Kitabı oku: «Lourdes», sayfa 3

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Während dieser zwei Monate langsamer Wiedergenesung hatte er, soviel er sich erinnerte, nur den Doktor Chassaigne empfangen. Das war ein alter Freund seines Vaters, ein gediegener Arzt, der sich bescheiden auf seine Eigenschaft als Praktiker beschränkte und nur den einen Ehrgeiz besaß, seine Kranken zu kurieren. Vergebens bemühte er sich um Frau Froment, aber er durfte sich rühmen, den jungen Priester aus einer schlimmen Lage gerettet zu haben. Von Zeit zu Zeit besuchte er ihn, plauderte mit ihm und suchte ihn zu zerstreuen. Er erzählte ihm von seinem Vater, dem großen Chemiker. Er wußte reizende Anekdoten von ihm zu berichten und rührende Einzelheiten einer innigen Freundschaft. So hatte sich der Sohn während seiner langsam fortschreitenden Erholung von seinem Vater ein Bild von verehrungswürdiger Einfachheit, Güte und Liebenswürdigkeit gebildet. Das war sein Vater, wie er wirklich war, und nicht der Mann der strengen Wissenschaft, wie er sich ihn früher nach den Erzählungen seiner Mutter vorgestellt hatte. Sie hatte ihn allerdings niemals anderes als aufrichtige Verehrung und Hochachtung des teuren Verstorbenen gelehrt. Aber war er nicht der Ungläubige, der Mann der Verneinung, der die Engel weinen machte, der Helfershelfer der Ruchlosigkeit, die sich gegen Gottes Werk richtete? So war er eine düstere Schreckenserscheinung gewesen, ein Verdammter, der als Gespenst im Hause umging, während er jetzt zum hellen, freundlichen Licht wurde, als ein von heißem Verlangen nach Wahrheit beseelter Arbeiter, der niemals anderes erstrebt hatte als die Liebe und das Glück aller. Doktor Chassaigne, ein Sohn der Pyrenäen, geboren in einem Dorfe, wo man noch an Hexen glaubte, würde sich noch eher der Religion zugewendet haben, wenn er auch seit den vierzig Jahren, die er in Paris lebte, seinen Fuß niemals in eine Kirche gesetzt hätte. Er war der felsenfesten Überzeugung, daß Michel Froment, wenn es irgendwo einen Himmel gäbe, sich dort befände und auf einem Throne zur Rechten des lieben Gottes säße.

Und Pierre durchlebte noch einmal in wenigen Minuten die entsetzlichen zwei Monate, in deren Verlauf ihn eine schwere Krisis heimgesucht hatte, nicht etwa, weil er in der Bibliothek Bücher antireligiösen Inhalts gefunden hatte, sondern es war nach und nach ganz gegen seinen Willen in ihm eine wissenschaftliche Klarheit aufgestiegen, ein Ganzes von bewiesenen Phänomenen hatte sich gebildet und die Dogmen zerstört und in ihm nichts von all den Dingen übriggelassen, an die er glauben sollte. Er kam sich nach der Krankheit wie neugeboren vor, es schien, als ob er noch einmal anfinge zu leben und zu lernen in dem angenehmen körperlichen Befinden des Wiedergenesenden, in jenem noch nicht ganz gekräftigten Zustande, der seinem Verstande eine durchdringende Klarheit verlieh. Im Seminar hatte er unter dem Einflusse seiner Lehrer seinen nachgrübelnden Geist, seinen unstillbaren Wissensdurst im Zaume gehalten. Was man ihn lehrte, das überraschte ihn wohl. Aber er kam doch dahin, seine Vernunft der Lehre zum Opfer zu bringen. In jener Zeit wurde der mühsame Bau des Dogmas durch eine Empörung der siegenden Vernunft gestürzt, die ihr Recht forderte und nicht mehr zum Schweigen gebracht werden konnte. Die Wahrheit brach sich mit so unwiderstehlicher Gewalt Bahn, daß er einsah, er würde niemals wieder den Irrtum in seinem Geiste von neuem zur Herrschaft bringen können. Es war der vollständige Zusammenbruch des Glaubens. Wenn er es vermocht hatte, das Fleisch in sich zu töten, indem er auf den Traum seiner Jugend verzichtete, wenn er so sehr Herr über seine Sinnlichkeit war, daß er aufgehört hatte, Mann zu sein, so wußte er jetzt doch, daß ihm der Verzicht auf seine Vernunft unmöglich sein würde. Und er täuschte sich nicht. Es war sein Vater, der in seinem Innern wieder erstand, und der schließlich in diesem ererbten Dualismus über die Mutter den Sieg davontrug. Sein langes Gesicht mit der hohen Stirn seinen sich noch verlängert zu haben, während das feine Kinn und der weiche Mund immer mehr zurücktraten. Und doch empfand er Trauer darüber, daß er nicht mehr glaubte, und das heiße Verlangen, noch glauben zu können, überwältigte ihn immer wieder, wenn sein gutes Herz, sein Bedürfnis nach Liebe wach wurde in stillen Dämmerstunden. Dann mußte erst die Lampe kommen, er mußte wieder Helligkeit in und um sich sehen, um die Energie und die Ruhe seiner Vernunft wiederzufinden, die Stärke des Märtyrers, den Willen, alles für den Frieden seines Gewissens zu opfern.

