Kitabı oku: «Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika»

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Antonello da Messina Ritratto d’Uomo (zwischen 1465 und 1476), Museo Mandralisca, Cefalù, Sizilien.

Enrico Deaglio

Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika

Essay

Aus dem Italienischen von

Klaudia Ruschkowski


Für Suzanne und Albert Paxton

Inhalt

1Vor dem Lynchkommando

2Das Gemälde von Antonello

3Der sechste Mann

4Die Nachricht ging durch die Zeitungen …

5Sklaven, Generäle, Land, Zucker und Baumwolle

6Im Schädel der Dagos

7Die Geburt einer »Rasse«

8Seltsame Früchte

9Inspektionen und damit verbundene Handlungen

10Kreuzabnahme

11Eine Mission im Auftrag des Königs

12Epiloge, oftmals unerwartet

Thanks to alla frienda

Statt einer Bildlegende

1
Vor dem Lynchkommando

Die Schlinge lag bereits um Frank Defattas Hals, und sie hatten ihm auch eine Zigarre in den Mund gesteckt. Er wandte sich an die Menge und schrie in dem gebrochenen Englisch der Dagos:

»I liva here sixa years. I knowa you all. You alla my frienda.« Mit einem schroffen Ruck zogen sie ihn in die Höhe, das Seil scharrte über die Rinde der Pappel, und Frank hörte auf zu schreien. Die Zigarre fiel aus seinem Mund, und er begann zu husten. Während dieser wenigen Sekunden glaubte er jedoch noch immer, dass sie ihn herunterlassen würden: Er kannte sie, jeden Einzelnen von ihnen, seit sechs Jahren waren sie alle seine Freunde.

Er dachte nicht, dass seine Geschichte hier schon zu Ende wäre, er glaubte vielmehr, dass sie ihm nur Angst einjagen wollten, ihm und seinen Brüdern, dass er am Leben bliebe, um die Sache viele Jahre später zum Besten zu geben: Wie sie ihn unerwartet vor dieses Lynchkommando gestellt hatten. Er hätte nicht von seinem Vater angefangen, von der Kälte und den Zigeunern. Nein, er hätte erzählt, wie die Welt von oben aussieht, so, wie Christus sie vom Kreuz aus sah. Man brauchte nur ein Stückchen hinaufzuklettern, und schon wurden die Menschen so klein, während sich andererseits die Erde in ihrer ganzen Größe auftat, die endlose Ebene, die gelbe Biegung des großen Flusses und zugleich die Distanz von der Welt, von zu Hause.

Er hätte erzählt, dass er sich in einem Traum in dem großen alten Dom seines Städtchens gesehen hatte, als Kind an der Hand seines Vaters Nicolò, unter dem riesigen Antlitz des Christus Pantokrator, zusammengesetzt aus Millionen von Mosaiksteinchen, kleine goldene Punkte, die Kinder und Seeleute bei Unwetter beschützen. Und es schien ihm jetzt, als hätte die segnende Hand dieses Christus zwischen Zeige- und Mittelfinger schon immer eine Zigarre gehalten.

Doch die da unten lockerten das Seil nicht, im Gegenteil, sie zogen es an. Und so starb Frank Defatta unter Husten, während ihm die Augäpfel aus den Höhlen quollen. Ein Stück entfernt hatten sie gerade auch seine Brüder aufgehängt, und jetzt kamen noch die beiden letzten an die Reihe. Die große Pappel diente in den vergangenen Jahren immer demselben Zweck. Gut ein Dutzend Schwarze – Aufständische, Vergewaltiger, Diebe – hatten dort ihr Ende gefunden, und vielleicht waren die Brüder Defatta unter denen gewesen, die diese Szenen von unten beobachtet hatten. Jetzt also hatten sie fünf Dagos aufgehängt. Dagos, eine abwertende Bezeichnung für die Sizilianer, die als eine besondere Art von Schwarzen galten. Damals wie heute machen die Schwarzen etwa achtzig Prozent der Bevölkerung von Madison Parish* aus.

