. Sie liebten nicht, sie fertigten Zeichnungen von ihren Vorstellungen dessen an, was sie für Liebe hielten, und betrachteten ihre Zeichnungen immer mit dem sonderbaren Gefühl, sich jenseits einer Kluft zu befinden. Sie waren abgeschnitten und abgekapselt von der Welt, in der sie zu leben dachten, aber sich doch nur vorstellten, in ihr zu leben. Sie waren eingesperrt und träumten. Unendlich einsam, nicht nur im Universum, auch mitten in der Gegenwart anderer Menschen.

Michaelas Blick hatte sich beim Abschied kurz gesenkt und als er sich wieder hob, sah ich, dass sie dahintergeblickt hatte. Sie hatte gespürt, dass da mehr war, etwas Größeres. Und sie hatte mich berührt und gesagt, ich solle aufpassen, oder dranbleiben oder so, aber ich glaube, sie meinte aufpassen. Sie spürte so viel.

Die U4 war voll mit Gesichtern. Ich fand einen Sitzplatz und betrachtete das Bild von der Menschenmenge wie einen laufenden Fernseher. Das war entspannend wie nach der Jagd ins Lagerfeuer zu starren und ich genoss es, nicht zuständig zu sein für all die Geschichten, die in den Gesichtern der Fahrgäste wetterleuchteten. Die meisten waren alleine unterwegs. Ihre ins Leere gehenden Blicke schienen zu fixieren, was eben gewesen war oder gleich kommen würde. Das gedankenvolle Schweigen machte ihr Wesen klarer und anwesender und sie schienen schärfer aus ihrer Umgebung herausgeschnitten, als wenn sie alle durcheinanderredeten, wie Brei in einem Kessel brodelten und versuchten, sich mitzuteilen. Immer darauf achtend, nicht falsch verstanden zu werden, laufend nachschärften und das, was bereits falsch verstanden schien, zurück zu erklären, um es anders hinzulegen, als würden sie versuchen, Hühner in einen Stall zu treiben. Aber so, wie sie jetzt alle in sich gesunken beieinanderstanden oder saßen, sich mit verschlossenen Mienen nur knapp koordinierten, wenn es um einen Sitzplatz ging oder ums Aussteigen, da waren sie bei sich und hatten etwas Kompetentes, wenn nicht gar Erhabenes. Da blieb mein Blick an einer Augenweide hängen.

Ich sage Augenweide, weil es wohltuend war, eine Erscheinung zu betrachten, von der so viel unverstellte Echtheit ausging, so viel schamlose Freude, dass man diese Freude selbst zu spüren glaubte. Und das nur, weil der Mann einfach tat, was seine Körperfülle implizierte und nicht versuchte, jemand anderer zu sein, der nicht wusste, wie er zu seinem Körper gekommen war. Er wog wohl mindestens hundertfünfzig Kilo, umklammerte ein riesiges Kebab-Sandwich und zierte sich kein bisschen. Er zupfte nicht mit spitzen Fingern an dem Ding herum, als wüsste er nicht, wie man mit einem Kebab umging, weil er doch praktisch nie aß und eigentlich zu vornehm war, um überhaupt Appetit zu verspüren. Nein, er machte weder sich, noch seiner Umgebung etwas vor. Er schnappte erleichtert nach dem streng riechenden Straßengericht, schlug leidenschaftlich seufzend seine Zähne hinein, dass mit rosa Fett-Sauce überzogene Tomatenscheiben und Zwiebelringe herausquollen. Noch bevor er zum Kauen kam, erfasste ihn die pure Wonne und er schüttelte bestürzt den Kopf, als könne er es nicht fassen. Er blickte andächtig nach oben, schluckte, wischte sich mit der viel zu kleinen und viel zu dünnen Papierserviette über die Mundwinkel, entfernte die groben Rückstände und setzte zum nächsten Biss an. Seine Hingabe, seine Liebe, sein unendlicher Genuss an der Sucht-Befriedigung, die Dankbarkeit, die ihn durchströmte, als die Wirkung der Droge einsetzte, hatten etwas Religiöses. Eine Frau, die neben ihm Platz genommen hatte und seinen Liebesakt mit einem wissenden Lächeln belohnte, fragte mit wienerischem Hintersinn: »Schmeckt’s?« Er richtete seinen komatösen Blick auf sie, lächelte und schüttelte den Kopf.