Schließlich hatte sich die Krisis gelöst. Er war Priester und glaubte nicht mehr. Wie ein unendlicher Abgrund tat sich diese Erkenntnis vor ihm auf. Das war das Ende seines Lebens, der Zusammenbruch von allem. Was sollte er tun? Gebot ihm nicht die Ehrlichkeit, die Soutane von sich zu werfen und wieder in die Welt zurückzukehren? Aber er hatte schon genug abtrünnige Priester gesehen, und hatte sie verachtet. Ein verheirateter Priester erfüllte ihn mit Abscheu. Das war ohne Zweifel ein Überbleibsel seiner langen religiösen Erziehung. Er hielt noch fest an der Unverletzlichkeit des Priestertums, an dem Gedanken, daß der, der sich Gott geweiht hatte, sich nicht wieder frei machen könnte. Vielleicht hielt er sich auch schon für zu sehr gekennzeichnet, für so verschieden von den anderen Menschen, daß er fürchten mußte, von ihnen als ein Fremder in ihrer eigenen Welt angesehen zu werden. Da man ihn seiner Männlichkeit beraubt hatte, wollte er auch in seinem schmerzensreichen Stolze für sich bleiben. Und nach langen qual und angstvollen Tagen, nach unaufhörlich wiederkehrenden Kämpfen, in denen sich sein Verlangen nach Glück und die Kraft seiner wiedergewonnenen Gesundheit stritten, faßte er den heroischen Entschluß, Priester zu bleiben, und zwar ein ehrbarer Priester. Da er sein Fleisch ertötet hatte, wenn es ihm auch nicht gelungen war, seine Vernunft zum Schweigen zu bringen, so war er sicher, daß er das Gelübde der Keuschheit halten würde. Und das Leben, das er lebte, war nach seiner festen Überzeugung ein reines und rechtschaffenes. Was bedeutete es für ihn, daß er zu leiden hatte, wenn nur niemand auf der Welt den erloschenen Vulkan in seinem Herzen ahnte, die Nichtigkeit seines Glaubens, die entsetzliche Lüge, an der er sich zu Tode quälte! Sein fester Halt würde seine Unbescholtenheit sein, er würde sein Priesteramt als ehrbarer Mann ausüben, ohne eines der Gelübde zu brechen, die er getan hatte. Er wollte fortfahren, nach den Kirchenvorschriften seine Pflichten als Diener Gottes auszuüben. Er würde predigen, er würde am Altar das Hochamt abhalten, er würde an die Gläubigen das Lebensbrot austeilen. Wer würde wagen, es ihm als Verbrechen anzurechnen, daß er den Glauben verloren hatte? Was konnte man von ihm denn noch mehr verlangen? Hatte er nicht sein Leben seinem Gelübde geweiht, hatte er sein Priestertum nicht hochgehalten, hatte er nicht alle Werke der christlichen Liebe ausgeübt, ohne jede Hoffnung auf eine zukünftige Belohnung? So hatte er sich schließlich beruhigt, stolz und mit hocherhobenem Haupte, in der trostlosen Größe eines Priesters durch die Welt zu gehen, der nicht mehr glaubt und doch fortfährt, über den Glauben der anderen zu wachen. Er stand gewiß nicht allein, er wußte, daß er Brüder hatte, Priester, die dem Zweifel verfallen waren, die aber dennoch am Altare blieben, wie Soldaten ohne Vaterland, und die den Mut hatten, den frommen Betrug auf die kniende Menge herabstrahlen zu lassen.