Es herrschte eine große Hitze an jenem Sommerabend des 20. Juli 1899. Die Nachrichten wurden mit vielen Stunden Verspätung in den Telegrafen gehämmert, nämlich erst, nachdem man dem Telegrafisten die Augenbinde abgenommen und ihn losgebunden hatte. Die Mitteilung lautete, dass in der Kleinstadt Tallulah, dem Verwaltungssitz von Madison Parish im nordöstlichsten Winkel des Bundesstaates Louisiana, eine »geordnete und schweigsame, aber höchst entschlossene« Menschenmenge – unter Berufung auf den Brauch der Lynchjustiz – dafür gesorgt hatte, dass fünf dort ansässige Italiener den Tod durch Erhängen fanden.

Ihre Namen:

Giuseppe (Joe) Defatta, 34 Jahre

Francesco (Frank) Defatta, 30 Jahre

Pasquale (Charles) Defatta, 54 Jahre

Rosario Fiduccia, genannt Sy Defichi, 37 Jahre

Giovanni Cirami, genannt John Cerano

oder Cyrano, 23 Jahre.

Die drei Defattas waren Brüder. Und alle fünf stammten aus der sizilianischen Ortschaft Cefalù, handelten mit Obst und Gemüse, besaßen zwei Geschäfte in Tallulah und Karren für den Straßenverkauf.

Die Gründe für das kollektive Lynchen erwiesen sich als dürftig, auf jeden Fall als unglaublich.

Begonnen hatte alles mit einer Ziege. Sie gehörte einem der Brüder Defatta und fraß wie immer das Gras auf der Wiese von Doktor J. Ford Hodge, dem Amtsarzt. Der hatte sich mehrmals schon beschwert, aber nie Gehör gefunden, und die Ziege, als sie erneut auf seinem Grundstück aufgetaucht war, mit einem Schuss aus seiner Pistole getötet. Die Gruppe der Sizilianer hatte daraufhin Rache geschworen, einer von ihnen hatte auf Doktor Hodge geschossen und ihn ernstlich verletzt. So erklärte sich die Reaktion der Bürgerschaft, etwa zweihundert Personen, die eine Menschenjagd anzettelten. Zwei der Gejagten wurden in der Nähe des Ortes gestellt, wo es zum Anschlag auf den Doktor gekommen war, die anderen drei etwas weiter entfernt. Die fünf, wegen ihres gewaltbereiten und angriffslustigen Verhaltens bereits einschlägig in der Gemeinde bekannt, wurden des Komplotts zur Ermordung des Doktors und in diesem Zusammenhang der Errichtung eines Terrorsystems in Tallulah für schuldig befunden. Und dann gehängt. Aufgrund der herrschenden Dunkelheit hatte sich weder der Sheriff noch sonst jemand in der Lage gesehen, auch nur einen der an der Lynchaktion Beteiligten zu identifizieren. Eine unmittelbar einberufene Grand Jury* erklärte, dass keiner der Bürger von Tallulah wegen dieser Angelegenheit in irgendeiner Weise unter Anklage gestellt werden durfte.

Die Zeitungen sprachen dann noch von einem sechsten Italiener, auch er ein Sizilianer aus Cefalù, ein gewisser Giuseppe (Joe) Defina, ein Schwager der Defattas, der mit seinen beiden Söhnen im nahegelegenen Milliken’s Bend, am Westufer des Mississippi, eine Gemischtwarenhandlung betrieb. Die Menge hatte versucht, auch mit ihm abzurechnen, aber Joe Defina war es gelungen, über den Fluss zu fliehen.

Wie ich erfahren sollte, war die ganze Geschichte jedoch viel größer. Größer heißt schrecklicher, niederträchtiger, mysteriöser, aber auch abenteuerlicher und mit fast märchenhaften Zügen.

Für den Moment soll das genügen, denn ich will dem Leser erzählen, wie ich von der Sache erfahren habe und warum sie mich so gefesselt hat.

