Kitabı oku: «Lebendige Seelsorge 2/2017», sayfa 2

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Aber es können natürlich Ängste bleiben, die nicht genommen werden können. Grundsätzlich sollte immer geprüft werden, ob der Patient unter einer Depression leidet, was bei fortgeschrittenen Erkrankungen nicht selten der Fall ist. Eine Depression kann sich durch schwer kontrollierbare körperliche Beschwerden, ausgeprägte Ängste oder tiefe Verzweiflung zeigen. Diese werden deutlich gelindert, wenn die Depression adäquat behandelt ist. Bei fortbestehenden Ängsten und Sorgen sind wiederholte Gesprächsangebote, fürsorgende Begleitung, die Zusage, den Menschen bis zum Schluss zu begleiten und nicht allein zu lassen, grundlegende Maßnahmen in der Betreuung. Manchmal ist es „einfach“ das Mitaushalten der Situation und das schweigende Dabeisein. Dies sind natürlich keine einfachen Aufgaben und fordern auch den Begleitern viel ab.

Viele Menschen haben eigene Kraftquellen und Ressourcen, die ihnen auch schon in früheren schweren Lebenssituationen Kraft gegeben haben. Dies kann emotionale und praktische Unterstützung durch Familie und Freunde sein, und durch das Gefühl der Zugehörigkeit. Aber auch der eigene Glaube, die Gottesbeziehung, die Natur, die Freude an kleinen, früher vielleicht selbstverständlichen Dingen können helfen. Manchmal brauchen Menschen Unterstützung, um diese Ressourcen wahrnehmen und nutzen zu können.

Viele wollen die Zeit des Sterbens bewusst erleben und gestalten, nutzen das Zugehen auf das Sterben um Rückschau auf das Leben zu halten oder eine Lebensbilanz zu ziehen. Andere können dem nahen Ende nicht so leicht entgegensehen und verdrängen die Situation eher. Die Verdrängung ist für manche zum Schutz der Seele notwendig, wenn die Situation zu bedrohlich wird. Dann ist es die Aufgabe der Begleitenden, behutsam zu prüfen, ob es möglich ist, den Patienten schrittweise an die Realität heranzuführen oder vielleicht auch in der Verdrängung zu lassen.

SCHLUSSBEMERKUNG

Palliativmedizinische Betreuung kann viel zur Linderung von Leiden bei fortgeschrittenen Erkrankungen beitragen. Sie wird aber immer

noch sehr mit dem Lebensende, also den letzten Lebenswochen und -tagen verbunden. Es herrscht insgesamt eine große Scheu, den Kontakt mit entsprechenden Diensten zu suchen, da befürchtet wird, dass dann das Sterben nahe ist. Dies wird aber zur selbsterfüllenden Prophezeiung, je länger gewartet wird.

Es gibt in der Zwischenzeit gute wissenschaftliche Daten, die den Benefit frühzeitiger Einbindung palliativmedizinischer Betreuung zeigen. Patienten, die durch die Betreuung eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensqualität spüren und sagen, „ach wäre ich doch schon eher zu Ihnen gekommen“, sollten in Zukunft immer weniger werden. ■

LITERATUR

Statistisches Bundesamt (Destatis): www.destatis.de/DE/Zahlen-Fakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Todesursachen/Todesursachen.html (Zugriff: 29.01.2017).

Temel, Jennifer S./Greer, Joseph A./Muzikansky, Alona et al., Early Palliative Care for Patients with Metastatic Non-Small-Cell Lung Cancer, in: N Engl J Med. 2010 Aug 19;363(8):733–742. doi: 10.1056/ NEJMoa1000678.

World Health Organization (WHO), National Cancer Control Programmes. Policies and managerial guidelines, 2nd Edition, Geneva 2000.

Die Lebens- und Sterbenswirklichkeit wahrnehmen

Die Replik von Ernst Engelke auf Claudia Bausewein

Claudia Bausewein ist mir als kompetente Ärztin und Palliativmedizinerin bekannt. Seit vielen Jahren engagiert sie sich sehr erfolgreich in der Palliativmedizin. Vieles verbindet uns in diesem Engagement, in manchem unterscheiden wir uns. Diese Unterschiede sind vermutlich unseren professionellen Sozialisationen geschuldet: als Ärztin, als Psychologe und Pastoraltheologe.