Seit seiner vollständigen Genesung hatte Pierre sein Amt an der kleinen Kirche zu Neuilly wieder übernommen. Jeden Morgen las er seine Messe. Er war fest entschlossen, jede andere Stellung, jede Beförderung abzulehnen. So gingen Monate, Jahre dahin. Hartnäckig blieb er bei seinem Vorsatze, nur ein gewöhnlicher Priester zu sein, der unbekannteste und niedrigste der Priester, die man in einem Kirchspiel duldet, die erscheinen und wieder verschwinden, wenn sie ihre Pflicht erfüllt haben. Jede höhere Würde wäre ihm nur wie eine Verschlimmerung seiner Lage vorgekommen, wie ein Raub, den er an Würdigeren beging. Er mußte sich wehren gegen die Anerbieten, denn seine Verdienste konnten nicht unbeachtet bleiben. Man wunderte sich im erzbischöflichen Palaste über diese eigensinnige Bescheidenheit. Man wollte die Kraft, die man in ihm ahnte, nutzbar machen. Nur zuweilen empfand er es mit bitterem Bedauern, daß er sich nicht nützlich machte, daß er nicht an einem großen Werke arbeitete, an der Wiederherstellung des Friedens auf der Erde, an dem Heile und dem Glücke aller. Glücklicherweise waren seine Tage frei, und er tröstete sich durch wahre Arbeitswut. Alle Bücher der Bibliothek seines Vaters wurden verschlungen. Dann nahm er seine Studien und Untersuchungen wieder vor und beschäftigte sich eifrig mit der Geschichte der Völker, von dem Wunsche erfüllt, dem sozialen und religiösen Übel auf den Grund zu kommen. Er wollte sich Klarheit verschaffen, ob denn wirklich gar keine Hilfe vorhanden wäre.

Eines Morgens hatte Pierre, als er in einer der großen Schubladen kramte, die sich unten in den Bibliothekschränken befanden, ein Bündel Abhandlungen und Akten über die Erscheinungen von Lourdes entdeckt. Es befanden sich darunter die vollständigen Dokumente, Abschriften der Verhöre der Bernadette, der behördlichen Protokolle, der Polizeiberichte und der ärztlichen Konsultationen, dazu Privatbriefe und vertrauliche Schreiben vom höchsten Interesse. Er war sehr erstaunt über diesen Fund und hatte den Doktor Chassaigne darüber befragt, der sich auch erinnerte, daß sein Freund, Michel Froment, sich leidenschaftlich mit dem Fall der Bernadette beschäftigt hatte. Er selbst, der aus einem in der Nachbarschaft von Lourdes gelegenen Dorfe stammte, hatte dem Chemiker einen Teil dieser Akten verschafft. Pierre hatte sich einen Monat lang leidenschaftlich mit der Sache beschäftigt, von der reinen Gestalt der Seherin wunderbar angezogen, zugleich aber auch empört über das, was später geschehen war, über den rohen Fetischismus, über den jammervollen Aberglauben, über die triumphierende Geschäftstüchtigkeit. In seinem Ringen mit dem Unglauben schien diese Geschichte nur dazu zu dienen, die Niederlage des Glaubens zu beschleunigen. Zugleich aber war sie auch derart, daß sie seine Wißbegierde reizte. Er hätte gern eine Untersuchung angestellt, die wissenschaftliche Wahrheit festgestellt und dem reinen Christentum den Dienst erwiesen, es von dieser Schlacke zu befreien. Er hatte sein Studium aufgeben müssen, da er vor einer Reise nach der Grotte zurückschreckte und die übergroßen Schwierigkeiten erkannte, die ihm die Beschaffung der ihm fehlenden Aufschlüsse machte. So lebte in ihm nur seine zärtliche Liebe für Bernadette fort, an die er nie ohne eine wunderbar rührende Empfindung und ohne unendliches Mitleid denken konnte.