Der Anfang ist wirklich recht merkwürdig. Die Familie meiner Frau Cecile – väterlicherseits seit drei Generationen italoamerikanisch, mütterlicherseits franko-irisch – stammt aus Texarkana, einer Kleinstadt im Grenzgebiet zwischen Texas, Arkansas und Louisiana. Meine Schwägerin Suzanne, die älteste der drei Brunazzi-Schwestern – meine Frau ist die jüngste und Elizabeth die mittlere – ist mit Albert Paxton verheiratet, einem mittlerweile über neunzigjährigen Herrn, dem Ländereien in Tallulah, Louisiana, gehören. Auch heute noch betreiben Albert und Suzanne eine große Farm, wo über Jahrzehnte Baumwolle, Soja und Mais angebaut wurden, und züchten cutting horses. Diese Pferde erinnern an das Amerika der guten alten Zeit. Sie waren als Arbeitspferde darauf getrimmt, in den großen Rinderhaltungen kranke oder verletzte Tiere von einer ziehenden Herde zu trennen. Heutzutage werden die cutting horses für den Sport trainiert und bei den beliebten Westernspektakeln an etlichen Orten der Vereinigten Staaten eingesetzt. Ihre Fertigkeit, die sie in jahrelanger Zurichtung erworben haben, besteht darin, ein Kalb in Läufen von knapp einer Minute von der Herde zu trennen, ohne mit ihm in Berührung zu kommen oder es zu verletzen. Preisrichter beurteilen die Eleganz und das Wesen der Bewegungsabläufe von Pferd und Reiter. Dies ist ein Sport für Kenner und Gentlemen, bei dem die Wetteinsätze hoch sind und die guten Pferde sich als wahre Juwelen auf vier Beinen erweisen.

Meine Frau und ich fahren regelmäßig nach Tallulah, heute kaum mehr als ein Haufen heruntergekommener Häuser an den Bayous, den versumpften Seitenarmen und Gewässern rund um den Mississippi, den großen Fluss. Zur Zeit unserer Geschichte, vor allem aber kurz davor, war Tallulah ein Brennpunkt des beispiellosen Kampfes zwischen dem Süden und dem Norden, zwischen den Befürwortern der Sklaverei und den Abolitionisten. Über diese mit Baumwolle bepflanzten Weiten zog im wahrsten Sinn des Wortes die Weltgeschichte hinweg.

Heute kämpft Tallulah eher mit dem Problem, die Zeit totzuschlagen. Deshalb ging ich eines Tages, das ist schon eine ganze Weile her, zum kleinen Sitz des Ortsvereins, wo Tina Johnson, eine junge Mitarbeiterin, sich die schier übermenschliche Aufgabe gestellt hatte, den Tourismus nach Tallulah zu holen. Das gesamte Gebiet ist berühmt für seine Bären, und 1907 kam Teddy Roosevelt, der Präsident der Vereinigten Staaten, auf Einladung einiger befreundeter Großgrundbesitzer zu einem Jagdausflug just hierher. Und da geschah das berühmte Ereignis, das in die Geschichte einging. Roosevelt hatte sein Messer schon auf einen kleinen Bären angesetzt (damals war die Jagd eine ziemlich blutige Angelegenheit), doch in letzter Minute verschonte er ihn. Dieses glückliche Bärchen wurde dann auf den Namen Teddy Bear getauft. Der Teddybär eben, ohne den kein Kind der Welt mehr zu Bett geht, sein bester Freund, wenn es Fieber hat, wenn ihm irgendein Missgeschick zugestoßen ist. Dieser Teddybär also erblickte in Tallulah das Licht der Welt. Und so entstand der Slogan: »Besucht Tallulah, die Stadt von Teddybär.« (In Wahrheit, das entdeckte ich später, blieb Tina bei dieser Geschichte bewusst etwas vage, denn Roosevelt war zwar zur Jagd nach Tallulah gekommen, die Episode mit dem Bären aber, das steht inzwischen fest, ereignete sich im benachbarten Bundesstaat Mississippi.)

Während wir uns so unterhielten, ließ Tina fallen: »Aber wissen Sie denn, dass hier vor sehr langer Zeit fünf Italiener gelyncht wurden?« Sie verwahrte sogar einige Zeitungsausschnitte über den Fall.

Beim Abendessen berichtete ich davon, und Suzanne wurde regelrecht traurig. »Oh, sie haben es dir tatsächlich gesagt …« Sie hatte ihren Freundinnen im Country Club, mit denen sie jeden Mittwoch Bridge spielte, erzählt, dass ihre Schwester einen Italiener heiraten und mit ihm nach Tallulah kommen würde. Und natürlich konnten die Freundinnen sich die Bemerkung nicht verkneifen: »Hoffentlich bekommt dein Schwager nichts von den fünf gelynchten Italienern mit …«

Aber die geschwätzige Tina hatte ihren Mund nicht halten können, und so habe ich von der Geschichte erfahren. Noch merkwürdiger war, dass ich in Tallulah verschiedenen Leuten begegnet bin, deren Familien ebenfalls aus Cefalù stammen. Allerdings waren sie erst lange nach den schrecklichen und mysteriösen Vorfällen von 1899 hierhergekommen.

