Kitabı oku: «Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika», sayfa 3

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In Cefalù, der Stadt der fünf Gelynchten, traf die Nachricht am 22. Juli ein. Das Giornale di Sicilia zwängte sie auf der ersten Seite zwischen den Bericht vom Dreyfus-Prozess in Paris, die königliche Hochzeit in Griechenland und das Auslaufen des Überseedampfers Nord America aus dem Hafen von Genua mit Ziel Montevideo.

AMERIKANISCHE GRÄUELTAT

FÜNF ITALIENER GELYNCHT

New York, den 22. – (Agenzia Stefani). Ein Telegramm aus Tallulah, einem Dorf im Madison County in Louisiana, teilt mit, dass der bekannte Doktor Hodge eine Auseinandersetzung mit einem Italiener hatte. Dieser schoss mit einem Jagdgewehr auf Hodge und verletzte ihn tödlich.

Die Volksmenge ergriff den Italiener und vier seiner Freunde, Italiener wie er, die der Komplizenschaft verdächtigt wurden, hängte sie an Bäume und durchsiebte ihre Körper mit Kugeln. Es handelt sich um Carlo, Giacomo und Francesco Difatto, S. Frudace und Giovanni Cheranao. Die öffentliche Meinung verurteilt den Lynchmord. Die Behörden haben einen Prozess eingeleitet.

New Orleans, den 22. – Kaum hatte der italienische Konsul von dem Lynchmord in Tallulah erfahren, schickte er den Konsularbeamten von Vichsboms zum Tatort, um eine Untersuchung anzustellen und für die Bestrafung der Schuldigen zu sorgen. Wieder einmal sind dem barbarischen amerikanischen Brauch, der sich fälschlich durch die Bezeichnung Lynchjustiz zu rechtfertigen sucht, italienische Siedler zum Opfer gefallen.

Wie der Lynchmord von New Orleans ist auch der von Madison ein grausames Massaker, der einem zivilisierten Land zum Schaden gereicht.

Vor allem, weil von der Menge nebst dem Beschuldigten auch die Italiener ermordet wurden, die sich in seiner Gesellschaft befanden.

Wir erwarten, dass die Regierung jetzt mit dem gebotenen Nachdruck handelt, um die strenge Bestrafung der Schuldigen und eine angemessene Entschädigung für die Familien der unglückseligen Opfer zu erwirken!

An den darauffolgenden Tagen gab das Giornale di Sicilia ein paar weitere Details bekannt, korrigierte die Namen und fügte einige Personenangaben hinzu. Man erfährt so:

Die drei Brüder Difatto, Francesco, Carlo und Joe (alias Giacomo), haben in New Orleans eine Tante, Lucia Baraona, verheiratete Mangiapane, die derzeit mit dem Ehepaar Romano zusammenwohnt.

In Cefalù lebt noch die Mutter der drei, Teresa Baraona, außerdem haben Francesco und Carlo dort Frau und Kinder zurückgelassen, Joe einen Sohn. Salvatore Fiducia besitzt in Amerika keine weiteren Verwandten außer Salvatore Imbraguglia, ebenfalls in New Orleans ansässig, bei dessen Mutter es sich um eine Cousine von Fiducia handelt.

Keiner der fünf Gelynchten ist je amerikanischer Staatsbürger geworden. Wie es aussieht, haben die beiden älteren Brüder Difatto einen ersten Schritt unternommen, um die amerikanische Staatsbürgerschaft zu beantragen.

Schließlich entdeckten die Journalisten des Giornale di Sicilia zwei Fährten. Die erste:

Es gilt als sicher, dass einer der Brüder Difatto eine Anstecknadel mit einem Brillanten und eine goldene Uhr bei sich trug, ein weiterer Bruder drei Hundertdollarscheine [hier, wahrscheinlich ein Druckfehler, folgen die Worte »6100 jeder«], und die anderen hatten etwas Geld und ein paar andere Dinge in der Tasche: Alles ist verschwunden, und man weiß nicht, in welche Hände es geriet, sicher ist nur, dass die Diebe unter jenen Vollstreckern der … Gerechtigkeit waren.

Die zweite:

Es gibt jetzt solche, die sagen, dass die Ursache für den verhängnisvollen Angriff auf Doktor Hodge nicht die Tötung einer Ziege war, sondern dass es dabei um Frauen ging.

