Kitabı oku: «Paradies möcht ich nicht», sayfa 2

Yazı tipi:

Halma im Oktober

Wenn Louise die Spielfigur bewegte und in ein neues Loch steckte, fiel mir auf, dass zwischen dem Handknochen im Vorlauf zum Zeigefinger und dem seitlichen Ansatz des Daumens gar kein Fleisch mehr war, nur Haut.

Mutter war dünn geworden, ich hatte sie ein paar Wochen lang nicht gesehen. Zum Tisch, vorne am Fenster, wo das Halmabrett stand, bewegte sie sich bevorzugt im Rollstuhl, manchmal ging sie an meinem Arm. In beiden Fällen drehte sich Louise eineinhalb Schritte vor dem Stuhl um und ließ sich, die Richtung einigermaßen einschätzend, rücklings in den Sitz plumpsen. Das machte mir jedes Mal Angst, erinnerte aber auch an den Moment, als ich erstmals gesehen hatte, wie der Hochspringer Dick Fosbury rücklings über eine Latte gesegelt war.

Das Spielfeld war eine runde Holztafel, ursprünglich vielleicht zur Benutzung als Schnittbrett in der Kü­che gedacht, mit regelmäßig eingebohrten Öffnungen. Als Spielfiguren dienten grüne und weiße Stifte mit feinen Rillen an den Seiten, nicht unähnlich jenen, die Ikea zur Montage von Gestellen mitliefert, womöglich waren es gar solche. Keine Ahnung, woher das Brett stammte, Mutter wusste es auch nicht, vielleicht aus einer Werkstatt handicapierter Menschen?

Mich erstaunte, wie Louise Sprünge nach vorne über Rückwärtszüge einleitete. Keck sei ich, meinte sie, wenn auch mir ein geschickter Zug gelang, beide wollten gewinnen, jedenfalls brauchte ich mich nicht ab­­sicht­lich ungeschickt anzustellen, die zwei Züge, die ihr noch fehlten, als alle meine Figuren am Ziel waren, wollte Louise noch ausführen. Der Sportsgeist imponierte mir, und ich fragte mich, weshalb wir erst jetzt angefangen hatten, miteinander Halma zu spielen. Ich mochte die Ruhe, Konversation war nicht nötig, es war ein Spiel der Wiederholungen, auch wenn jede Konstellation einzig war.

Im dritten Stock des Hauses zur Bachwies, in dem sie jetzt lebte, ging es bunter zu als vorher im achten. Ein paar Bewohner hatten Ticks, ein Mann im Entree machte mit seinem rechten Arm stete Kreisbewegungen, ein anderer spielte ununterbrochen mit einer Perlenkette, wie man sie aus Griechenland kennt, andere lachten schrill oder schienen im Dauerschlaf. Ins­gesamt gab es hier, wie die leitende Ärztin sagte, weniger Kontrolle über die Psyche der Insassen und daher mehr Emotion als im achten Stock, wo sich die Damen und Herren dumpf von Medikamenten den ganzen Tag im Wohnzimmer aufhielten, meist ohne Regung.

Zuvor war Mutter immer wieder abgeprallt mit ihrem deutlichen Wunsch nach Austausch, nach Erfahrung. War sie die kleine Louise aus dem Chratz, war sie die Alte aus dem Heim, verloren war sie oft, verloren in der Zeit, verloren in der Welt. Zuletzt hatte sie aus ihrem Zimmer heraus durch die offene Tür so oft Hallohallo gerufen, dass es lästig geworden war. Man hatte be­­schlos­sen, ihre Rufe seien pathologisch und Mutter gehöre daher in den dritten Stock, wo ihre Rufe sich in den an­deren verloren und vom Personal mit mehr Verständnis aufgenommen wurden.

Als ich mit Louise erstmals den Aufenthaltsraum betreten hatte, sagte sie: Es bedrückt mich, die sind alle meschugge, die Männer mehr noch als die Frauen, ich selber bin es auch, aber nur halb, lass uns ins Zimmer ge­hen.

Auf dem Weg hatte sich mir eine Clara vorgestellt und meine Hand geküsst wie auch jene von Juliette, die dabei war, und vorgeschlagen, später mit uns mitzukommen. Meine Tochter besuchte Louise gerne, auch ohne mich, die beiden konnten Stunden zusammen verbringen, der Großmutter gefiel, dass ihre Enkelin sich in die Bewegung zur Verteidigung der Umwelt ein­gereiht hatte. Sie war stolz darauf, dass Juliette im­mer wieder in den Klimastreik trat, obwohl die Schullei­tung es ebenso verboten hatte wie irgendwann auch ich, ihr Vater. Amüsiert ließ sich Louise erzählen, wie die Lehrerin immer hilfloser nach einer passenden Stra­fe suchte.