Die U-Bahn beschleunigte aus der Station hinaus. In einem Augenwinkel sah ich noch das letzte Namensschild der Station, das wie ein Pfeil vorbeizog. Da bemerkte ich, dass ich in die falsche Richtung fuhr. Doch hatte die Richtung auch ihre Richtigkeit, denn drei Stationen später war der Tiergarten. Dort stieg ich aus und spazierte hinein. Neben mir die gefühlte Michaela Halbmond, die jetzt irgendwo zu spät gekommen bezaubernd lächelte und sich alle freuten, dass sie überhaupt gekommen war.

Da war der Zaun, von dem sie gesprochen hatte. Da war das Tierreich, aus dem der Mensch abgereist war. Die Vorzeit der Sprache lag vor mir. Dort hinter dem Zaun hatte sich nichts verändert. Da waren keine Sprachen aufgekommen und hatten alles mit sich gerissen. Da standen die Geschöpfe wie eh und je in ihrer vulkanischen Vorzeit herum und blickten mich an. Sie durchstarrten mich. Erstaunt, verständnislos, interessiert, konzentriert. Verstehen wollend. Das Kamel musterte mich hochmütig wie ein Erziehungsberechtigter; der schwarze Puma streifte um die Ecke: totalitär, verfassungswidrig, ernster als nötig, als hätte er allen Grund und längst beschlossen, Rache zu nehmen; der Elefant, gutgläubig, musikalisch, naiv; der Affe, ein Justizirrtum, unschuldig lebenslang, psychisch krank; der Eisbär, im Süden gestrandet, in der Übelkeit der Hitze taumelnd; der Hippo, speckig glänzender Druckkessel, aus dessen Ventil am vorderen Ende eine dünne weiße Fontäne schoss. Wie eh und je hielt er lauschend inne, kurzgeschlossen nur mit seinen Eindrücken, als würde er trinken. Farben, Formen und Geräusche durchströmten ihn unangetastet und ohne Ende, Tag und Nacht, jahraus, jahrein. Da waren sie nun, die Tiere, von denen Michaela gesprochen hatte. Sie waren zurückgeblieben. Sie waren nicht mit der Sprache aufgebrochen. Und das hatte etwas Gutes.

Etwas, das alt und gut war. Ihre Abgeschnittenheit von der geistigen Welt hatte etwas Vernünftiges, etwas Nichtbegangenes, etwas Gewissensreines. Es hatte etwas von der Weisheit des Einfältigen, etwas heimatlich Naives. Etwas, wonach man Sehnsucht haben konnte. Sie hatten das Versöhnliche von Großeltern, die nie ihren Bauernhof verlassen hatten. Die Tiere standen wie eh und je in ihrer Ur-Welt herum und blickten über den Zaun herüber. Aber in ihren Augen war das Flehen des Unaussprechlichen, etwas wie Wehmut oder Traurigkeit. Sie waren wie Schlaganfallpatienten, die etwas sagen wollten und doch nur große Augen machen konnten.

Hatten sie ein Sprachbedürfnis? Wollten sie sich differenziert ausdrücken und facettenreich mitteilen? Wollte der Hippo abstrakt denken? Wollte der Puma äußere Abläufe lenken und nicht mehr mit Reißzähnen, sondern nur noch mit dem Hirn jagen? Wollte der Elefant vorweg erdachte, voraus berechnete, aus symbolischen Zeichen im Kopf konstruierte Lösungen umsetzen und Ergebnisse erzielen, wie er sie schon prognostiziert hat? Wollten sie in ihrem Kopf Codes ordnen und speichern und eine innere Welt aus Vorstellungen entwickeln? Wollten sie ein Lager konkreter Erinnerungen anlegen, die sie studieren und abgleichen konnten? Wollten sie diese Speicherungen gegeneinander abwägen und durch bloßes Abwägen neue Erkenntnisse gewinnen? Wollten sie beginnen, von dem, was war, auf das zu schließen, was sein würde? Wollten sie sich aus der Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt erheben und lernen, Zeiten einzubeziehen, die es nicht mehr gab, oder noch nicht gab? Wollten sie planen? Erfinden? Der Natur etwas abschauen und es ihr nachmachen? Vielleicht sogar besser als sie? Wollten sie ihre persönliche Sicherheit nicht mehr irgendwo suchen, sondern selbst erzeugen? Strebten sie nach Unabhängigkeit?