Darüber hinaus brachten sie ihre Version der letzten Momente der Opfer:

Sobald man sie aus dem Gefängnis geholt hatte, begriffen die fünf Unglücksmenschen, welches Schicksal sie erwartete: Zwei der Brüder baten um Gnade, und es heißt, sie hätten gestanden, mit den anderen unter einer Decke gesteckt zu haben, um den Doktor zu ermorden. Dieses »Geständnis« brachte die Menge nur noch mehr gegen sie auf, so dass die Verurteilten, denen klar wurde, dass »jedes Gebet nutzlos« war, Mut fassten und die Leute verfluchten: Es gäbe da schon jemanden, der die »niederträchtigen Hunde«, die sie umbringen wollten, bestrafen würde.

Alles in allem:

Die Frauen, die Brillantnadel und die Dollarbündel, das Komplott zur Ermordung des Doktors, die »niederträchtigen Hunde«. Für das Giornale di Sicilia, das demzufolge über eigene Informationsquellen zu verfügen schien, blieb das Ereignis von Tallulah schleierhaft. Man könnte sagen, ihm haftete ein gewisser häuslicher Geruch an.

In Cefalù, wo praktisch jeder einen Verwandten in Louisiana besaß, gab es im Übrigen keinerlei Bekundung von Trauer oder Protest. Keine Totenmesse, keine Forderung nach einem würdigen Begräbnis. Auf dem Domplatz kam es weder zu einem Menschenauflauf, der das Einschreiten der Carabinieri erfordert hätte, noch wurde eine Kundgebung einberufen. Für die Familien der Getöteten gab es von Seiten der Behörden keinerlei materielle Unterstützung. Von den Defattas und ihren Vettern – sie werden als »Siedler« bezeichnet – erfuhr man so gut wie nichts, und niemand schien sich für ihre Geschichte zu interessieren. Die Fotografien, die sie in Jacke, Weste und mit Taschenuhr zeigten, hatten sie nie nach Hause geschickt. Sie hatten keine Briefe geschrieben, nichts von sich hören lassen. Als hätten sie sich seit Jahren im Weltraum verloren, an Bord eines Raumschiffs.

Gewiss, damals unterlagen die italienischen Zeitungen der Zensur. Und gewiss waren die sizilianischen Journalisten schon früh daran gewöhnt, kein Wort zu veröffentlichen, das falsch gedeutet werden konnte, und sich nicht zu sehr in Privatangelegenheiten vorzuwagen. Beim Lesen jener mageren Berichterstattung bleibt jedoch ein ungutes Gefühl zurück, als gäbe es da ein verordnetes Schweigen, als wüssten sie mehr und sagten es nicht. Undeutlich hat man ein Bild vor Augen: schwarzgekleidete Frauen in ihren Häusern und Verwandte, die kommen, um ihnen Neuigkeiten aus Amerika zuzuflüstern. Doch schon stehen die nächsten zum Aufbruch bereit, die Schiffsfahrkarte in der Tasche. Ihnen wird versichert, jene Tat hätte sich nicht dort ereignet, wo sie hingingen, sondern ganz woanders, es bestünde daher keine Gefahr.

Unsere fünf erfuhren allerdings die Genugtuung, in einem Lied vorzukommen. Der Text ist von Antonio Corso, einem ehemaligen Unteroffizier der Guardia di Finanza, er ließ die Verse bei Artale in Turin drucken. Unter der Zeichnung eines großen Laubbaums, an dem die Körper der Cefalutani hängen, auf die sonderbare Leute in Jagdkleidung mit ihren Gewehren zielen, steht folgender Titel:

FÜNF ARME ITALIENER

GELYNCHT IN TALLULAH IN AMERIKA

Einige Verse:

O gioventù d’Italia

Abbruna la bandiera!

Chi di valor t’uguaglia

O gioventude fiera?

O martiri sepolti

Laggiù nella Luigiana,

purtroppo siete morti

ma chi la piaga sana?

O gioventù d’Italia

Abbruna la bandiera,

e della vil ciurmaglia

fanne vendetta nera.

E sotto il manto del tuo valor

Soccorri e vendica il nostro onor!*

Doch unsere fünf – besser sechs, um den überlebenden Joe Defina nicht zu vergessen! – wurden keine Helden. Winzige Ameisen der Geschichte kurz vor der Jahrhundertwende blieben sie nichts als exotische Geister, ferne Wahrzeichen, deren Schicksal wenige Herzen rührte. Dennoch hatten sie und ihre Ziegen sich im Zentrum einer speziellen Konstellation aus Geopolitik, Sklaverei und großem wirtschaftlichem Kalkül befunden. Ohne dass sie es ahnten, waren sie zu Versuchskaninchen der neuen, an den italienischen Universitäten ausgefeilten Rassentheorien geworden, die den furchtbarsten Gräueln des anbrechenden Jahrhunderts den Weg bahnten.