Aus dem Gang schon hatte ich in Mutters Zimmer eine andere, füllige Frau entdeckt, die vorne am Fenster gemütlich am Brötchen kaute, das Juliette neben dem Halmabrett hatte liegen lassen. Sie und ich fanden das komisch, es war wie im Theater, Louise aber war durch die Frau verwirrt, ich bat sie aus dem Zimmer, täglich begleitete Mutter die Not, sie müsse den Ort wechseln, sie sei nirgends zu Hause.

Zur Welt gekommen war Louise fast einundneunzig Jahre vor diesem Halmaspiel in Albisrieden, heute ein Quartier von Zürich, damals ein Dorf. Im Chratz, dem Dorfteil gleich hinter der Kirche, bestehend aus lauter alten Fachwerkbauten, betrieb ihr Großvater das Restaurant Alperösli. Die Pöstler kehrten täglich zum Zvieri ein, Landjäger und Cervelat gab es, die Lehrer kamen zweimal jährlich zum Examensessen, ihnen wurde no­bler Pot-au-feu serviert. Der Großvater, gelernter Schuhmacher, klein und untersetzt, mit Nickelbrille, war zu­gleich Friedensrichter, er sollte den Streit im Dorfe schlichten.

Während Großmutter Anna trotz insgesamt elf Kindern täglich für die Gäste kochte, stiegen zerstrittene Albisrieder über den Hintereingang in den ersten Stock. Dort war das enge Zimmer des Friedensmannes, der in seiner Doppelrolle eine Stütze der dörflichen Gesellschaft war, eine Respektsperson. Im «Alperösli» lernte Louises Mutter Lina ihren Mann kennen, Ernst, einen Turner aus Aarau, der mit seiner Riege nach einem Wettkampf auf ein Bier haltgemacht hatte.

Das Paar zeugte in schneller Folge vier Kinder, zwei Buben und zwei Mädchen. Als meine Großmutter mit Louise schwanger war, der jüngsten, verließ Ernst seine Frau. Ein paar Wochen später musste sie die gemein­same Wohnung im Aargau verlassen. Die Jungs durften beim Vater bleiben, eine neue Frau stand schon bereit, auch diese hatte er in einer Gaststätte kennengelernt, die Mädchen sollten mit der Mutter weg, egal wohin, einfach weg. Zwar schickte der Friedensrichter einen kleinen Lastwagen nach Aarau, aber Hab und Gut, seine Tochter und die beiden Enkelinnen waren im «Alperösli» nicht erwünscht. Eine Geschiedene war der Schmach zu viel, für sie war kein Platz im großen, heimeligen Haus des Friedensrichters.

Fünf Jahre lebte die verstoßene junge Frau auf dem Land, das Geld war knapp. Der Kindsvater schickte et­was Alimente, der Friedensrichter legte ein bisschen dazu und ließ sich endlich erweichen: Lina und ihre Töchter durften zurück. Glücklich zu Hause, trotz des Makels, verlassen worden zu sein, sprang Lina im Restaurant ein, wann immer es nötig war, und half rundum allen Menschen, wo immer sie konnte.

Nachbarskind Margrith machte jeden Morgen halt, wenn sie Louise zur Schule abholte; sie setzte nacheinander den rechten und dann den linken Fuß auf der Steintreppe ab, die zur kleinen Wohnung führte. Lina band ihr den Doppelknopf, den sie so gut konnte, und Louise freute sich, viel galt ihre geschiedene Mutter nicht in Albisrieden, in der Schule wurde sie ausgelacht.

«Margrithli», wie Lina sie immer nannte, kam nach der Schule oft mit in den Chratz, sie mochte meine Großmutter. Vom Wohnzimmer ging eine steile Treppe in den ersten Stock, ein Bälchli, oben schliefen Mutter und die jüngere Tochter in einem Zimmer. Hier erledigten die beiden Mädchen, die eine blond, die andere rot, ihre Schularbeiten. Die Familie war arm, mit dem Abendessen wartete Lina, bis Margrithli gegangen war, das Essen reichte nicht für ein weiteres Maul. Mag sein, dass Louises oft ausschweifende Gastfreundschaft hier ihren Ursprung hat; bis zur Aufdringlichkeit bot sie zu trinken an, Wein und anderes, sie liebte es, Zimmer mit so viel Betten auszustatten wie nur möglich, es konnte noch wer kommen.