Die moderne Palliativ- und Hospizbewegung zielt auch für mich darauf, die Lebensqualität von todkranken Patienten in der verbleibenden Lebenszeit zu verbessern, auch wenn eine Heilung nicht mehr möglich ist. Dazu gehört die Beachtung der körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Ressourcen der Patienten und ihrer Angehörigen. Palliativmedizin und Hospizbewegung sind eng miteinander verbunden, ihre Wurzeln reichen nachweislich bis ins Mittelalter zurück (vgl. Stolberg).

Für Bausewein gehört es zur „Grundhaltung in der Palliativbetreuung, das Sterben als normalen Prozess zu sehen“. In der „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland“ heißt es in den Leitsätzen: „Sterben gehört […] zum Leben, es ist ein untrennbarer Teil des Lebens. Krank werden, älter werden und Abschied nehmen sowie damit verbundenes Leiden sind als Teil des Lebens zu akzeptieren“ (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin u. a., 8).

Zweifellos gehören auch nach meiner Auffassung Sterben und Tod zum Leben. Mit welchem Recht und auf welcher Basis kann jedoch behauptet werden, dass Krankwerden, Älterwerden und Abschiednehmen sowie damit verbundenes Leiden zu akzeptieren sind? Und es mag ja sein, dass für Ärzte und Pflegende das Sterben zu einem normalen Prozess wird – solange sie nicht selbst getroffen sind. Mit fast 1000 Ärzten habe ich deren palliativmedizinische Fälle besprochen. Fast alle Ärzte wollten erreichen, dass die Patienten ihre tödliche Situation realisieren und annehmen. Die Patienten haben sich dagegen gewehrt. Nach meiner Lebenserfahrung werden sich Ärzte, Pflegende, die Verfasser und Unterzeichner der Charta genauso verhalten, wenn sie selbst tödlich erkranken: Sie werden sich gegen den Tod wehren und ihr Sterben nicht akzeptieren. Denn Sterbenskranke wollen leben und Sterbende wollen heute noch nicht sterben, vielleicht morgen. Sie fügen sich erst ein, wenn sie keine Kraft zum Widerstand mehr haben und „nicht mehr können“.

Meines Erachtens müssen Patienten bei fortgeschrittener Erkrankung nicht schrittweise an die Realität herangeführt werden. Das ist meistens überflüssig, denn Sterbenskranke kennen ihre Realität; sie erleben sie ja, sind ihr ausgesetzt und müssen sich damit auseinandersetzen, ob sie es wollen oder nicht wollen. Sie wissen Bescheid und hoffen, dass es noch einen Ausweg gibt. Offen ist, wie sie darüber reden und mit wem sie darüber reden. Sterbenskranke und Sterbende haben keine freie Themenwahl: Ihre Lebensbedrohung ist ihr Thema. Auch wenn sie nur über eine erneute Chemotherapie oder neue Untersuchungen sprechen, sprechen sie ernsthaft über ihre Ängste und Hoffnungen, die sie mit der Therapie verbinden. Wenn sie reden, schwingen ihre Ängste und Hoffnungen immer mit. Fraglich ist, ob die Begleitenden das erkennen (als Beispiel Schlingensief).

Sterbenskranke stellen existentielle und spirituelle Fragen. Fast immer wird nach dem „Warum“ gefragt: „Warum muss ich sterben?“ Philosophische oder religiöse Exkurse dazu helfen selten. Eine zufriedenstellende Antwort wird gar nicht erwartet, weil es sie nicht gibt. Mit dem „Warum“ wird vielmehr gegen das Unbegreifbare protestiert. Das Fragezeichen ist ein Ausrufezeichen.

Menschen mit fortgeschrittenen Erkrankungen brauchen wahrhafte und einfühlsame Gespräche, in denen sie sich akzeptiert und verstanden fühlen. Begleitende, nicht nur Ärzte, müssen allerdings akzeptieren, dass diese Menschen sich gegen ihre lebensbedrohende Krankheit wehren und gegen den sich unaufhaltsam nähernden Tod kämpfen. In diesem Kampf sind sie zu begleiten. Die Begleitung wütender, zorniger, klagender, protestierender Patienten fällt (fast) allen Menschen schwer, geht unter die Haut. Die Begleitung von Patienten, die ihr Schicksal klaglos annehmen, ist allemal leichter. Ängste bewegen die Patienten. Existentielle Ängste können nicht genommen, sondern nur begleitet werden. Die psychische Verfassung kann mit Psychopharmaka sediert werden. Der Preis dafür sind die Nebenwirkungen. Panische Ängste, tiefe Verzweiflung oder Niedergeschlagenheit werden schnell als Zeichen einer Depression angesehen, sind aber Ausdruck einer tief gehenden, begründeten Trauer. Echte Depressionen kommen vor und sind psychiatrisch zu behandeln.