Die italienische Nation, so jung sie auch war, verstand sich bereits auf Überheblichkeit und Bürokratie. Wir fordern Entschädigungen! Strenge Abmahnung der amerikanischen Regierung! Respekt! Unsere Beamten machen sich an die Arbeit, weil dem König seine Bürger doch am Herzen liegen. Wer daher am 28. Juli 1899 die Gazzetta Ufficiale aufschlug, konnte eine Triumphmeldung lesen:

»Doktor Hodge ist nicht tot!«

Fast als wäre dies das Verdienst der italienischen Diplomatie.

* (Oh, Jugend von Italien, / leg Trauer an die Fahne! / Wer ist an Tapferkeit dir gleich, / oh, stolze Jugend? / Oh, Märtyrer, begraben / dort drüben in Louisiana, / zum Leidwesen seid ihr tot, / doch wer heilt die Wunde? / Oh, Jugend von Italien, / leg Trauer an die Fahne, / und an dem feigen Gesindel / nimm deine schwarze Rache. / Gehüllt in deine Tapferkeit / steh bei und räche unsere Ehre!)

5
Sklaven, Generäle, Land, Zucker und Baumwolle

Die Defattas verließen Palermo auf einem Dampfschiff, machten Station in Genua und gelangten von dort in zwanzig Tagen in das große Novorlenza, nach New Orleans. Sie waren Teil einer Menschenmasse, die den Ozean zwischen Sizilien und der Neuen Welt aufgrund einer bizarren historischen Koinzidenz überquerte. Enttäuscht von General Garibaldi, der ihnen falsche Hoffnungen gemacht und ihnen Land versprochen hatte, gingen sie nach Amerika, weil dort neue Sklaven gebraucht wurden, weil ein General wie Garibaldi die schwarzen Sklaven befreit hatte. Auf den Zuckerrohrplantagen fehlten jetzt die Arbeitskräfte. Die Schwarzen spielten nicht mehr mit, sie unterwarfen sich keinem Herrn mehr, rebellierten, hatten keine Lust mehr zu arbeiten und forderten zu viel Lohn. Die amerikanischen Landbesitzer waren bis nach Sizilien gekommen, um dort die Muskeln der Männer zu betasten und die Güte ihrer Rasse zu prüfen. Sie suchten starke und willige Leute, denn die Belastung war außerordentlich. Das Schneiden des Zuckerrohrs galt seit einem Jahrhundert als die härteste Arbeit auf diesem Planeten.

Die Zeitungen von New Orleans berichteten über die Ankunft der Sizilianer, als handelte es sich um ein Zirkusspektakel, sie beschrieben die Männer als klein, aber muskulös, die wohlhabenderen mit Baretten aus Fell, eng an den Knöcheln anliegenden Wollhosen und grünen, gelben und roten Schals. Alle trugen sie Ohrringe: die Männer Ohrstecker; die Frauen Gehänge, die ihnen bis zu den Schultern reichten, und sie waren »ohne Kopfbedeckung, die Haare in der Mitte gescheitelt, die Gesichter hart und wenig anziehend«.

Die sizilianische Massenauswanderung nach Louisiana und Mississippi, die ohne große Ankündigungen vor sich ging und damals wie heute kaum verstanden wurde, war nichts anderes als eine von zwei Regierungen konzipierte Deportation von Menschen, um eines der düstersten Projekte der Moderne zu realisieren.

Die Bevölkerung Siziliens war seit der italienischen Einheit um eineinhalb Millionen Menschen gewachsen. Es gab einfach zu viele Sizilianer, seltsame Ideen kursierten, sie wollten Land, sie rebellierten. Die amerikanischen Großgrundbesitzer sahen sich mit einem ähnlichen Problem konfrontiert. Der Krieg hatte vier Millionen Sklaven befreit, die nun nicht mehr unter der Knute arbeiten wollten. Jetzt galt es, sich von ihnen zu befreien und neue Sklaven zu finden. Die Amerikaner nannten dieses Projekt push and pull, abstoßen und anziehen. Italien stieß die Sizilianer ab, und nichts war schlagender, als sie ins Elend zu treiben und die Carabinieri auf sie schießen zu lassen. Louisiana und Mississippi zogen sie an, die letzte Hoffnung, die ihnen geblieben war. Beide Parteien stimmten darin überein, dass sie nicht allzu rücksichtsvoll mit ihnen verfahren wollten, denn diese Leute besaßen zwar die Gabe, sich einem Herrn zu beugen, waren aber heimtückisch.