Sie wuchs heran, ein waches Kind, das bald männliche Blicke auf sich zog. Coiffeur Huber, ein gebürtiger Basler, hatte seinen Salon gleich neben dem «Alperösli» des Großvaters, unter dem gleichen Dach. Vor dem ersten Haarschnitt – sie war neun oder zehn – zog er nicht nur Louise einen Umhang über, sondern auch sich selber. Er fasste mit der rechten Hand die Schere, griff mit der linken nach Louises Hand und führte sie unter die Kutte, wo sie etwas hart Fleischiges halten musste. So gehöre es sich bei ihm und zum Haarschnitt, erklärte er dem eingeschüchterten Mädchen. Was sie festzuhalten hatte, verstand sie lange nicht, niemand hatte mit ihr je über Derartiges gesprochen, sie lebte in einem Frauenhaushalt, und es gab keine auch nur ungefähre Anschauung. Es war ihr unangenehm, sehr, bei Huber, und mehr als das. Der Friseur keuchte, sein Atem schlug ihr stickig ins Gesicht, wenn er die Kopfseite wechselte, erneut nach ihrer Hand griff und sagte: Nicht loslassen.

Später bekniete Louise ihre Mutter, sie wünsche sich langes Haar. Es nützte nichts. Wenn man schon arm war, sollte man doch gepflegt daherkommen, meinte Lina. Ihrer Mutter zu erzählen, was sich im Salon ab­spielte, kam Louise nicht einmal in den Sinn. Sie begann eine kaufmännische Lehre, es ging weiter. Den Mor­gendienst eröffnete der Chef der Druckerei im Hinter­zimmer, indem er Louise am ganzen Körper abtastete. Er hatte damit einfach angefangen und dann so getan, als sei es so abgemacht. Einmal, sie waren alleine im Betrieb, sollte sich die Fünfzehnjährige morgens nackt auf den Tisch legen, das war zu viel.

Niemand außer Margrith wusste, dass die Männer sich angewöhnt hatten, von Louise zu nehmen, was im­mer sie wollten. Und dass sie nicht wusste, wie sie sich wehren konnte. Louise begann, ihre Gedanken in ein schwarzes Heft zu schreiben, gekauft in der Papeterie Kaufmann beim Dorfplatz. Weder Lina noch ihre ältere Schwester sollten davon erfahren, Louise versteckte das Heft mal unter dem Holz, das im Vorraum zu den Toiletten gestapelt lag, mal unter ihren Kleidern im Schrank. Sie schrieb von Sünden, auch eigenen, und dass sie den nächsten Sonntag herbeisehne. Der liebe Gott war eine Instanz geworden, das Heft ihr Begleiter.

In Europa herrschte Krieg, zu Hause war es eng. Louise trat der kommunistischen Jugend bei, zugleich unterrichtete sie in der evangelischen Sonntagsschule. Hier waltete ein charismatischer Pfarrer, eine große Figur in Albisrieden, seine Kirche war nur einen Steinwurf vom Chratz entfernt. Er wurde die bewunderte Liebe, vielleicht auch der Vater, den sie sich gewünscht hätte. Ihm vertraute sie sich an, er fand eine neue Lehrstelle für sie. Die beiden spazierten auf den Uetliberg, den Haushügel von Zürich, sie sollte erzählen. Dann plötzlich zwang er sie zum Kuss. Mehr nicht?, fragte ich Louise irgendwann zwischen ihrem siebzigsten und achtzigsten Lebensjahr, als sie mir davon erzählte. Nein, sagte sie trocken, es war Winter, es lag Schnee.

Am Schauspielhaus, wo der Widerstand gegen das Nazitum lebte, sah Louise alle neuen Stücke, das war billig für Lehrlinge, fast umsonst. Sie schickte sich an, Goethes Faust auswendig zu lernen, Verse daraus blieben bis ins hohe Alter haften –, setzte sich dazu abends gerne auf eine Wiese oberhalb von Albisrieden, direkt an der Straße.

Eines Tages sprach sie dort ein Mann an, Jules mit Namen, elsässischer Emigrant, und zu Fuß unterwegs aus dem Lager Birmensdorf in die Stadt. Dass dieser Jules gerne mit Louise angebändelt hätte, war für sie ebenso deutlich wie ihr eigenes Gefühl, dass sie das nicht wollte. Jules schlug vor, einen Freund mitzubringen, Emigrant auch er, einen gebürtigen Wiener. Damit war Louise einverstanden, neugierig war sie, und es trat auf: Felix, mein Vater, es war April 1943.