Die Tage schwanden dahin. Pierres Leben wurde immer einsamer. Doktor Chassaigne war plötzlich nach den Pyrenäen gereist. Er hatte seine Praxis aufgegeben und seine kranke Frau nach Cauterets gebracht, die, wie er und seine Tochter mit Bekümmernis sahen, täglich mehr und mehr dahinschwand. Seit dieser Zeit war es in dem kleinen Haus in Neuilly ganz einsam geworden. Pierre hatte keine andere Zerstreuung als die Besuche, die er von Zeit zu Zeit bei Guersaints machte. Sie waren schon lange aus dem Nachbarhaus fortgezogen und hatten sich in einer elenden Straße des Stadtviertels in einer kleinen Wohnung eingemietet. Die Erinnerung seines ersten Besuches dort lebte noch so in ihm, daß er jedesmal einen Stich in seinem Herzen verspürte, wenn er sich seine Aufregung beim Anblick der armen Marie wieder ins Gedächtnis zurückrief.

Er erwachte aus seinen Träumereien, sah sich um und bemerkte Marie ausgestreckt auf der Bank liegen, so, wie er sie damals wiedergefunden hatte, gefesselt an ihren einer Dachrinne ähnlichen Sarg, an dem man Räder anbringen konnte, um sie fortzubewegen. Sie, die einst übersprudelte, immer bereit, zu lachen und zu springen, litt unter der Untätigkeit und dem erzwungenen Stilliegen. Nur ihre Haare hatten sich erhalten. Sie umhüllten sie wie ein goldener Mantel. Sie selbst war so abgemagert, daß sie kleiner geworden zu sein und die Finger eines Kindes wiederbekommen zu haben schien. Was aber in diesem bleichen Gesichte am schmerzlichsten berührte, das waren die leeren, starren Blicke, die nichts sahen, die einen Ausdruck des vollständigen Aufgehens in ihrer Krankheit hatten. Dennoch bemerkte sie, daß er sie ansah, und wollte ihm zulächeln. Nur Klagelaute entschlüpften den Lippen dieses armen, gelähmten Wesens, das überzeugt war, es würde vor dem Wunder sterben! Er war tief erschüttert. Er hörte nur noch sie, er sah nur noch sie unter allen den anderen Kranken, die der Wagen beherbergte, gleichsam als ob sie all die anderen Qualen in dem Todeskampf ihrer Schönheit, ihres Frohsinns und ihrer Jugend zusammenfaßte.

Allmählich kehrte Pierre, ohne daß seine Augen Marie verließen, in die Vergangenheit zurück. Er durchkostete noch einmal die Stunden, die er in ihrer Nähe verlebt hatte, wenn er in die armselige Wohnung hinaufgestiegen war, um ihr Gesellschaft zu leisten. Herr von Guersaint hatte sich vollständig ruiniert, da er sich in den Kopf gesetzt hatte, die Fabrikation von Heiligenbildern zu verbessern, deren Mittelmäßigkeit ihn ärgerte. Sein letztes Vermögen hatte der Bankerott eines Farbendruckgeschäftes verschlungen. In seiner Zerstreutheit und seinem Mangel an Umsicht bemerkte er gar nichts von der peinlichen Lage, die sich immer mehr verschlimmerte. In seiner kindlichen Liebe verließ er sich ganz auf den lieben Gott und war schon wieder mit dem Problem der Lenkbarkeit der Luftballons beschäftigt, ohne zu sehen, welch übermenschliche Anstrengungen seine ältere Tochter Blanche machen mußte, um wenigstens den Lebensunterhalt für die kleine Familie zu erwerben, für ihre beiden Kinder, wie sie ihren Vater und ihre Schwester nannte. Blanche schaffte das nötige Geld, das die Pflege Mariens erforderte, herbei, indem sie vom Morgen bis zum Abend in ganz Paris bei Hitze und Regen umherlief und französischen Sprachunterricht und Klavierstunden erteilte. Marie war oft der Verzweiflung nahe, brach in Tränen aus und klagte sich an, daß sie die Hauptursache des Zusammenbruchs der Familie sei, weil man ihretwegen schon seit so vielen Jahren die Ärzte bezahlen mußte, und sie in alle nur denkbaren Bäder gebracht hätte. Jetzt hatten die Ärzte sie nach zehnjähriger Behandlung aufgegeben. Die einen meinten, daß die großen Sehnen zerrissen wären, die anderen glaubten an das Vorhandensein einer Geschwulst, während die dritten sagten, die Lähmung käme vom Rückenmark. Und da sie jede genauere Untersuchung aus jungfräulichem Schamgefühl ablehnte und die Ärzte keine eingehenderen Fragen zu stellen wagten, so hielt jeder an seiner Erklärung fest, daß sie nicht wieder geheilt werden könne. Sie rechnete auf nichts anderes als auf die Hilfe Gottes, da sie seit ihrem Kranksein nur noch Tröstung in ihrem inbrünstigen Glauben fand. Ihr größter Kummer war, daß sie nicht in die Kirche gehen konnte, und sie las die Messe an jedem Morgen.