Präfekten, Militärangehörige und Großgrundbesitzer bestimmten die Orte, an denen es gründlich, Gemeinde für Gemeinde, zu operieren galt. Auf diese Weise leerten sich Contessa Entellina, Ustica, Bisacquino, Poggioreale, Corleone, Cefalù, Palazzo Adriano, Chiusa Sclafani, Trabia, Caccamo, Gibellina, Vallelunga Pratameno, Roccamena, Sambuca, Salaparuta, Alia. Weitere Männer warben sie in Palermo, in Termini Imerese, Trapani und Salemi an.

Man schätzt, dass sich zwischen 1880 und 1900 etwa hunderttausend Sizilianer auf den Weg nach New Orleans gemacht haben. Schwefelbergarbeiter, ehemalige Anhänger von Garibaldi, Kleinbauern, die wegen der viel zu hohen Steuerlast verzweifelt waren, Kriegsdienstverweigerer, ehemalige Gefangene, Tagelöhner, Schuster, Maurer, erfahrene Landwirte, ganze Familien. Alle suchten sie nach einem Stückchen Land, doch es erwies sich als großer Schwindel. Zu jener Zeit war es der Besitz von Land, der die Welt in Bewegung hielt. Die Bedeutung, die später die Fabriken und das Erdöl bekamen, hatten damals Zuckerrohr und Baumwolle.

Nehmen wir einmal den Zucker, welch ein hübscher Name. Ein derart wichtiger Bestandteil unseres Lebens und so gewinnbringend geworden, dass wir ihn selbst in die Tanks unserer Autos füllen. Unsere Snacks enthalten Zucker, und all die Kohlensäuregetränke, obwohl wir wissen, dass er Übergewicht und Diabetes verursacht. Aber wir interessieren uns nicht weiter dafür, woher er kommt und von wem er produziert wird. Von »politischer« Bedeutung war der Zucker zum letzten Mal in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, als Fidel Castro in Kuba jeden und vor allem die Intellektuellen dazu anhielt, eine Machete in die Hand zu nehmen und gemeinsam mit ihm bei der zafra, der Zuckerrohrernte, zu helfen, um auf die erträumten zehn Millionen Tonnen zu kommen, die nie erreicht wurden. Hier handelte es sich um das Vermächtnis der Sklaverei auf der Insel, etwas, das der Sozialismus nicht hatte abschaffen können. Die Insel war für die Produktion von Zucker, Melasse und Rum konzipiert worden. Etwas anderes war nicht vorgesehen.

2014 habe ich in Brooklyn mit Zehntausenden von Menschen an einer lehrreichen Würdigung des Zuckers teilgenommen. Anlass war die endgültige Stilllegung der Raffinerie Domino, der größten Zuckerfabrik der Welt, die hundertfünfzig Jahre lang in Betrieb gewesen war.

In Erwartung des Abrisses hatte man in den leeren Hallen, groß wie Kathedralen, eine kolossale »Installation auf Zeit« aufgebaut. Man betrat eine riesige Höhle, von deren Wänden immer noch Zucker rann. Zwischen Figuren schwarzer, aus Karamellzucker geformter Kinder, die candies anboten – wie hundert Jahre zuvor in den Großstädten, wo auf der Straße sogenannte Sugar Babys, Süßwaren in Form von Negerpuppen feilgeboten wurden, bewegte man sich auf eine schneeweiße, zehn Meter hohe und zwanzig Meter lange Sphinx zu, hergestellt aus dreißig Tonnen weißen Zuckers. Eine nackte afrikanische Frau, ihr Blick leer, leidvoll und zeitlos, bekleidet nur mit einem oberhalb der Stirn zusammengeknoteten Tuch, ein breiter Mund, große Brüste, die Genitalien gut sichtbar in der Mitte des in die Luft gestreckten Gesäßes, nicht auf dem Boden kauernd wie ihr ägyptisches Pendant.

Am Eingang hatte die Künstlerin ein Plakat angebracht:

Als Höhepunkt ihrer kreativen Arbeit dieser Saison hat Kara E. Walker ein bezauberndes Sugar Baby gestaltet, eine Hommage an die unbezahlten oder ausgebeuteten Arbeiter, die unseren Geschmack an Süßem veredelt haben, von den Plantagen bis in die Küchen der Neuen Welt. Aus Anlass des Abrisses der Raffinerie Domino.