Ein paar Tage nach dem Treffen mit Felix kritzelte sie in ihr Heft:

Ich bin fast restlos glücklich. Ja, es gibt wahrhaftig Männer, die verstehen wollen und können.

Auf dieses Heft, das sie womöglich auch später geheim hielt, stieß ich, als ich nach dem Halmaspiel etwas Ordnung machen und die Zeitung, die zwar nicht mehr gelesen, wohl aber geliefert wurde, in den Abfall spe­dieren wollte. Ich hatte es noch nie gesehen, fragte um Erlaubnis und begann, darin zu blättern. Vorne waren die ersten Ziffern verschiedener Telefonnummern no­tiert, auch die meiner eigenen; Louise fragte zuweilen mitten im laufenden Telefonat, wie die Nummer laute. In der Mitte des Hefts hatte sie offensichtlich Tagebuch geführt, etwa die Hälfte dieser Seiten fehlte, herausgerissen.

Auf der letzten Seite standen in jugendlich schwarzer Schrift nur ein paar Worte, genau in die Mitte ge­setzt:

Schau, ich bin nur ein Internierter!

Felix wurde verlegt, nur drei Wochen nach dem ersten Treffen, er wurde in ein Lager in der Westschweiz be­ordert. Louise hatte freigenommen, zwei Stunden lang wartete sie im Schatten einer Platane hinter dem Bahnhof von Birmensdorf. Dann traf die Formation ein, Felix in der zweiten Reihe, lachte ihr zu. Ein paar Minuten waren sie alleine. Es sollte kein Abschied sein, das wussten beide. Louise wollte wissen, wohin die Reise ging, ob sie ihn besuchen könne. Bevor er in den Zug stieg, sagte Felix leise und kopfschüttelnd, die langen Arme mit offenen Handflächen zur Seite gestreckt:

Schau, ich bin nur ein Internierter!

Konnte er ahnen, dass er mit dieser Warnung Louises Herz gewonnen hatte?

Zu Hause im Chratz stieg sie in den ersten Stock, das schwarze Heft lag zwischen Unterlagen der Gewerbeschule Zürich Aussersihl:

«Zwei Menschen lösen ihre Hände, aus ihren Au­gen spricht die Qual, die heimlich sie im Herzen tragen: Sehen wir uns wohl z. letzten Mal? … Doch eins ist das Wunderbare, dass Menschenherzen gläubig schlagen: Ich bin bei Dir, für Dich bereit.»

Im Haus zur Bachwies hielt ich vierundsiebzig Jahre später das Heft in der Hand und fragte Louise: Hast du das geschrieben oder irgendwo abgeschrieben? Na hör mal, gab sie zurück, es gab welche, die meinten, ich könnte Schriftstellerin werden!

Sie war sechzehn, er sechsundzwanzig, sie eine beinahe noch unschuldige, temperamentvolle Christin und er ein lebenserfahrener, staatenloser Jude, der fünf Jahre lang um sein Leben gerannt war und eben seine Familie und sich selbst gerettet hatte. Er kannte die Liebe, war der leidenschaftlichen Begegnung fähig wie der Verbindlichkeit, glaube ich, und noch nie standen die Zeiten so gut für einen neuen Anfang. Louise trug, trotz allem, was sie erlebt hatte, in sich den Drang zu einem Ganzen, zu etwas Heilem gar, und wenn es die Kirchenglocken von Albisrieden waren, die den Klang gaben. Vielleicht dachte Felix schon an Kinder, die nie erleben sollten, was er kannte.

Ihn trieb nicht der Ehrgeiz einer beruflichen Karriere, sondern der Wunsch, eine Familie zu gründen, die er sich vorstellte als die Bewohner einer unzerstör­baren Nussschale im Sturm der Zeiten. Er sehnte sich nach einer unbelasteten Zukunft. Er war nicht der Einzige in Europa. Wusste er, wie kühn es war, dafür die eigene Familie zum Vehikel zu machen? Vielleicht spielte im Hin­tergrund Pfarrer R. eine Rolle, zog gar die Fä­den: christliche Nächstenliebe gegen gottlose Barbarei, Louise als ihr Instrument.

Louise war angetan von der Kultur und vom Witz des vielsprachigen Weltgängers, so einen hatte sie im «Alperösli» nie getroffen, das gab es in Albisrieden nicht. Die beiden schrieben sich fast täglich, fürs schwarze Heft blieb keine Zeit. Zweimal reiste Louise in die Westschweiz, einmal kam Felix nach Zürich. Louise war ­we­­­­­der kleinlich noch berechnend, es zählte nicht, dass Felix staatenlos war und ohne Beruf, nach drei Monaten war klar: Man wollte heiraten. Die kaufmännische Lehre sollte Louise zu Ende bringen, das war nur vernünftig.