In diesem Augenblicke stieg Pierre eine neue Erinnerung auf. Es war an einem Abend, bevor man noch die Lampe angezündet hatte. Er saß bei ihr in der Dunkelheit. Plötzlich sagte ihm Marie, daß sie nach Lourdes gehen wollte und daß sie überzeugt wäre, sie würde von dort geheilt zurückkehren. Er hatte bei ihren Worten ein heftiges Unbehagen empfunden und, sich völlig vergessend, gerufen, es wäre eine Torheit, an dergleichen fromme Märchen zu glauben. Niemals hatte er mit ihr über Religion gesprochen. Er hatte sich stets geweigert, ihre Beichte zu hören und sie in den großen und kleinen Gewissensnöten, die sie als Gläubige hatte, auf den rechten Weg zu leiten. Scham und Mitleid hielten ihn davon ab. Er würde schwer darunter gelitten haben, wenn er sie hätte belügen müssen, und andererseits würde er sich für einen Verbrecher angesehen haben, wenn er auch nur mit einem Hauche den großen, reinen Glauben getrübt hätte, der sie stark gegen das Leiden machte. Daher hatte er auch den Ausruf bereut, den er nicht hatte zurückhalten können. Da hatte er gefühlt, wie die kleine, kalte Hand der Kranken die seinige ergriff; und ermutigt durch die Dunkelheit, hatte sie gewagt, mit sanfter, stockender Stimme ihm zu sagen, daß sie sein Geheimnis, daß sie sein Unglück kenne, das für einen Priester so entsetzliche Elend, nicht mehr zu glauben. Bei dem darauffolgenden Gespräche hatte er ihr ganz gegen seinen Willen alles gesagt. Sie war ihm bis auf den Grund des Gewissens gedrungen mit dem feinen Erkennungsvermögen der leidenden Freundin. Sie geriet darüber seinetwegen in furchtbare Unruhe und beklagte ihn wegen seiner tödlichen seelischen Krankheit noch mehr als sich selbst. Als er dann, tief ergriffen, nichts darauf zu antworten wußte und durch sein Schweigen die Wahrheit eingestand, hatte sie wieder angefangen, von Lourdes zu sprechen, und hinzugefügt, es sei ihr inniger Wunsch, daß auch er sich der Heiligen Jungfrau anvertrauen und sie anflehen sollte, ihm den Glauben wiederzugeben. Von diesem Abend an hatte sie nicht mehr aufgehört, davon zu reden. Aber die Geldfrage hielt sie in Paris fest. Sie hatte es nicht einmal gewagt, mit ihrer Schwester darüber zu sprechen. Zwei Monate vergingen. Sie wurde von Tag zu Tag schwächer und erschöpfte sich in sehnsüchtigen Träumen, die Augen dem himmlischen Glänze der Wundergrotte zugewendet.