Außer dem Ortsverein von Tina Johnson (das Büro ist mittlerweile geschlossen, sie selbst wohnt nicht mehr in Tallulah) gibt es noch einen anderen Ort, an dem lokales Erinnerungsgut bewahrt wird. In einem Museum, es besteht aus drei Räumen, hütet John Earl Martin – ein ehemaliger Kriegspilot, dem später die noch weitaus gefährlichere Aufgabe zuteilwurde, aus einer Flughöhe von zehn Metern über dem Boden chemische Düngemittel auszubringen – Fotografien und offizielle Dokumente des Städtchens. Er kannte die Geschichte. Sie hatte sich ganz in der Nähe ereignet. Vom Fenster aus zeigte er mir den Haken neben den Bahngleisen, an dem man damals die Ochsenviertel trocknete (hier wurden die ersten zwei Sizilianer erhängt), und den Ort, an dem die riesige, vor Zeiten bereits gefällte Pappel gestanden hatte, die den anderen dreien zum natürlichen Galgen geworden war.

Mr. Martin zog also aus einem der Schubfächer seines Archivs eine blaue Mappe mit der Aufschrift Tallulah lynchings, darin ein Zeitungsausschnitt und ein verschlossener Umschlag. Im Umschlag, den wir wie Komplizen öffneten, steckte eine Diskette. Leider war sie so vorsintflutlich, dass wir nie mehr erfahren werden, was darauf gespeichert war. Der Zeitungsausschnitt hingegen erwies sich als aufschlussreich. Es handelte sich um einen Leitartikel der Wochenzeitung Madison Journal von 1974, verfasst von deren Herausgeber Carroll Regan, einem bekannten Lokaljournalisten, der leider bereits seit vielen Jahren tot ist.

Der Artikel war mit Das Skelett von Tallulah überschrieben und enthielt folgenden Absatz:

Die Bürger von Vicksburg, denen das Gesetz lieb und teuer ist, reagierten schockiert auf das brutale Vergehen, das sich im Nachbarort ereignet hat. So hat die italo-amerikanische Gemeinschaft von Vicksburg gefordert, die sterblichen Überreste ihrer ermordeten Landsleute zu exhumieren und nach Vicksburg zu überführen, um sie auf dem städtischen Friedhof beizusetzen. Als die Leichname eintrafen, gaben ihnen etwa dreißig italienischstämmige Vicksburger das Geleit bis zur Grabstätte. Dort bestattete man sie ohne religiöses Zeremoniell, da sie zwar Mitglieder der Kirche gewesen waren, aber »keine praktizierenden«.

Hier kam eine weitere Komponente der Geschichte ans Licht, über die damals keine einzige Zeitung berichtete. Die Leichen der fünf Bauern beziehungsweise Händler aus Cefalù waren demnach auf irgendeinem Acker verscharrt worden, anonym und würdelos. Heute weiß man, dass es Usus war, nach Lynchaktionen auf die hängenden Körper zu schießen, ihnen Finger und Nasen abzuschneiden, Fotografien von ihnen zu machen, die dann als Postkarten verschickt wurden. Nicht bekannt ist, ob das ganze Ritual auch den fünf Männern aus Cefalù zuteilwurde. Jedenfalls musste etwas Unvorhergesehenes eingetreten sein, wenn die Lynchknechte sich gezwungen sahen, zumindest eine gewisse Form von Pietät zu wahren.

Die sterblichen Überreste der Männer, die im Staat Louisiana getötet wurden, überquerten den Fluss, um im Staat Mississippi beigesetzt zu werden. Das Vicksburger Beerdigungsinstitut Fisher Funeral Home übernahm die Umbettung und das Begräbnis, der Ordensträger Natale (Nat) Piazza, Honorarkonsul des Königreichs Italien in Vicksburg und Besitzer eines stadtbekannten Hotels, trug die Kosten von gut einhundertsechzig Dollar.

Allmählich füllte sich die Szene mit Gestalten.