Es war die Zeit des Aufbruchs, Louise war aufgekratzt. Im Tram mit den noch hölzernen Sitzen beobachtete Freundin Margrith auf dem Weg in die Schule, wie Louise gleichgültig in die Luft schauende Zürcher anging: Wie könnt ihr einfach so stumpf zur Arbeit fahren, wo Hitler doch massenhaft unschuldige Menschen abschlachtet, mitten in Europa, nicht weit von uns entfernt!

Endlich wurde deutlich, dass Hitler und seine Truppen den Krieg verlieren würden, bloß: wann? Zu gerne hätte Felix doch noch gekämpft, französische Militärpapiere hatte er ja. Womöglich spürte er, dass es gesünder wäre, den Hass ins Feld zu schicken, statt ihn durchs Leben zu tragen. Rundum rieten alle ab, sich einer jener französischen Einheiten anzuschließen, die den Kontinent mitbefreiten, zuvorderst die Kommunisten: Man müsse alle Kräfte sparen für den Aufbau der neuen, ge­rechten Welt, später, im alten Heimatland.

Nie wieder Krieg. Im Kongresshaus wurde das Ende des Krieges gefeiert, Bertolt Brechts Gedicht An die Nachgeborenen gab den Takt an, Vater war kein Parteimann, aber man war links, natürlich, und der Blick ging direkt nach vorne. Wohin gehen, wo leben? Alles fast schien möglich, alles zugleich schwierig, nichts war gesetzt. Gewiss war: Sie mussten die Schweiz wieder verlassen, Flüchtlinge durften nur bleiben bis zum Ende des Krieges. Es lockte, es blieb: Paris.

Wir saßen am Fenster, zwischen uns Heft und Halmabrett, Louise trank den Kaffee, den ich am Automaten im Aufenthalt geholt hatte, selber verzichtete ich lieber, eine Lüürebrüe hätte sie solch schwachen Saft früher genannt, die Tasse fasste sie mit beiden Händen, sie zitterte ein wenig, aber es ging.

Über den kleinen Park um die Bachwies legte sich Dunkelheit, Lichter gingen an. Im Herbst wurde es früh dunkel in dieser Stadt, die Farben erinnerten mich an die Zeit, wenn ich als Bub ausgehungert vom Eishockeyspiel auf dem Rad nach Hause fuhr, den Schläger hatte ich von hinten längs durch den Gepäckträger gezogen, er verlief parallel zur Querstange und störte beim Treten kaum, die Schaufel lag vorne nach innen abgedreht gegen die vordere Radgabel, die Tasche mit den Schlittschuhen klemmte auf dem Träger mit der kräftigen Feder, für ein Chäschtli im Eisstadion reichte das Geld nicht.

Ich fragte Louise nach einem zweiten Spiel, nein, schüttelte sie den Kopf, sie sei müde, aber allen Enkeln möchte sie ein Halmaspiel schenken. Ob ich das besorgen könne?

Les cigarettes de troupe

Felix wollte kämpfen und zurückschlagen, statt zu fliehen und sich zu verstecken. Er war ein schlanker, fast magerer Mann, die Zähigkeit eingeschrieben in den Ap­parat des Körpers. Schnell sprach er fast perfekt Franzö­sisch, das half, Paris war ein glattes Parkett, das er bald kennenlernte, stets zu Fuß unterwegs, auf der Suche nach Unterkunft, Arbeit, Nahrung. Schlau musste man sein: Wo sich vordrängen und die Brust breitmachen, wann sich zurückhalten oder verschwinden, die Regeln bestimmten andere.

Er hatte auf dem Amt einen refus de séjour bekommen, die offizielle Ablehnung eines legalen Aufenthaltes, Frankreich nahm Flüchtlinge kaum auf, ausweisen aber konnte man sie nicht, wohin auch. Der Bescheid musste jeden Monat auf der Präfektur erneuert werden. Die Beamten konnten launisch sein und den Stempel aus fadenscheinigen Gründen verweigern. Wurde man auf der Straße kontrolliert, ohne dass die Ablehnung verlängert war, landete man im Gefängnis.