Wie lange sich die Zeit für die Sklavinnen und später für die Zuckerarbeiterinnen auch hingezogen haben mochte, die des Sugar Babys war von kurzer Dauer: Zum Zeichen des Endes einer Welt fiel es der Spitzhacke zum Opfer.

Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts waren die Zuckerrohrplantagen der Inbegriff der kolonialen Welt gewesen. Sie wurden es dann auch für die neue amerikanische Demokratie. Kuba, Haiti, Martinique und Guadeloupe, die Bundesstaaten Louisiana und Mississippi mühten sich ab, den Bedarf an Zucker zu decken, von dem Europa neuerdings abhängig war. Zucker, im achtzehnten Jahrhundert als reine Extravaganz betrachtet, war nun zu einem wesentlichen Nahrungsmittel geworden und diente zur Zubereitung bislang unbekannter Gerichte. War der Zucker zuvor eine Marotte der Aristokratie gewesen, hatte er jetzt Eingang in die Gewohnheiten der englischen, bald darauf auch der deutschen und französischen Arbeiterklasse gefunden, zusammen mit Tee, Likör, Süßspeisen, Marmeladen und Keksen. Im Laufe weniger Jahrzehnte hatte Europa seine Ernährungsgewohnheiten verändert, es hatte sich »versüßt«. Und all das war durch die Arbeit der Sklaven möglich geworden, ebenso wie auch die Sphinx Sugar Baby.

Zur selben Zeit hatte die Baumwolle die städtische Landschaft verändert. Hemden, Uniformen, Laken, Unterwäsche, Taschentücher, Arbeitshosen – sämtliche Abbildungen zeigen plötzlich Gesponnenes, Genähtes und Kardiertes, produziert in den großen Fabriken, wo die industrielle Revolution zur Entfaltung gelangt war.

Wie der Zucker basierte auch die Baumwolle auf Sklaverei. Millionen von Männern, Frauen und Kindern, die aus Afrika in die Kolonien verschleppt worden waren, bildeten das Fundament der industriellen Entwicklung in Europa. Um mit Karl Marx zu sprechen, »bedurfte die verhüllte Sklaverei der Lohnarbeiter in Europa zum Piedestal die Sklaverei sans phrase (ohne Hülle) in der neuen Welt«*.

Die Sklaverei, die seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in Europa schrittweise abgeschafft wurde, war die schreckliche Leiche im Keller der Vereinigten Staaten: Die Hälfte des Landes, der Süden, gedieh dank der Sklavenwirtschaft. 1861 schlossen sich zunächst sieben, dann weitere vier Südstaaten zu einer Konföderation zusammen und erklärten ihre Absicht, aus der konstitutiven Union der Vereinigten Staaten auszutreten. Ihre Stärke war beträchtlich. Die Konföderation besaß ein ausgedehntes Territorium, und die Ausfuhr von Tabak, Baumwolle, Zucker und Weizen garantierte der herrschenden Elite eine außerordentliche wirtschaftliche und finanzielle Macht. Die großen Städte des Südens rivalisierten in ihrem Finanzaufkommen mit New York, Boston und Philadelphia. Die Mündung des Mississippi mit dem Hafen von New Orleans war ein neuralgischer Punkt für den internationalen Handel. Innerhalb von fünfzig Jahren hatten die Erfordernisse der Produktion zu einer Verzehnfachung der Sklavenbevölkerung geführt, die nun bei etwa vier Millionen lag, und diese Dimensionen hatten eine Ideologie hervorgebracht. Die Vorstellung, Menschen als »Eigentum« nutzen zu können, trat in der modernen Welt nicht nur als mögliche, sondern als legitime Option auf den Plan. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieses Modell ausbreiten würde, erwies sich durch Fakten und Absichten. Militärische Expeditionen zur Versklavung Mittelamerikas und Kubas waren bereits im Gange oder in Planung. Die industrielle Revolution, zu der es durch die Egreniermaschine gekommen war – eine Textilmaschine, die die Baumwollfasern von den Samenkapseln und den Samen trennt –, erlaubte die Verzehnfachung der Produktion. Anstatt wie in Europa Fabriken zu errichten und mit ihnen Lohnarbeiter anzustellen und Städte zu bauen, kam es in Amerika genau zum Gegenteil: Immer riesigere Landstriche wurden kultiviert und Millionen von Sklaven aus Afrika importiert.