Wenn ja, dann mussten sie langsam aufbrechen und irgendwie damit beginnen, etwas zu begreifen. Sie mussten beginnen, nach den Eindrücken zu greifen, die sie durchströmten und sie mussten lernen, sie zu fassen und herauszufischen, wozu sie Gefäße aus Wörtern benötigten, Wort-Gefäße, wie sie Michaela beschrieben hatte, Schöpf-Gefäße aus Lautkombinationen, mit denen sie Schöpfungen durchführen konnten, die Erschaffungen waren. Sie mussten durch ihren Kopf ziehende Eindrücke abstoppen lernen, festhalten, konservieren und wiederverwendbar machen. Sie mussten die Sprache erfinden und mit ihr eine neuartige Turbo-Evolution auslösen. Dazu benötigten sie viele Wortgefäße, nicht nur einige. Sie mussten große Teile ihrer Erscheinungswelt mit solchen Kennwörtern markieren, damit sie sie speichern konnten. Sie mussten sich eine Kopie ihrer Wahrnehmungslandschaft anlegen, bestehend aus Namensschildern, mit denen sie alles vollklebten. Das Hirn benötigte eine Skizze aus Bezeichnungen, die es systematisch variieren und miteinander in Verbindung bringen konnte. Mein lieber Freund, dachte ich, den Hippo mitleidig betrachtend, da liegt noch ein langer Weg vor dir. Denn kurz und gut musst du dein Gehirn zu deinem Arbeitsplatz machen, aber dazu muss es zunächst einmal viel größer werden.

Wenn sie, der Hippo und die anderen, wirklich aufbrechen wollten, dann mussten sie nicht nur ihre Hirne vergrößern. Sie mussten auch ihre Körper umbauen. Sie mussten ihren Kehlkopf nach unten biegen, um eine viel größere Mundhöhle zu bekommen, die phonetisch klare und variantenreiche Lautbildung zuließ. Sie mussten in die Evolution eingreifen und genetische Umwälzungen auslösen, die Tausende Generationen dauern würden. Aber dafür würden sie am Ende keine drei Meter langen Hälse mehr brauchen, um die Blätter der Baumkronen zu erreichen und weder Klauen noch dicke Felle, sondern einfach mehr von der grauen Masse, die sich in den Windungen unter ihren Schädeldecken befand. Ihre neue Idee von der selbstgemachten Sicherheit würde ein großes Rechenzentrum benötigen, für die massenhaften Schaltungen einer Abgleichungsmechanik von Begriffen und für deren bibliothekarische Ordnung. Ein riesiges Verwaltungszentrum. Eine Bürokratie des Geistes. Eine Kommandobrücke zur Ergreifung der Krone. Einen Generalstab für den Putsch gegen das Unwesen der Natur und ihre endlosen Grausamkeiten. Ein Werkzeug für ihre Befreiung. Sie mussten ihre freie Wildbahn verlassen und in eine Welt umsiedeln, die es eigentlich nicht gab, die nur aus abstrakten Symbolzeichen zusammengesetzt im Hirn existierte. Sie mussten ihr äußeres Jagdprogramm aufgeben, das sich im Wesentlichen auf das Herausreißen von Fleischstücken und anschließender Flucht beschränkte, und sich zurückziehen in eine virtuelle Welt des Abstrakten und Theoretischen.

Wollten sie das? Wollten sie Menschen werden? Wären Tiere gern Menschen?

Dann mussten sie, der Hippo und die anderen, auf die Reise gehen wie der Mensch auf die Reise gegangen war. Auch er war nicht als Mensch aufgebrochen, sondern erst auf dieser Reise zum Menschen geworden, dachte ich. Natürlich, dachte ich, logisch, Sprache war nicht etwas, das der Mensch sich angeeignet hatte. Der Mensch hatte sich gar nichts angeeignet. Das Tier hatte sich etwas angeeignet und sich dadurch in einen Menschen verwandelt. Nicht der Mensch hatte die Sprache zu seinem Instrument gemacht. Das Instrument hat ihn erst zum Menschen gemacht. Sprechende Tiere gab es nicht. Ein sprechendes Tier nannte man Mensch. Ja schon, auch Tiere versenden Signale, die etwas bedeuten, aber Sprache war doch etwas ganz anderes. Ich stand am Reichs-Zaun, die Augen des langhaarigen roten Affen wollten mich etwas Lustiges fragen, da fiel mir Meli ein und wie auch sie auf die Reise gegangen war.

Meli war meine kleine Nichte und die Zeit, die ich mit ihr verbracht und ihr aufmerksam beim Lallen zugehört hatte, entpuppte sich jetzt als reine Offenbarung. Sie war selbst von einem Tier zu einem Menschen geworden und ich hatte sie dabei beobachtet. Sie hatte den Übergang der tausend Generationen in drei Jahren durchgemacht. Das war ein riesiges Mysterium für mich. Kleinkinder durchliefen im Zeitraffer bis ins Detail die Entwicklung, die die Menschheit in hunderttausend Jahren genommen hatte.