Dann war Krieg. Von der Sammelstelle hinter der Gare St. Lazare aus ging es per Bahn und später einem langem Fußmarsch in die Normandie und hinter Stacheldraht, in ein Lager, Deutsche und Österreicher galten jetzt als feindliche Ausländer. Noch in der Eisenbahn hatte sich ein Mann Felix vorgestellt, gute zehn Jahre älter als er, Shlomo Schapiro war Kommunist, Atomphysiker von Beruf, in Polen geboren, klein gewachsen, schnell sprechend, als wollten die Silben sich gegenseitig überholen, er wollte Felix für die KP gewinnen.

Die Dorfbewohner in der Normandie empfingen die deutsch sprechenden Männer unter Beschimpfungen, die sie kaum verstanden, außer sales boches. Fäuste wurden geschwungen. Die Bauern wussten nicht, dass es sich um Flüchtlinge handelte, höchstens ein paar deutsche Spione waren darunter, die Provinzzeitungen hetzten gegen die Zuwanderer, die man durchfüttern müsse.

Wer seine Feinde waren, wusste Felix. Aber gab es in diesen rüden Zeiten auch einen Stern, eine Idee, die ihn leiten konnte? Die politischen Flüchtlinge waren straff organisiert, Kommunisten und Trotzkisten rivalisierten, auch wenn die Weltrevolution das gemeinsame Ziel war.

Noch in der ersten Woche folgte Felix Shlomos Einladung in eine der drei kommunistischen Zellen, die im Lager aktiv waren. Ein Universitätsprofessor aus Köln trug die Rede vor, die Josef Stalin zur Umsetzung des Fünfjahresplans der KPdSU gehalten hatte. Sie war langfädig, der Vortrag ging über Tage, er handelte von den neuen Zielen in der Getreideproduktion und, ja, auch jener in der Rüstungsindustrie. Diszipliniert und andächtig hörten die Männer zu, Fragen wurden kaum gestellt, auch Shlomo verhielt sich merkwürdig ruhig, Felix wunderte sich.

Klar war, dass die Kommunisten in den Untergrund wollten, in die Résistance, statt in die Fremdenlegion, das war die andere Möglichkeit. Der Pakt, den Stalin, der oberste Genosse, mit Hitler geschlossen hatte, war unantastbar, mit den Alliierten zu kämpfen unmöglich, gegen den Willen der Partei, der man zu folgen hatte. Stalins Mordtaten in der Sowjetunion kannte man; Shapiro erklärte Felix, es handle sich bei den Säuberungswellen um die Kinderkrankheit einer weltumspannenden Idee, welche die Menschheit bald erlösen würde.

Man schlief auf Stroh, Ratten rannten durch den Saal, Mückenschwärme stiegen vom nahen Moor auf, die Tiere freuten sich am Menschenfleisch, besonders um die Latrinen, eine gab es auf hundert Mann. Das ewige Kratzen von Fleischmann, einem Berliner Trotzkisten, war kein Tick, er hatte im Bordell Filzläuse aufgelesen, die sich schnell verbreiteten. Grünbaum, behaart wie ein Affe und also davon besonders betroffen, liiert nach kürzester Zeit mit einer Nonne aus dem Dorf, schlich nachts nicht nur zu dieser, auch in die Feld­apotheke, strich sich den ganzen Körper voll mit einer Paste, sodass er bald wegen Quecksilbervergiftung im Krankenhaus lag.

Das deuxième bureau, so hieß die französische Spionageabwehr, stellte fest, Felix sei ein richtiger Flüchtling, kein Kundschafter des Feindes, so wurde der Weg frei, um Legionär zu werden, Angehöriger einer fran­zösischen Militäreinheit. Er führte eine letzte, heftige Diskussion mit Shlomo Schapiro, der ihn im Lageralltag schützend begleitet hatte, er war ein Freund geworden. Felix wollte den Kommunisten mitnehmen, Hitler sei ein gemeinsamer Feind der Menschheit. Nichts war zu machen, gäbe es in der Legion eine eigene antifaschis­tische Einheit, dann, ja, aber so, niemals, argumentierte Shlomo. Und Felix solle nicht vergessen, wozu die Le­gion eigentlich da sei: Um das französische Kolonialreich zu erhalten. Das sei nicht die Internationale, die er wolle.

Es blieb Schapiro erspart, zu erfahren, wie Hitler selber den Bund mit Stalin brach, da war er als Kämpfer im Untergrund bereits erschossen, er hatte einen An­schlag vorbereitet, er war unvorsichtig gewesen, ein miserabler Bombenleger, kein Praktiker, ein Denker, der sich geirrt hatte. Einer unter vielen.