Und so war meine Neugier endgültig geweckt, und ich begann, Nachforschungen über diese groteske Geschichte anzustellen: Fünf unglückselige Sizilianer, zehntausend Kilometer von ihrem Heimatstädtchen entfernt, wegen einer ungehorsamen Ziege grausam ermordet. Ich musste einfach herausfinden, wie sie dort gelandet waren, dachte aber auch daran, ihr Ansehen wiederherzustellen oder zumindest ihre Version der Geschichte zu hören, auch wenn bis zum Zeitpunkt meiner Recherchen hundertfünfzehn Jahre vergangen sind und ihr Fall womöglich niemanden mehr interessiert.

Gegenwärtig gewinnen viele Elemente jener alten Geschichte erneut an Bedeutung.

Sizilien beispielsweise. Einst Reservoir von Auswanderern, ist es heute tragisches Einwanderungsziel von Arabern und Afrikanern, mit gesunkenen Booten und Leichen, die sich in Fischernetzen verstricken oder unter den Augen der Touristen an den Strand gespült werden.

Der totgeglaubte Rassismus ist lebendiger denn je. In Italien, wo übrigens sein erstes Winseln zu vernehmen war, findet er heute wieder eine breite Akzeptanz. Und mit Sicherheit erregt er kein Aufsehen mehr, zumal bekennende Rassisten in den Regierungskabinetten saßen, Politik machten und Gesetze und Verordnungen diktierten.

Die öffentlichen Hinrichtungen im Nahen Osten, regelrechte, immer raffiniertere Shows, sind die Spektakel, mit denen das Fernsehen die größten Einschaltquoten erzielt.

Je weiter ich mich in die tragische Odyssee der fünf Underdogs vertiefte, desto mehr musste ich über Pech oder Zufall als entscheidendes Moment im menschlichen Leben nachdenken: Hätte Joe Defatta doch nur seine Ziege angebunden, dann wäre es vielleicht nicht zu diesem Massenmord gekommen.

Bald begreift man jedoch, dass dem nicht so ist.

Als ich begann, ihre Geschichte zu erzählen, entdeckte ich, dass es damals einen kalten Wind gab, der diese Leute von Sizilien nach Amerika begleitete. Schlimme Ideen nahmen in jener Zeit Gestalt an, breiteten sich aus, organisierten sich, wurden mächtig und furchterregend.

* Ein Parish, wörtlich übersetzt »Gemeinde« oder »Pfarrgemeinde«, ist eine Verwaltungseinheit in englischsprachigen Ländern und findet sich wie hier auch als Namensbestandteil von Gebietsbezeichnungen. Es entspricht den Landkreisen oder Gemeinden in Deutschland. Der US-Bundesstaat Louisiana benutzt als einziger Bundesstaat für seine Landkreise durchgängig die Bezeichnung Parish anstelle des üblichen County. [Anm. d. Übers.]

* Nach US-amerikanischem Strafprozessrecht entscheidet eine aus 12 bis 23 Personen bestehende, nicht öffentlich tagende Grand Jury darüber, ob die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweise ausreichen, um eine Anklage zu rechtfertigen. [Anm. d. Übers.]

2
Das Gemälde von Antonello

Es existiert nur eine einzige Fotografie von Francesco (Frank) Defatta, die seinen Aufenthalt auf dieser Erde bezeugt. Der Bauer aus Cefalù, der »am düsteren Ende des sterbenden Jahrhunderts«, wie es in einem Revolutionslied heißt, in Tallulah gelyncht wurde, hatte sie in einem Fotoatelier in Vicksburg anfertigen lassen. Diese so bedeutende wie schöne Stadt, errichtet auf einer steil vorspringenden Anhöhe über dem Zusammenfluss von Mississippi und Yazoo, gilt wegen ihrer strategischen Bedeutung im Amerikanischen Bürgerkrieg als das »Gibraltar der Konföderierten«. Frank hatte auch seinen Bruder Joe und seinen Vetter Rosario Fiduccia mitgebracht. Die drei Dagos steckten in guten Anzügen, die ihnen der Fotograf zu diesem Anlass überlassen hatte: dunkle Jacke, weißes Hemd, breite Krawatte, Weste. Darüber gut sichtbar eine schwere goldene Kette, der Verweis auf die Uhr in der Westentasche. Wie jeder andere vor dem Objektiv, machen auch Defatta und Fiduccia einen steifen Eindruck. Joe sitzt halb auf der Armlehne eines Korbschaukelstuhls und hält einen Hut in der Hand. Fiduccia steht neben einer quadratischen Säule aus falschem Marmor, den Ellbogen aufgestützt.