Sterben ohne Angst – geht das? Dagegen stehen meine Erfahrungen und meine Ängste vor dem Sterben. Ich weiß, dass – wie Claudia Bausewein – viele Ärzte, Pflegende, Psychologen, Sozialarbeiter und Seelsorger Sterbenskranke und Sterbende in Kliniken, Heimen, Hospizen und Wohnungen würdevoll betreuen und sie in ihren Ängsten und Hoffnungen begleiten. Dafür bin ich dankbar und darauf baue ich. ■

LITERATUR

Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e. V./Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e. V./Bundesärztekammer (Hg.), Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland, Berlin 2010.

Schlingensief, Christoph, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung, München 2010.

Stolberg, Michael, Die Geschichte der Palliativmedizin. Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute, Frankfurt a. M. 2011.

Auch die Zeit des Sterbens kann Quelle der Hoffnung sein

Die Replik von Claudia Bausewein auf Ernst Engelke

Wahrheit am Krankenbett ist auch heute ein zentrales Thema in der Begleitung Schwerkranker und Sterbender. Das bedeutet v. a. wahrhaftig zu sein im Umgang mit den Betroffenen. Alles, was ich sage, muss der Wahrheit entsprechen. Aber ich muss dem Patienten nicht die ganze Wahrheit mitteilen, wenn er oder sie diese nicht wissen möchte. Daher sollten wir uns am Patienten orientieren und immer wieder rückversichern, was und wie viel er wissen möchte. Oder, um mit Kierkegaard zu sprechen: „Wenn wir jemandem helfen wollen, müssen wir zunächst herausfinden, wo er steht.“

Damit wird aber auch deutlich, dass jeder Kranke und Sterbende ein Individuum und damit einzigartig ist. Obwohl Elisabeth Kübler-Ross viel für die Begleitung Sterbender erreicht hat, erlaubt ihr Phasenmodell, wie von Ernst Engelke angedeutet, eben nicht diese Individualität. Es birgt die große Gefahr, Menschen in Schubladen zu stecken, und zu meinen, dass sich jemand von einer Phase in die nächste bewegen muss bzw. noch nicht sterben kann, weil er ja noch nicht alle Phasen durchlaufen hat. DEN Sterbenden und damit einen gesetzmäßigen Verlauf kann es also nicht geben, auch wenn äußerlich – physiologisch gesehen – eine gewisse Ähnlichkeit der Veränderungen in der Sterbephase zu beobachten ist. So einzigartig wie das Leben ist, so einzigartig sind die Menschen auch im Sterben.

Ob es in der Einzigartigkeit tatsächlich so ist, dass jeder Kranke „zu Erkenntnissen kommt, […] die er nicht ignorieren kann“ oder „Aufgaben lösen muss“ sei aber dahingestellt. Eben weil die Menschen so einzigartig sind, gibt es viele, die sich den Herausforderungen des Lebensendes stellen, aber es gibt auch viele, die die Situation nur aushalten, indem sie sie verdrängen und eben diese Aufgaben nicht erfüllen wollen oder können. Und das sollten wir ihnen zugestehen und respektieren, denn, wie richtig angemerkt, hängt es von vielen Faktoren ab, wie jemand sein Leben lebt und mit seinem Sterben umgeht.

KEIN NEUES SCHUBLADENDENKEN

Auch wenn die meisten Menschen sehr am Leben hängen, gibt es nicht wenige, die nach einem erfüllten Leben und langer Krankheit „lebenssatt“ sind und nicht unbedingt gegen ihr Schicksal ankämpfen. So wie wir Kübler-Ross kritisieren für ihr „Schubladen-Denken“, so sollten wir nicht neue Schubladen schaffen, indem wir bestimmte Attribute, z. B. der Verallgemeinerung oder bestimmter Themen, allen Sterbenden zuschreiben. Sterbende kennen nicht nur das eine Thema – die Erkrankung und den Wunsch zu leben, sondern es gibt viele Themen und Fragen, die sie am Lebensende bewegen. Da ist die Sorge um die Familie, manchmal sogar stärker als die Sorge um sich selbst, oder die Frage, was lasse ich zurück, kann ich „ja“ sagen zu meinem Leben?