Pierre hatte damals schlimme Tage verbracht. Zuerst hatte er es Marie rundweg abgeschlagen, sie zu begleiten. Dann wurde sein Wille durch den Gedanken erschüttert, daß er, wenn er sich zur Reise entschlösse, die Untersuchungen über Bernadette wieder aufnehmen und fördern könne. Und endlich hatte er gefühlt, wie eine wonnige Empfindung ihn durchdrang, eine uneingestandene Hoffnung, daß Marie vielleicht recht hätte und die Heilige Jungfrau sich seiner in Gnaden annehmen und ihm den Glauben wiedergeben würde, den Glauben des Kindes, das liebt und nicht prüft. Oh, wenn er doch von ganzer Seele glauben, wenn er doch in dem Glauben versinken könnte! Es gab kein anderes Glück. Er trachtete nach dem Glauben mit der ganzen Freude seiner Jugend, mit der ganzen Liebe, die er für seine Mutter empfunden hatte, mit all dem brennenden Verlangen, das ihn erfüllte, der Qual des Erkennens und Wissens zu entgehen und für immer im Schoße der göttlichen Unwissenheit einzuschlummern. Es war köstlich, nichts mehr zu sein als ein willenloses Ding in den Händen Gottes.

Acht Tage später war die Reise nach Lourdes beschlossen. Pierre hatte eine letzte Besprechung der Ärzte gefordert, um zu erfahren, ob Marie den Anstrengungen der Reise wirklich gewachsen sei. Zwei der Ärzte, die die Kranke früher behandelt hatten, und von denen der eine an ein Zerreißen der großen Sehnen glaubte, der andere aber es für eine Lähmung des Rückenmarkes ansah, hatten sich schließlich dahin geeinigt, daß es Lähmung des Rückenmarkes sei in Verbindung mit Verletzungen, die sich vielleicht an den großen Sehnen befänden. Der Fall schien ihnen so klar, daß sie kein Bedenken trügen, jeder für sich einen Krankenschein auszustellen, der bei beiden beinahe gleich lautete. Sie hielten die Reise für möglich, wenn sie auch der Kranken heftige Schmerzen verursachen würde. Das hatte Pierre bestimmt, denn er hatte gefunden, daß die beiden Herren sehr klug und eifrig bestrebt gewesen waren, die Wahrheit zu ergründen. Eine unklare Erinnerung blieb ihm an den dritten Arzt, de Beauclair mit Namen, einen jungen Mann mit regem Verstande, noch wenig bekannt und, wie man sagte, etwas wunderlich. Nachdem er Marie lange betrachtet, hatte er sich genau nach ihren Vorfahren erkundigt und mit lebhaftem Interesse dem zugehört, was man ihm von Herrn von Guersaint erzählte, dem Architekten und verunglückten Erfinder mit dem schwachen Charakter und der üppig wuchernden Phantasie; dann hatte er den tatsächlichen Befund der Krankheit geprüft und dabei in diskreter Weise festgestellt, daß der Schmerz sich im linken Eierstock lokalisiert hatte, und daß dieser Schmerz, wenn man dort drückte, wie eine dicke Masse, die sie zu ersticken drohte, bis in ihre Kehle hinaufstieg. Auf die Lähmung der Beine schien er gar keinen Wert zu legen. Dann hatte er auf eine Frage sich sogar dahin geäußert, daß man sie nach Lourdes bringen müßte, da sie dort sicherlich geheilt werden würde, wenn sie davon überzeugt sei. Lächelnd fügte er hinzu, daß der Glaube genüge, daß zwei von seinen Patienten, sehr fromme Damen, von ihm im vorigen Jahre hingeschickt und strahlend von Gesundheit wieder zurückgekommen wären. Er gab sogar an, wie sich das Wunder vollziehen würde: beim Erwachen würde eine furchtbare Aufregung die Kranke ergreifen, während das Übel, jener quälende Druck, der sie zu ersticken drohte, zum letztenmal in ihr aufsteigen und verschwinden würde, als ob er durch den Mund entschlüpft wäre. Er schlug es rundweg ab, einen Krankheitsschein auszustellen. Seine beiden Kollegen behandelten ihn sehr kühl wie einen Kurpfuscher. Pierre hatte, wenn auch nur unklar, einige Stellen aus dem von Beauclair abgegebenen Gutachten behalten: eine Verrenkung des Organs mit leichten Rissen in den Sehnen infolge des Sturzes vom Pferde, dann eine langsame Wiederherstellung des natürlichen anatomischen Zustandes. Die Kranke habe jedoch stets unter dem nervösen Drucke der ersten Furcht gelebt. Ihre ganze Aufmerksamkeit sei auf die verletzte Stelle gerichtet; sie besitze gar nicht mehr die Fähigkeit, neue Vorstellungen zu bilden, es sei denn, daß dies durch die plötzliche Einwirkung einer heftigen Erregung geschähe. Allein der Gedanke, daß Mariens Leiden nur ein eingebildetes sein sollte, daß die entsetzlichen Schmerzen, die sie quälten, von einer längst geheilten Verletzung herrühren sollten, war Pierre so unglaublich vorgekommen, daß er sich dabei gar nicht weiter aufgehalten hatte. Er war bloß darüber glücklich, daß die drei Ärzte einmütig ihre Einwilligung zur Reise nach Lourdes erteilten. Es genügte ihm zu wissen, daß sie geheilt werden konnte. Er hätte sie bis an das Ende der Welt begleitet.