Unsere drei hatten demzufolge ein paar Sprossen der sozialen Leiter erklommen: Sie waren zu businessmen geworden. Und zugleich genau das geblieben, was man sich unter einem Dago, einem Sizilianer also, vorstellte – sprich, wie die Berichte der populären Zeitungen und die gelehrten Messungen der Forscher übereinstimmend erklärten, die klassischen Exemplare einer »Rasse«, die nicht wirklich weiß, sondern von einer minderwertigen Farbe war. Ihre Hautfarbe resultierte, um es wissenschaftlicher auszudrücken, aus einer jahrhundertelangen Vermischung mit afrikanischem Blut. Das hatte bereits zu Zeiten Hannibals seinen Anfang genommen, sich still und leise fortgesetzt und schließlich gar für den Niedergang und Fall des Römischen Reiches gesorgt.

Etwa neun Jahre vor dem Lynchmord war in weiten Teilen Amerikas bereits eine Klassifizierung nach Rasse, Herkunft und Intelligenz verbreitet. Die Neue Welt rief Millionen von Menschen auf der Flucht vor Hunger, Ungerechtigkeit und Verfolgung. Aber es galt auf der Hut zu sein, wen man sich da ins Haus holte. Und im Fall von Louisiana handelte es sich um eine der turbulentesten Anlaufstellen.

Die Vorstellungen der Amerikaner erwiesen sich damals als recht konfus. Die Gründerväter beispielsweise waren so sehr auf Rom und das alte Griechenland fixiert, dass sie in allen ihren öffentlichen Gebäuden und Monumenten die Bögen und Säulen der antiken mediterranen Kultur kopierten. Dann allerdings begannen sie, Unterschiede zu machen. Der Senator von Louisiana, James Eustis, ein Politiker, der später als Botschafter nach Frankreich ging, brachte es 1890 in einer öffentlichen Rede folgendermaßen auf den Punkt:

Es ist völlig in Ordnung, Einwanderer aus Norditalien aufzunehmen. Stattdessen aber kommen alle Italiener, die es derzeit zu uns zieht, von der Stiefelspitze und dem Absatz der Halbinsel und aus Sizilien. In Norditalien, da sind sie wirklich Kelten, genau wie die Franzosen und die Iren, und in der Tat stammen sie in direkter Linie von den Lombarden ab. Die Sizilianer und Kalabresen dagegen sind ein buntes Gemisch von Nachkommen ehemaliger Piraten, Mauren und degenerierten lateinischen Rassen, die es nach dem Fall des Römischen Reiches umhergetrieben hat.

Betrachtet man die Fotografien der Defattas, ihre kurzgeschnittenen, vollen Haare, deren Ansatz tief in die Stirn reicht, die riesigen schwarzen Schnurrbärte, die dichten Augenbrauen, die quadratischen Gesichter, die ganz sicher dunkler sind als die eines Iren oder Deutschen, dann bemerkt man auch etwas in ihrem Blick. Joe und Frank Defatta sind keine Denker oder Melancholiker; ihnen haftet weder etwas Rebellisches noch Unterwürfiges an. In beider Blick liegt vielmehr etwas Verhaltenes, Beobachtendes. Dem Anschein nach sind sie sehr ernsthafte, gefasste junge Männer, beinahe haben sie etwas von Märtyrern. Aber es scheint, als sei diese übermäßige Strenge nur aufgesetzt, als könnte sie nur mit Mühe für den Moment der Aufnahme bewahrt werden. Ihr Mund ist schon bereit, sich zu einem Lächeln zu verziehen, die Augen sind kurz davor, sich unter großem Gelächter zu Schlitzen zu verengen.