Das begann schon bald nach ihrer Geburt. Sie lag in ihrer irrtümlich in Blau angeschafften Wiege, spielte mit ihren Fingern wie mit einem fremden Ding und begann, von sich aus Tonsignale zu versenden. Sie gab Laute von sich, die keine Not, sondern etwas entspannt Erzählerisches hatten und lustvoll geschäftig klangen. Spielerisch probierend mampfte sie die Luft in ihrer Mundhöhle, indem sie ihr Kiefer auf und ab schob und wenn sie die Lippen schloss und ihre Äußerung abklemmte, bildete sich in ihren Backen ein kugelförmiges Luftpölsterchen, das wieder verschwand, wenn sie den Mund öffnete und die vorhin abgestoppten Laute entließ. Auf diese Weise teilte sie ihren Grundton in einzelne Abschnitte, die sich fliegend aneinander übergaben und einen Grundrhythmus erzeugten, der ihrer Stimme eine verträumte Musikalität verlieh. Dazu verschob sie absichtsvoll die Lippen zu einem spitzen Trichter und zog sie wieder in die Breite, sodass sich eine Melodie über den Rhythmus legte, die die aufeinanderfolgenden Laute zu einem Klangbild fügten, das bedeutungsschwanger und dezidiert war. Dann schloss sie den Mund und blickte ernst und abwartend. Manchmal endete ihre Aussage mit einem Seufzer der Zufriedenheit, manchmal mit einem hinsinkenden Zischlaut, der wie ein trunkenes Zugeständnis an das Leben klang.

Sie konnte wie ein Neandertaler atmen und trinken gleichzeitig. Weil ihr Kehlkopf wie bei Säugetieren und Frühmenschen auf einer Ebene mit der Mundhöhle lag und die Zunge daher flach vom Mund in den Rachen verlief, konnte sie mittels Gaumensegel und Kehldeckel zwei unterschiedliche Kanäle nutzen, die hinunterführten in ihren Körper: einen vom Mund in die Speiseröhre und einen von der Nase in die Luftröhre. Sie klang auch wie ein Neandertaler-Baby, denn die Beschaffenheit ihres Stimmtraktes ließ keine andere Lautbildung zu und brachte keine Laute hervor, die sauber genug waren, um die feinen Unterschiede ähnlicher Laute wie »E«, »Ü« oder »Ö« hörbar zu machen. An Vokalen verwendete sie zunächst nur das »A« und das »O«. Und sie klangen bemüht und verwaschen. Konsonanten funktionierten besser, denn sie waren eher Geräusche als Töne.

Im vierten oder fünften Lebensmonat begann sich ihr Kehlkopf zu senken, sodass er in einer Biegung unterhalb des Rachens in Stellung kam. Damit war die bauliche Voraussetzung für eine Lautbildung geschaffen, die die Sprache des modernen Menschen ermöglichte. Jetzt saß ihr Kehlkopf so tief wie bei keinem anderen Lebewesen. Nun stand ein Klangkörper aus Mund-, Nasen- und Rachenhöhle zur Verfügung, der ebenfalls größer war als bei allen anderen Kreaturen. Der klangliche Unterschied war spektakulär wie zwischen drei Wäscheleinen und einem Konzertflügel. Meli fand es lustig, auf ihrem neuen Klavier zu klimpern, ihren Sprachapparat zu erkunden und die unterschiedlichsten Töne und Geräusche auszuprobieren, die sich mit dem Modulieren ihrer Atemluft erzeugen ließen.