Das Motiv, das zur Abspaltung der konföderierten Staaten führte, bestand in der Opposition gegen die »abolitionistische« Politik (Abschaffung der Sklaverei) des neuen Präsidenten, des Republikaners Abraham Lincoln. Der furchtbare Bürgerkrieg, der zwischen 1861 und 1865 darauf folgte (etwa 700 000 Tote), endete mit der Niederlage des Südens, der (vorübergehenden) Zerschlagung seiner Ökonomie und einem in der Verfassung verankerten Gesetz, wodurch die Sklaverei abgeschafft und vier Millionen Schwarze, die in den Südstaaten lebten, befreit wurden.

Stellen wir uns vor, man hätte uns in eine Art Videospiel hineinkatapultiert, das in jenen Jahren und an Orten spielte, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: einerseits die wilden Ebenen der Neuen Welt, Bären, Indianer, eine Natur, die zu Gold wird – andererseits der antike Mittelmeerraum mit seinen Tempeln, Kathedralen und Feudalherren.

1864. Im Süden der Vereinigten Staaten. Nach dem Fall von Vicksburg, der die Konföderation in zwei Teile gespalten und den großen Fluss unter die Kontrolle des Nordens gebracht hat, beginnt General Sherman seinen grausamen »Marsch ans Meer«. Systematisch legt er alles in Schutt und Asche, vernichtet sämtliche wirtschaftlichen Grundlagen, die es dem Feind ermöglichen könnten, Widerstand zu leisten. Er zerstört die Weizenvorräte, setzt Plantagen in Brand, feuert mit Kanonen auf Städte. Seinen Truppen folgt eine große Schar befreiter Sklaven, die von den brennenden Plantagen geflohen sind. Ihnen gibt Sherman per Erlass das rein formale Versprechen, dass ihnen allen Land zugeteilt werde: »40 Morgen und ein Maultier« für jede Familie befreiter Sklaven. Dieses Land, eine Million Hektar, soll aus dem Besitz ihrer ehemaligen Herren kommen, das sich die Regierung anschickt zu konfiszieren. Es soll eine Form von Entschädigung sein, ist aber auch ein Bild der zukünftigen politischen Ordnung der Südstaaten.

Das Videospiel der Geschichte weist uns darauf hin, dass das Ganze ein leeres Versprechen, eine Legende, ein Mythos bleiben wird. Hätte der Staat tatsächlich das Land konfisziert und es an die befreiten Sklaven verteilt, so wären aus den Vereinigten Staaten die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Amerika geworden, und das lag nicht in seiner Absicht.

In Wirklichkeit wird der Süden während der nächsten zwanzig Jahre von einer von Washington eingesetzten Mischung aus ziviler und militärischer Besatzung regiert. Der Besitz von Land steht nie zur Debatte. Einige der befreiten Sklaven erhalten zwar elende Löhne als Pächter oder Halbpächter, aber weder die vierzig Morgen noch das Maultier, weder Sämereien noch Schulen oder das Wahlrecht. Es sind zu viele. Sie sind ungebildet. Wild. Der Gedanke, ihnen das Wählen zu gestatten, ist vollkommen absurd. Denn sie würden gewinnen. Und das entspricht nun einmal nicht den Spielregeln.

1861. Garibaldi hat seinen Kampf in Sizilien gewonnen, weil er den Bauern das Ende der Sklaverei versprach. Sein Versprechen lautete, dass die großen Ländereien in den Händen der Kirche und der Großgrundbesitzer an die zivilen Behörden zurückgegeben werden. Doch von Anfang an ist klar, dass es dazu nicht kommen wird. Im Städtchen Bronte, am Fuße des Ätna, wo der Bourbonenkönig dem berühmten englischen Admiral Horatio Nelson sämtliche Ländereien geschenkt hatte (zum Dank für seine Dienste bei der Niederwerfung der Neapolitanischen Republik 1799), bricht unerwartet ein blutiger Aufstand der Bauern gegen die Schergen des »Herzogtums« aus. Dies ist die erste Kriegshandlung nach der italienischen Einigung, und Garibaldi befiehlt die Niederschlagung des Aufstands. Sein fähigster Mann, General Nino Bixio, der entsandt wird, um den Rebellen eine Lektion zu erteilen, lässt die Anführer erschießen und wohnt selbst hoch zu Ross der Hinrichtung bei, mit Augen – so die Chroniken – »leblos wie Glas«.