Diese Fragen wollen gehört werden. Dazu braucht es das Ohr des Begleiters, der die Sprache der Sterbenden versteht und ihre Bilder mit ihnen deutet. Und der ihre Ängste hört und versteht, sie mit aushält, aber auch hilft, dass die Ängste nicht nur lähmen und überwältigen, sondern sich auch in Hoffnung verwandeln. Dieses Spannungsfeld zwischen Angst und Hoffnung, oder die Ambivalenz, wie Engelke es nennt und treffend beschreibt, prägen diese Zeit des Abschiednehmens. Wenn es auch für Außenstehende schwer vorstellbar ist, aber auch die Zeit des Sterbens kann eine Quelle von Hoffnung sein. Hoffnung auf vieles – auf möglichst wenig körperliche Beschwerden, auf Nähe zu den Lieben, und letztlich dann auch in Frieden gehen zu dürfen.

Es ist sicher auch eine Zeit der unrealistischen Hoffnungen, die für die Umstehenden oft eine Herausforderung sind, besonders, wenn es um Therapieentscheidungen und Entscheidungen am Lebensende geht. Unrealistische Hoffnungen lenken häufig den Blick von dem, was jetzt gerade ist, ab und nehmen vielleicht die Möglichkeit, sein Leben abzuschließen und noch die Dinge zu tun, die für den Betroffenen wirklich wichtig sind. Hier ist eine behutsame Begleitung, die den Blick wieder mehr auf das Hier und Jetzt lenkt und realistische Hoffnungen suchen lässt, sehr wertvoll.

Die Ambivalenz zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Festhalten und Loslassen, zwischen Einstimmen und Auflehnen scheint uns Menschen zutiefst zu eigen und ist in dieser Lebensphase fast normal. Diese Ambivalenz gilt es auszuhalten und, wie Engelke schreibt, mit einem „und“ zu verbinden. Es ist nicht entweder – oder, es darf beides sein und gehört zusammen.

Die Kunst und Aufgabe des Begleiters ist es, dies zu ermöglichen und den Patienten in seinem Weg zu unterstützen, auf dem der Kranke Richtung und Tempo vorgibt. ■

„Sterbegröße“. Wie Literaten auf das Sterben blicken

„Kostbarster Unterricht an den Sterbebetten“, so hat die Lyrikerin Hilde Domin in einem ihrer Gedichte formuliert. Was lernen wir an den Sterbebetten, wenn wir uns von Literaten dabei begleiten lassen? Erich Garhammer

Wer als Theologe mit dem Werk von Thomas Hürlimann ins Gespräch tritt, findet Anknüpfungspunkte, vertraute und irritierende. Hürlimann kommt immer wieder auf seine Herkunft aus der Familie des späteren Schweizer Bundesrates Hans Hürlimann zu sprechen, ebenso auf seinen Eintritt und seine Erfahrungen als Schüler im Kloster Maria Einsiedeln.

Dominiert aber werden alle seine Blickweisen vom frühen Krebstod des jüngeren Bruders: Der Schock über diesen Tod führt ihn zum Entschluss, Schriftsteller zu werden. Tod und Trauer durchwirken als untergründige Erschütterung, als Riss in seiner Weltwahrnehmung, als theodizee-empfindliche Grundhaltung sein gesamtes Werk. Sein Schriftstellerdasein versteht er als Anschreiben gegen Tod und Vergänglichkeit und er gibt dem existentiellen Bruch in seinem Leben immer wieder eine neue Sprachnote. Der Tod seines Bruders wird zum unerbittlichen Anstoß eines zweiten Blicks auf die Wirklichkeit, der auch den Riss und die existentielle Brüchigkeit wahrnimmt.