Die fünf Gelynchten von Tallulah stammten alle aus der antiken Stadt Cefalù an der Nordküste Siziliens. Seit Urzeiten ist Cefalù bekannt wegen seines spektakulären Kalkfelsens am Meer und der byzantinisch-normannischen Basilika, mit deren Bau König Roger II. Mitte des zwölften Jahrhunderts beginnen ließ, als Dank für seine Errettung aus Seenot. Die bedeutende Hafenstadt Cefalù liegt an einer schwierigen, im Winter von heftigen Stürmen heimgesuchten Küste, zwischen Palermo und Termini Imerese im Westen, Milazzo und Messina im Osten. Gegenüber öffnet sich der Archipel der Äolischen Inseln, der seit der Antike Zentrum der Zivilisation und des Seehandels und der Hafen schlechthin zwischen Neapel, Sizilien und Malta ist. Seit zweitausend Jahren wird das Land hier kultiviert, werden Weizen, Oliven, Wein und vor allem Zitrusfrüchte angebaut. Die Araber brachten ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem mit, dem sich üppige Zitronenhaine verdanken. Zur Zeit unserer Geschichte verkehrte eine Eisenbahn nur wenige Meter vom Meer entfernt zwischen Messina und Palermo (sie fährt heute noch, allerdings recht langsam). Von den zwölftausend Einwohnern waren damals zehntausend vollständige Analphabeten.

Cefalù, diese Stadt mit dem sonderbaren Namen, berühmt für die Mosaiken im Dom, für ihre mittelalterlichen, mit Strandkieseln gepflasterten Gassen, zählt zu den Wahrzeichen Siziliens. Auch international gilt sie als eines der wichtigsten Symbole sizilianischer Identität, seit 1961 der Regisseur Pietro Germi in seinem hinreißenden Film Scheidung auf Italienisch die Figur des »Baron Cefalù« erfunden hat, gespielt vom jungen Marcello Mastroianni, der sich in seine sechzehnjährige Cousine Angela (Stefania Sandrelli) verliebt. Dieser Baron Cefalù ist ein adliger Habenichts, ein Faulpelz mit pechschwarzem pomadisiertem Haar und Oberlippenbart. Er heckt einen raffinierten Plan aus, seine Frau aus dem Weg zu schaffen, um endlich seine Cousine heiraten zu können. Fünfzehn Jahre später – Cefalù war bereits zu einem der wichtigsten touristischen Anziehungspunkte Siziliens geworden – beleuchtete Vincenzo Consolo in seinem Roman Das Lächeln des unbekannten Matrosen die Rolle der Stadt während des Risorgimento, der italienischen Einigungsbewegung im neunzehnten Jahrhundert. Erzählt wird die Geschichte des Barons Enrico Pirajno di Mandralisca: ein Adliger und Wissenschaftler – sein Gebiet war die Malakologie, die Erforschung von Schnecken und Muscheln – mit sehr liberalen Ideen, in einem Cefalù zur Zeit von Garibaldis Zug der Tausend und den blutigen Erhebungen um Grund und Boden, zu denen es in jenen Jahren kam. Pirajno (es gab ihn wirklich) mit seiner aufrichtigen Hoffnung auf eine soziale Revolution erwies sich als Gegenstück zum aristokratischen Zynismus eines Don Fabrizio Corbera, Fürst von Salina, dem Helden von Tomasi di Lampedusas Roman Der Gattopardo (in der Verfilmung von Luchino Visconti übrigens außerordentlich gelungen dargestellt von Burt Lancaster, einem amerikanischen Schauspieler mit leuchtend blauen Augen). Im Gattopardo tritt die Masse der Bauern, der Ausgebeuteten, der von Garibaldi Getäuschten kaum in Erscheinung, der Roman gibt der Unbeweglichkeit einer niedergehenden Aristokratie Raum, die sich mit einer neureichen Klasse von Aasgeiern verbündet. Dafür brechen im Lächeln des unbekannten Matrosen die Entrechteten in die Szene ein, bahnen sich mit dem Messer und dem Ideal einer Urgerechtigkeit ihren Weg und werden am Ende vom neuen Staat ermordet oder in Ketten in die Kerker geworfen. Dem armen Baron di Mandralisca bleibt nichts anderes übrig, als dem Volk seine Schneckensammlung zu vermachen, nebst einigen Malereien, die an seinen Wänden hängen.

Am faszinierendsten ist ein kleines Ölgemälde von Antonello da Messina, das Porträt eines Unbekannten. Es hatte in der Apotheke Di Salvo an der Hauptstraße von Lipari überdauert, als einer der Türflügel des Apothekerschranks (die Kunden sahen es nur von der Rückseite). Als Pirajno di Mandralisca es 1860 schließlich entdeckte, war es in schlechtem Zustand. Die Tochter des Apothekers hatte beide Pupillen des Unbekannten mit dem Dorn einer Aloe durchbohrt, vielleicht, weil er ihr Angst machte, vielleicht aber auch, weil er sie an einen Mann erinnerte, der sie nicht geliebt hatte, oder von dem sie verführt und dann verlassen worden war.