Ach, jene letzten Tage in Paris, in welcher Aufregung hatte er sie verbracht! Der nationale Pilgerzug war zum Aufbruch bereit. Er war auf den Gedanken verfallen, Marie in das Hospital aufnehmen zu lassen, um die großen Kosten zu ersparen. Dann hatte er seinen eigenen Eintritt in die Hospitalität von NotreDame de Salut durchgesetzt. Herr von Guersaint brannte vor Verlangen, die Pyrenäen kennenzulernen. Im übrigen bekümmerte er sich um gar nichts, nahm es ruhig an, daß der junge Priester für ihn die Reise bezahlte und sich seiner wie eines Kindes annahm. Seine Tochter Blanche hatte ihm noch im letzten Augenblicke ein Zwanzigfrankstück zugesteckt. Er hielt sich daher für reich. Die arme, heldenmütige Blanche besaß einen verborgenen Schatz, fünfzig Frank Ersparnisse, die man hatte annehmen müssen, denn auch sie wollte etwas zur Heilung ihrer Schwester beitragen. Sie konnte nicht mitreisen, da sie durch ihre Stunden in Paris zurückgehalten war, indes die Ihrigen in weiter Ferne in dem Zauberbanne der Wundergrotte auf den Knien lagen. So war man abgefahren und rollte nun dahin, rollte rastlos immer weiter.

Auf der Station Châtellerault riß ein lautes Stimmengewirr Pierre aus seinen Träumen. Was gab es denn? War man schon in Poitiers angekommen? Aber es war ja kaum Mittag, und Schwester Hyacinthe hatte das Angelus beten und dreimal drei Ave wiederholen lassen. Die Stimmen verhallten, ein neuer Gesang hob an und wurde nach und nach zu einem Klageliede. Noch fünfundzwanzig lange Minuten dauerte es, ehe man nach Poitiers kam. Dort sollte ein halbstündiger Aufenthalt den Leidenden Erleichterung verschaffen. Alle befanden sich in sehr trauriger Verfassung in dem verpesteten, glühendheißen Wagen. Tränen rollten über die Wangen der Frau Vincent, ein leiser Fluch war dem sonst so geduldigen Herrn Sabathier entschlüpft, während der Bruder Isidor, die Grivotte und Frau Vêtu gar nicht mehr zu leben schienen und Trümmerstücken glichen, die von der Flut mit fortgerissen wurden. Marie hatte ihre Augen geschlossen und gab keine Antwort mehr; sie wollte sie nicht wieder öffnen, da der entsetzliche Anblick des Gesichtes der Elise Rouquet, der für, sie das Bild des Todes war, sie unablässig verfolgte. Und während der Zug, der diese menschliche Verzweiflung mit sich führte, unter dem gewitterschwangeren Himmel dahinbrausend seine Geschwindigkeit vergrößerte, wurden alle in einen neuen Schrecken versetzt. Der Mann atmete nicht mehr, eine Stimme rief, er habe seinen Geist aufgegeben.

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