THOMAS HÜRLIMANN: „MIT DEN AUGEN DES TOTEN BRUDERS DIE WELT SEHEN“

In seiner Laudatio auf Thomas Hürlimann anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der Adenauer-Stiftung in Weimar (1997) hat August Everding dessen Schreiben so charakterisiert: „Hürlimann führt uns vor, daß Schreiben sterben lernen heißt – aber auch bewußter leben. Seine Worte wecken mein Bewußtsein, schärfen mein Gewissen, entzünden meine Phantasie, mobilisieren meine Sinne. Er läßt mich Menschen begegnen, denen ich sonst nie begegnet wäre, er taucht mich in Situationen, denen ich vorher nicht gewachsen war. Er entwirft Lebenswelten, die es so nicht gibt, und beschreibt Welten, die es gibt, so genau, daß man neu hinschauen muß. Seine Kunst tut weh, weil sie schonungslos unsere Gebrechen bloßlegt, und sie tut gut, weil sie Wunden heilt. Sie bereitet mich auf den Tod vor“ (Everding, 82). Literatur wird hier zur „ars moriendi“. Bei der Entgegennahme des Preises des Weilheimer-Gymnasiums konfrontierte Hürlimann in seiner Dankesrede die Schülerinnen und Schüler nicht nur mit dem Tod seines Bruders, er zeigte ihnen auch auf, wie im Mitgehen in solchen Grenzsituationen der Mensch Mensch wird, das Individuum Person. Gegen die Abkapselungstendenzen durch Walkman, PC und Fernsehkonsum setzte er die Erfahrung der Begleitung im Sterben:

Erich Garhammer

Dr. theol., Prof. für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg und Schriftleiter der Lebendigen Seelsorge.

„Mein Bruder, der zehn Jahre jünger war als ich, erkrankte im Alter von sechzehn Jahren an Krebs. Vier Jahre lang lebte und litt er mit dem Wissen: Es ist die Krankheit zum Tod, meine Zeit ist beschränkt. Er starb kurz nach der Matura, und viele haben sich damals gewundert, daß dieser junge Mann, der furchtbare Schmerzen ertragen mußte, Tag für Tag ins Gymnasium ging, sich Prüfungen aussetzte und ein Wissen anhäufte, das er, der Sterbende, ja gar nicht mehr verwerten konnte […]. Er tat dies, weil ihn sein Sterben einsam machte, und diese Einsamkeit, sagte er hin und wieder, sei fast schlimmer für ihn als die Krankheit […]. Sterben ist ein einsamer Gang – da wird ein Ich endgültig zu dem, was es ist, zum Individuum, also zum Ungeteilten, das ganz und gar für es selbst ist und von allen anderen getrennt. Aber seine Maturaklasse ließ Matthias in diesen Karfreitagsstunden nicht allein. Sie blieben bei ihm, und ich weiß, daß diese Erfahrung für alle wichtig wurde. Durch das, was sie in diesem Sterbezimmer erlebten, fanden sie ins eigene Leben, fanden sie […] zu sich selbst“ (Hürlimann 1995).

Hürlimann geht der Grunderfahrung „Tod und Sterben“ in seinem Werk als einem Thema mit Variationen immer neu nach. Eindringlich geschieht dies in der Titelerzählung „Die Tessinerin“. Im Zentrum steht das langsame und qualvolle Sterben der Tessinerin, der Frau des Dorfschullehrers im Bergdorf Eutel, einer Außenseiterin aus dem warmen Süden. Aus mehreren Blickwinkeln wird das Sterben der Frau geschildert: „Ende Januar hatten Tropfen und Zäpfchen keine Wirkung mehr. Wenn der Lehrer in der Schule war, schrie sie manchmal auf, sie stopfte das Laken in den Mund, oder sie packte, um den Schrei zu ersticken, ihre Missale zwischen die Zähne. Trotzdem wurde ihr Schreien gehört. Die Tessinerin, sagten sie, mache es bestimmt nicht mehr lang. Sie sagten es leise und nickten mit dem Kopf zum Lehrerhaus: Die Auszehrung sei‘s oder die Schwindsucht. Der arme Lehrer – die Frau sterbe ihm weg“ (Hürlimann 1984, 96).

Hier wird in der Erzählhaltung die Dorfperspektive eingenommen, apathisch, das Geschehen gefühllos kommentierend: „Die Tessinerin macht‘s nicht mehr lang.“ Das Gefühl gilt dem armen Lehrer – sie bleibt dagegen die Fremde, die Nichteinheimische. Dabei hatte sie durchaus dazugehören wollen: „Als die Frau vor 20 Jahren ins Dorf kam, betete sie jeden Morgen: Herr, laß es Abend werden und den Tag sich neigen. Sie freute sich auf die Abendsonne. Es gefalle ihr in Eutel ganz gut, hatte sie einmal gesagt, besonders an den sonnigen Abenden. Ja, hatten die Euteler gemeint, wer, wie sie, ein paar Jahre in der Sonnenstube gelebt habe, sei eben besseres gewöhnt. Nein, hatte daraufhin die Frau, die damals noch sehr jung war, auflachend gesagt: Sie vermisse nicht die Sonne. Aber manchmal vermisse sie das interpopuläre Leben; das habe sie im Tessin in den Grandhotels kennengelernt“ (Hürlimann 1984, 97f.).