Felix reiste alleine nach Marseille. Die Legion nahm ihn auf, sportliche junge Männer waren gefragt, im neuen Status pour la durée de la guerre, eingekleidet zunächst in eine hellblaue Uniform aus dem Ersten Weltkrieg mit Wickelgamaschen über dem Schuhwerk. Ein komischer Anblick, fand er, vor dem Spiegel im Keller des Fort St. Jean, als er die passende Rockgröße gefunden hatte, wäre die Situation bloß nicht so ernst. Schmutzig war es hier, im Fort stank es vom Keller bis zum Wachturm penetrant, am schlimmsten war es im Schlafsaal.

Zunächst gab es vierzehn Tage Urlaub, Felix reiste nach Paris. Er traf Theo, auch er wollte in die Legion, Ri­chard hatte bereits unterschrieben, es erwies sich als unmöglich, sich gemeinsam einteilen zu lassen. Felix war der einzige Legionär seiner Einheit, der rechtzeitig aus dem Urlaub nach Marseille zurückkehrte, die Un­teroffiziere hießen ihn von morgens bis abends Steine vom Fort hinunter in den kleinen Hafen und wieder hochtragen. Besser wurde es, als der deutsche Komman­dant einen Bridgepartner suchte, Felix spielte zweimal im Offizierskasino mit Hübner Karten. War es klüger, ihn vorsichtig gewinnen zu lassen? Jedenfalls mussten keine Steine mehr geschleppt werden.

Legionäre verpflichteten sich für mindestens fünf Jahre, zehn oder fünfzehn waren auch möglich, der Vertrag war kaum aufzulösen. Dafür wurde niemand nach seinem Vorleben gefragt, Abenteurer, Betrüger, Diebe, Mörder, jeder wurde aufgenommen. Das Gehalt stieg, je länger man dabei war, mancher konnte ein kleines Vermögen anhäufen. Die Emigrantensoldaten waren schlecht bezahlt, dafür gehörten zum Sold ungefragt Zigaretten, drei Packungen pro Woche, «cigarettes de troupe» hieß die Eigenmarke, vertrieben nur in der Le­gion.

Die Regeln waren hart, aber eindeutig. Auf Befehlsverweigerung stand die Todesstrafe, und sie wurde ausgeführt. Die höheren Offiziere, welche die Frischlinge kaum je zu sehen bekamen, waren Franzosen, manche hatten in der regulären Armee gedient und waren nach Fehltritten versetzt worden. Im Rang der Unteroffiziere kommandierten geflüchtete Kriminelle, viele kamen aus Deutschland und waren schon Jahre im Dienst.

Dazu kamen jetzt jüdische und andere Flüchtlinge, oft studierte Männer ohne militärische Ausbildung, die kämpfen wollten und von den Unteroffizieren ge­schlaucht wurden, teils sadistischen Spielen ausgesetzt, bedacht aber auch mit einem Viertelliter Rotwein zu je­der Mahlzeit. Das galt schon auf der Sidi bel Abbès, dem Schiff, das die jungen Krieger von Marseille nach Oran brachte, einem umgebauten Passagierdampfer. Aber niemand rührte den Wein an, allen war speiübel, zu stürmisch war der Himmel über dem berüchtigten Golfe du Lion.

Per Bahn ging es in die Garnisonsstadt Saida, man durchquerte eine Gebirgskette, die parallel zum Meer verlief. Die Europäer staunten: Auf die nordafrikanischen Januarhügel, an denen man nicht viel schneller als im Schritt vorbeizog, fiel Schnee. Saida lag in einer Mulde, mit ausgedehnten Kasernen, es wurden die Köpfe kahl rasiert, die nächste Uniform war in Kaki, sie trafen die ersten alten Legionäre im aktiven Dienst.

Im Fort lagerten die Schätze und Archive der Legion, die man zu besichtigen hatte, hier war die Zentrale. Une seule devise aux lèvres: Legio Patria Nostra war das Motto, die Legion ist unser Vaterland, es begann die Rekru­tenschule. Felix hatte Glück, er diente unter Adjutant ­Wiesengrund, einem leicht tuberkulösen ungarischen Juden mit sanftem Einschlag, seit zehn Jahren ununterbrochen in Afrika, nicht von der Art, wüste Drohungen auszusprechen darüber, was noch folgen werde, was verbreitet war.

Die Marschübungen begannen früh um 4.30 Uhr, trainiert wurden Dreier- wie Neunerreihen, drehen links wie drehen rechts. Die Kompagnie machte Märsche bis in den Atlas, die Offiziere zu Pferd, die Truppe zu Fuß. Mittags und abends gab es den Viertelliter Wein, der in den wasserverwöhnten Hügeln des Rifgebirges wuchs, genau wie der Tabak und das Haschisch, Kif ­ge­nannt, aber das war keine Soldatendroge.