Zu Aufständen kommt es auch in anderen Landstrichen, in Alcara Li Fusi beispielsweise (davon erzählt Vincenzo Consolo in Das Lächeln des unbekannten Matrosen) und 1866 schließlich in Palermo. Siebeneinhalb Tage lang erhebt sich die Stadt, und die königlichen Truppen feuern wie besessen, ohne zu verstehen, auf wen oder was sie da eigentlich schießen. Furchtbare Geschichten von der unerhörten und bestialischen Grausamkeit der Sizilianer machen die Runde.

Nicht zu vergessen, es handelte sich dabei um dasselbe Volk, das ein Bewässerungssystem erfunden hatte, das in der Lage war, Zitronen, Orangen und Oliven zu kultivieren, das Rom mit Weizen versorgte, das über Kenntnisse verfügte, wie man die Luft innerhalb der dicken Mauern der mehrstöckigen Häuser zirkulieren ließ, um sie trotz drückender Sommerhitze kühl zu halten. Das Volk, das die größte Menge Zitronen auf der ganzen Welt produzierte, sie zu konservieren verstand, sie Stück für Stück in prächtiges Papier verpackte, bedruckt mit Zeichnungen, die an die Schönheiten dieser Welt erinnerten, sie auf den Schiffen, die eben diese sizilianischen Produzenten mit ihren Ersparnissen erworben hatten, zum Reifen brachte und sie frisch im Hafen von New Orleans oder New York auslieferte. In jenen Jahren war Sizilien das, wovon man auch heute noch träumt: Kalifornien und Florida zugleich, als diese noch keine Bedeutung hatten. Es ist eine wahre Schande, dass eine rassistische Regierung und eine vom Reichtum korrumpierte und verdorbene Herrschaftsklasse all das zum Einsturz brachte.

Im heutigen Amerika hat man Mühe, die Spuren der Geschichte, die sich in diesem Teil der Welt zugetragen hat – die riesigen Plantagen, die Sklaverei –, ausfindig zu machen. In den Bundesstaaten Louisiana und Mississippi, dem Schauplatz der Zusammenstöße, herrscht nichts als Leere über der einstigen Szenerie. Der Himmel ist weit, und unter ihm wächst Mais, Soja, immer noch jede Menge Baumwolle, aber die Männer und Frauen von damals sind seit drei Generationen in Chicago, in Kansas und Kalifornien angesiedelt. Aussaat und Ernte werden von Maschinen übernommen, groß wie ein Haus, Flugzeuge bringen Dünger und Pestizide aus, erinnern an Weihrauchgefäße, deren Duftstoffe durch verlassene Kirchen ziehen. Eine Handvoll Großunternehmen liefert das Saatgut und erntet die Produkte, die als Zusatzstoffe zum Autobenzin verwertet werden. Die Natur präsentiert ihre Rechnung in Form von Überschwemmungen, Dürren und Erosionen, und die Rückstände der Gifte, die von der Nahrungsmittelindustrie und den Chemiekonzernen in Umlauf gebracht werden, finden sich im menschlichen Organismus wieder.

2014 veröffentlichte Professor David Brion Davis im Alter von fast neunzig Jahren seinen letzten Band über die Sklaverei, ein Thema, das ihn sein ganzes Leben lang beschäftigt hat und als dessen wichtigster Forscher er gilt. Es ist ein schmales Buch von grundlegender Bedeutung. Brion Davis erzählt, dass das dringende Bedürfnis nach Verstehen in ihm erwachte, als er 1945 als ganz junger Mann eingezogen wurde und ein Angriff der amerikanischen Truppen in Japan geplant war (ein Schlag, der nicht mehr nötig wurde, da die Atombombe die Japaner zur Kapitulation brachte). Er war an Bord eines großen Kriegsschiffes, und sein Vorgesetzter drückte ihm einen Schlagstock in die Hand: »Geh runter und verprügle alle, die um Geld spielen.« Brion Davis ging – er war zum ersten Mal unter Deck – und sah sich in einem von schwarzen Matrosen überquellenden Schiffsraum. Einer rief ihm zu: »He, was machst du hier, du blondes Bürschchen?« Brion Davis erinnert sich daran, wie er urplötzlich den Laderaum eines Dampfers aus dem neunzehnten Jahrhundert vor sich sah, der Sklaven in die Neue Welt brachte. Die minderwertige Rasse. 1945 setzte Amerika diese Tradition immer noch fort. Zur selben Zeit, in der Hitler durch die Rassentheorien, durch die Konzentrations- und Vernichtungslager die Sklaverei in die Praxis umgesetzt hatte. Zur selben Zeit, in der Stalin die Zwangsarbeit für Millionen politischer Gegner eingeführt hatte. Auch zweihundert Jahre später schien das Konzept der Sklaverei in der Welt keineswegs besiegt zu sein.