An dem v-förmigen, auf- und zuklappbaren Verschluss am Kehlkopf, dessen lippenartige Ränder vibrierten, ging es los. Wenn sie ausatmete, passierte ihre Luft die Stelle und übernahm die Vibrationen. In der Mundhöhle verpasste sie diesem Grundklang durch feine Veränderungen der Zungen- und Lippenstellungen ein Laut-Gesicht wie »A« oder »O« oder »E«. Wenn sie den Luftstrom sperrte und dann plötzlich wieder freigab, entstanden Abschussgeräusche wie »P, T, K«. Wenn sie den Luftstrom aber in den Höhlen des Rachens, der Nase oder des Mundes nur einengte, entstanden Schleifgeräusche wie »CH, S, F«. Sie ließ ihre Zunge am Gaumen tremolieren und lenkte den ohnehin schon vibrierenden Luftstrom auf diesen tremolierenden Widerstand, worauf es »Rrrr« machte. Und wenn sie einen Teil ihrer mit einem Schwingungsmuster versehenen Atemluft mittels Gaumensegel in die Nasenhöhle abbiegen ließ, hob sie die gesamte bereits fertig zubereitete Laut-Kreation farblich auf eine andere Ebene und gab ihr etwas Hochmütiges, Abgehobenes, das man nasal nennen konnte. Woher immer sie sie hatte, sie probierte jedenfalls auch Töne aus, die in ihrer Muttersprache gar nicht vorkamen. Sie testete archaische Laute, die in längst vergangenen Sprachen zum Einsatz gekommen und nur noch in letzten Resten bei abgelegenen Naturvölkern zu beobachten waren, wie im Khoisan des Volkes der San, den hellhäutigen Ur-Afrikanern. Dieser räumlich und zeitlich weit entfernte weibliche Säugling aus Wien aber brachte mit müheloser Selbstverständlichkeit die Schnalzlaute der Ur-Afrikaner hervor, ganz einfach durch Luftentzug zwischen zwei artikulatorischen Stellen, als würde sie mit ihrer San-Mama plaudern. Sie bediente sich aus einem Gesamt-Repertoire an Urlauten, mit denen sie jede Sprache der Menschen hätte sprechen können. Wie von Geisterhand geführt reduzierte sie sich mit den Monaten langsam auf die zwanzig, fünfundzwanzig in Verwendung stehenden Laute des Alphabetes.

Sie gurrte und raunte und kommentierte den dichten, endlosen Strom aus Eindrücken und Vorstellungen, der durch ihren Kopf zog. Sie intonisierte ihre Aussagen und um sie besser abzugrenzen, setzte sie Ton-Biegungen ein. Sie verbog den Ton ihrer Aussage nach oben oder unten oder beides nacheinander und gab ihrer Äußerung mehr Profil und Emotion. Sie war längst dabei, über den Zaun zu klettern.

Unmittelbar nach der Geburt hatte sie sprachliche Laute bereits von allen anderen Geräuschen unterschieden. Der Musik hatte sie gelauscht wie dem Wind, aber auf menschliche Stimmen hin begann sie zu schmatzen und zu maulen und ihr Körper begann zu zappeln. Nach zwei, drei Monaten begann sie, aus ihren Verlautungen Verlautbarungen zu machen und sie direkt an ihre Mutter zu richten. Danach sperrte sie die Ohren auf und blickte entschlossen dem entgegen, was da zurückkommen mochte. Voller Absicht antwortete sie, ahmte die Laute der Mutter nach und übte das Zusammenspiel der Hundertschaft an Muskeln, die bei jeder kleinen Ton-Kreation koordiniert werden mussten und jede kleine Bemerkung zu einer physiologischen Großoperation machten. Sie klimperte wie auf einem inneren Klavier und machte ihre Sprachartikulation immer schärfer.

Noch vor ihrem ersten Geburtstag arrangierte sie ihr vorzeitliches Laut-Spiel rhythmisch und melodisch so, dass ihre Muttersprache hörbar wurde und sie plötzlich österreichisch klang. Sie ahmte ihre eigenen Laute nach, um sich selbst reden zu hören, um zu testen, wie es klang, was sie selber sagte und sie sagte, was sie von sich hören wollte. Sie feilte ununterbrochen an ihrem Lautsystem. Sie begann, ihre Laute zu kombinieren und den Variantenreichtum ihrer Kombinationen zu steigern. Sie lenkte einen Teil der Luft, die sie ausatmete, über den Gaumen in die Nase, erzeugte ein »M« und sagte jetzt »Ma«. Dann stoppte sie die aus dem Mund strömende Luft, in dem sie ihre Lippen schloss, ließ den Druck der abgestoppten Luft ansteigen, bis ihre Lippen auseinanderplatzten und erzeugte ein »B«. Und dann sagte sie »Ba«. Sie begann, ihre Laute zu verdoppeln. Statt »Ma« sagte sie jetzt »Mama«, statt »Ba« sagte sie jetzt »Baba« und ihre Augen glitzerten feierlich. Sie legte ihre Zunge innen an die Oberzähne, blies Luft durch und erzeugte ein »T« und ein »D«. Sie sagte »Ta« und »Da«. Sie produzierte Reibelaute wie »S«, »R« und »F«. In ihr schien etwas aufzublühen, während sie unermüdlich weitertrainierte, den Luftstrom zu modulieren. Ihre Lautkombinationen wurden zielgenauer und klanglich sauberer.

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