Der fruchtige, etwas schwere Legionswein war ge­wiss der Grund, dass Jahrzehnte später im nebligen Schweizer Mittelland, bei uns zu Hause, stets algerischer Rotwein auf den Familientisch kam, Sidi Brahim mit Namen. Nicht nur war dieser billig, was auch zählte, als einziger Wein in der Literflasche angeboten, sein Ge­schmack erzählte eine Geschichte.

Das erste Gewehr war das Fusil le Bel aus dem Jahre 1894, benannt nach seinem Erfinder, mit Bajonett mehr als mannslang, knapp fünf Kilo wog es, acht Patronen fasste das Magazin, pro zehn Mann gab es dazu ein automatisches Gewehr. Felix war der beste Schütze und wurde tireur d’élite, darüber konnte er nur schmunzeln, was den künftigen Kampf gegen Hitler anging, war der Waffenpark ernüchternd, wie sollte dieser Krieg gewonnen werden?

Urlaub gab es in den drei Monaten der Rekrutenschule nur einmal. Felix ließ sich von einer eingeses­senen jüdischen Familie zum Essen einladen. Der Vater holte ihn vor der Kaserne ab, erstmals geriet Felix in eine Medina, er staunte über den Eierverkäufer, der Hun­derte davon aufgetürmt hatte, vier Kompanien, ge­trennt nach Größe, er schien diese in einer unendlichen, sinnlos scheinenden Bewegung immer weiter umzuschichten, der Gastgeber musste Felix fortziehen. Er liebte es, Szenen des Alltags zu beobachten.

Es war ein Festmahl auf dem Dach eines kleinen Hauses mitten in Saida: Couscous mit Gemüse und Lamm, karamellisierte Zwiebeln obendrauf. Vater, Mutter, Sohn und eine Tochter, die sich gerne und lang mit Felix unterhielt. Rachel war von ganz anderer Art als jene Frauen, die Sack und Pack auf Esel luden, Ziegen hatten und ihren geliebten Legionären in die Wüste nach­zo­gen, eine Art Familie bildend. Und erst recht an­ders als jene Frauen, die im geschlossenen Wagen ganz am Schluss des Trosses Platz nahmen, das mobile Bordell der Karawane.

Dann mischten sich die Rekruten mit der alten Truppe. Angst durfte man vielleicht haben, aber sicher nicht zeigen. Da waren die beiden Messerstecher, Brüder, Juden, blond und dunkel, unberechenbar. Einer der Mörder des deutschen Politikers Rathenau, seit Jahren im Legionsdienst, traf auf einen Flüchtling, der ein ­Neffe des deutschen Ministers war. Zwei rechtsextreme Kroaten, der eine sah harmlos aus, der andere war es nicht und sah auch nicht so aus, schliefen im gleichen Zelt wie Felix. Im übernächsten Bett schlief der rothaarige rumänische Jude Siehl, der auf Vater losging, an­geblich hatte er seine Zahnbürste umgestoßen.

Die Soldaten waren Teil eines Treppenwitzes der Weltgeschichte, die grade besonders viele Menschenleben kostete. Zum Wein aß man Linsen, Bohnen und Makkaroni, verteilt wurden die Rationen vom Armenier Rumian, der seinen Clan krass bevorzugte, so zumindest sah es Felix, der sich lautstark beschwerte. Rumian gab zurück, die ersten Schläge wurden getauscht, tu sors, sagte der Korporal, das war die Aufforderung zum Duell.

Der Saal unterstützte Felix, mit Ausnahme der russischen Fraktion, einer geschlossenen Gruppe, kaum des Französischen mächtig. Rumian verlor einen Zahn, gab auf. Vater hatte gesiegt, hatte aber nie mehr Ausgang. Und ich habe Mühe, Jahrzehnte später, mir den Vater als Mensch der Gewalt vorzustellen. Ich sah ihn milde, fast immer. Geduldig stellte er den Junghans-Chronometer ein, um zu messen, wie viel Einmaleinsrechnungen ich in einer Minute richtig löste, niemals wurde er aggressiv. Auch nicht, als ich mich im Pfadfinderlager einsam fühlte und die Leiter dazu nötigte, zu Hause anzurufen; Vater holte mich ab, als wäre ein Schweizer Pfadilager mit der Legion zu vergleichen. Und es änderte nichts, dass Louise meinte, ich solle durchhalten.

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