In seinem letzten Buch filtert Professor Brion Davis einige erschütternde Wahrheiten heraus. Die Menschen, vor allem die weißen Amerikaner des neunzehnten Jahrhunderts, waren rational davon überzeugt, dass es ihr gutes Recht war, die Schwarzen zu versklaven, sie als ihr Eigentum, als eine bewegliche Habe zu betrachten, denn die Geschichte bewies ja, dass es sich bei den Afrikanern nicht um leibhaftige Menschen, sondern um eine besondere Art der tierischen Rasse handelte und folglich dem höher entwickelten Menschen die Aufgabe zufiel, sie genau wie die anderen Haustiere zu domestizieren. Sie erhielten Zuspruch durch die Bibel, die die Sklaverei zugestand; durch Aristoteles, der sie als natürliche Gegebenheit betrachtete; durch die Wissenschaft, die seit der Antike fortwährend Argumente zugunsten eines Unterschieds zwischen den Menschen vorbrachte. Sie hatten gelernt, sie anhand des Knochenbaus, der Lippen, des Gebisses zu klassifizieren und zu bewerten. Ihre sexuellen Regungen und ihre Unempfindlichkeit gegen Schmerzen waren bekannt.

Das aber war nur die Oberfläche. Darunter verbarg sich die kollektive, ihr ganzes Leben beherrschende Angst. Die Väter zwangen ihre Söhne, die Züchtigungen der Sklaven »mitanzusehen«, und wussten doch, dass ihnen diese Erziehung zum Fluch geriet. Sie lebten in Angst und Schrecken vor einem Aufstand wie dem auf Haiti, wo die Sklaventruppen fünfzigtausend erfahrene, von Napoleon Bonaparte entsandte Soldaten geschlagen hatten. Die weite Landschaft und die riesigen Ländereien waren von ihren Alpträumen besetzt. Überall hatten sie Glocken angebracht, mit denen sie Alarm schlagen konnten, falls entsprechende, durch Trommeln übermittelte Meldungen zu hören waren. Es war dieses tiefinnere Schuldgefühl und die unbestimmte Ahnung, dass der Tag der Abrechnung kommen und die Welt der Weißen zu den furchtbarsten Verirrungen und schließlich zur Vernichtung treiben würde.

Am Ende des Bürgerkriegs irrten die Menschen in der trostlosen Gegend des Mississippi-Deltas umher, rings um sie eine zerstörte Welt. Die Sklaven waren frei, doch arm und erschöpft, sie besaßen weder Herrn noch Haus, starben an Malaria, am Gelbfieber, an Pocken, Ruhr und Cholera. Abraham Lincoln, ihre Galionsfigur, war einem Attentat zum Opfer gefallen. Die neue Macht im Norden zeigte sich weder besonders stark, noch dem vorherigen Regime moralisch überlegen. Wie vor dem Krieg setzte sich das Land als einziger Gewinner durch.

Das Land wurde von der Louisiana Sugar Planters’ Association repräsentiert, einer Vereinigung von etwa fünfhundert Plantagenbesitzern rund um den großen Fluss.

Es handelt sich hierbei um die Herren des Südens – Engländer, Holländer, Deutsche, Franzosen. Ihren Reihen entstammen die Politiker, die Gouverneure, die Wahlkollegien, die den Präsidenten wählen. Der Gedanke, Ländereien abzutreten, streift sie nicht im Entferntesten, ebenso wenig wie das Versprechen, sie mit den ehemaligen Sklaven zu teilen. Im Strudel der Zusammenbrüche von Banken, von rasantem Preisverfall, Streiks und Arbeitsniederlegungen kultivieren die Planters die radikalste und ungesündeste aller Ideen. Nämlich die ehemaligen Sklaven, derer man sich nun nicht mehr so leicht entledigen kann, durch eine neue Arbeitskraft zu ersetzen, die wenig kostet, gefügig ist, keine Ansprüche stellt. Ein absolutes Eigentumsverhältnis würde es nicht mehr geben, das wissen sie. Der Gedanke an irgendeine Form des Lohns, etwas, das sie zuvor nicht einmal in Erwägung gezogen hatten, wird daher hingenommen. Der Lohn, der ihnen vorschwebt, hat allerdings eher symbolischen als realen Wert. Vor allem liegt er unter dem, was die Schwarzen herausschlagen könnten.

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