Das Bildnis zeigt das Porträt eines vor vier Jahrhunderten geborenen Mannes, wahrscheinlich ein Liparote – Schiffseigner oder Matrose. Antonello hatte zwischen 1470 und 1475 auf Lipari gelebt und dort die Wappen, Insignien und Banner des aufblühenden äolischen Hafens gemalt.

Mandralisca stellte das Gemälde in seinem Privatmuseum aus, das mit allen seinen Sammlungen bei seinem Tod 1863 der Gemeinde von Cefalù zufiel. Und so auch dieses Gemälde. Und hier ist die Geschichte zu Ende … nein! Dank Consolos Roman erwachte der Matrose wieder zum Leben und konnte weiterhin seine beunruhigende Wirkung verbreiten. Der Unbekannte, gemalt in Öl auf schwarzem Grund und in der Manier flämischer Meister in Dreiviertelansicht, trägt ein Barett, das seine Stirn bedeckt, und verzieht die Lippen zu einem spöttischen, feigen, womöglich sadistischen Lächeln. Vielleicht handelt es sich aber auch nur um ein zufriedenes und selbstsicheres Schmunzeln. Es lässt sich gut nachvollziehen, dass die Tochter des Apothekers von seinem Anblick ebenso verängstigt wie fasziniert war. Der Unbekannte ist rätselhaft. Seit Erscheinen des Romans wird darüber diskutiert, ob er nicht gar als das wahre Symbol eines universellen italienischen Charakters gelten mag, eines Geheimnisses vergleichbar dem der Mona Lisa – die Bedeutung seines Blicks, seine erotische Kraft, das Zweideutige, die sicilianità.

Leonardo Sciascia beispielsweise schrieb:

… Wem ähnelt der Unbekannte aus dem Museum

Mandralisca? Dem Mafioso vom Land und dem

der besseren Viertel, dem Abgeordneten auf den

Bänken der Rechten und dem auf denen der Linken,

dem Bauern und dem Staranwalt. Er ähnelt dem,

der diese Zeilen schreibt (so wurde ihm gesagt), und

bestimmt ähnelt er Antonello. Und versucht einmal,

den sozialen Stand und das besondere Menschsein

dieses Charakters zu bestimmen. Unmöglich.

Handelt es sich um einen Adligen oder einen Mann

aus dem Volk? Einen Notar oder einen Bauer?

Einen ehrlichen Mann oder einen Gauner? Einen

Maler Dichter Meuchelmörder? »Er ähnelt«,

das ist alles.

Eben wegen dieser allgemeinen Ähnlichkeit und vielleicht, weil auch ein Meer dazwischen liegt, und Aufbrüche und die Ferne, schien mir, als ähnelte die Fotografie von Joe Defatta Antonellos Unbekanntem. Sein Haaransatz zeichnet dessen Barett nach, die Gesichtsfarbe ist ähnlich, ebenso wie die Haltung des Oberkörpers und des Kopfes. Und natürlich die Augen. Lebendig, ironisch, jungenhaft, bedrohlich.

Heute wissen wir, dass es vor allem ihre Augen und ihre Haut waren, die Defatta und seinen Brüdern den Tod brachten: Jene, die beschlossen hatten, ihrem Leben ein Ende zu machen, fürchteten sich davor. Vor der Farbe ihrer Haut und vor jenen Augen, jenem Lächeln. Genauso wie die Tochter des Apothekers von Lipari angesichts des Gemäldes von Antonello.

Mehr als das Geheimnis der Augen und eines Lächelns standen jedoch zur Zeit unserer Geschichte die Haut samt den Tätowierungen, die angewachsenen Ohrläppchen, die Schädelform der Sizilianer, speziell der armen und rebellischen, im Mittelpunkt einer besessenen Aufmerksamkeit. Von der Wissenschaft des frischgebackenen italienischen Staates wurde eine Erklärung gefordert, warum die kalabrischen, sizilianischen und sardischen Bauern so arm und so böse waren. »Das liegt ihnen im Blut«, sagten die Forscher. In den Windungen ihres Gehirns, da sei nichts zu machen. Es wäre ein Segen, gingen sie alle auf und davon nach Amerika.

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