Aus der Perspektive des Dorfwirtshauses wird auf das Lehrerhaus geblickt, in dem die sterbende Frau liegt, das Dorfauge nimmt von hier aus das Geschehen wahr: „Man hatte den Pater Cyprian, den Sigristen (Küster) und den Lehrer nach der Messe über den Platz gehen sehen. Einige von den Alten, den Hut an die Brust drückend, hatten das Knie in den kalten Schnee gebeugt. Im Leuen (Wirtshaus) wurde nur noch selten etwas gesagt. Sie stierten, als seien sie bös verstritten, in ihre Gläser – die ‚Frau des Lehrers‘ sagten sie. Beinah beschwörend und zum ersten Mal seit 20 Jahren wurde die Frau des Lehrers ins Leben gerufen: Eine Tessinerin, als sei die schon lange tot, wurde nicht mehr erwähnt“ (Hürlimann 1984, 116).

Erst im Sterben wird die Tessinerin zur Frau des Lehrers – über den Mann gehört sie zum Dorf, eine eigenständige Person ist sie aber immer noch nicht. Die Einsamkeit des Sterbens macht ihre Einsamkeit im Leben deutlich: In diese Erzählung hinein verschmilzt der Erzähler die Erfahrung des Lehrers dann mit der ur-eigenen Erfahrung: „Wer in einem Sterbehaus an einem Sterbebett jemals gesessen hat, weiß, daß unsere Uhrzeit ihre selbstverständliche Gültigkeit verlieren kann. Wer in einem Sterbehaus an einem Sterbebett sitzt, wer in seinem Hirn nach Wörtern sucht, um nicht verrückt zu werden und zu grinsen wie ein Blöder, der erfährt, ob er nun der Euteler Lehrer sei am Bett seiner Frau oder ich am Bett meines Bruders (worüber ich schreiben wollte und nicht schreiben kann), daß ein sterbender Mensch einem fremd wird, weil er Stille erzeugt – eine feierliche Stille. Wer je vor einem Sterbenden anwesend war, der hat auf seine Weise die Totenstille – jawohl : gehört!“ (Hürlimann 1984, 110).

Ein paar Seiten weiter setzt dann der Autor seinem Bruder ein literarisches Epitaph; der heiße Kern seines Erzählens wird fühlbar. Es ist der Tod seines Bruders, um den sein Schreiben immer wieder kreist: „Zug, den 19. Februar 1981. Mein Bruder war tagelang, nächtelang am Verenden. Fast vier Jahre war er krank. Er wußte, daß es die Krankheit zum Tod war. Er hat den Todeskampf, das letzte, grausame Stück der Sterbearbeit, als Todeskampf wahrgenommen. Er hat, immer wieder zu klarem Bewußtsein erwachend, über das Verenden gesprochen. Wenn ein Mensch verende, sagte er, verende alles. In allem, was sei, werde das Verenden sichtbar, nur noch das Verenden sei wirklich. In jedem Atemzug höre der Sterbende seinen letzten Atemzug, im Einbrechen der Nacht breche die Nacht herein, wenn er erwache, müsse er sich im Zimmer vorsichtig umsehen. Er könne alle seine Träume, wenn er nachdenke, sofort verstehen. Manchmal stelle er fest, daß er, vielleicht stundenlang, nicht gedacht habe, nichts – was er wiederum einordnen könne in das immer geheimnislosere immer dichter werdende, sozusagen plumpe Wahnsystem. Sterben sei Wahnsinn. Wie ein Wahnkranker fühle der Sterbende sich verfolgt. Alles, was er denke, träume, fühle, sehe, höre – es sei bestimmt von dieser einen wahnsinnigen Idee: Du stirbst! Du! Diese Idee mache ihn groß und bedeutend, was niemand verstünde. Niemand anerkenne seine Sterbegröße, niemand vermöge seinen Todeskampf als Bravourstück zu bewundern. Spiele einer am Bett den Mitleider, sei dieser Mensch für ihn gestorben. Zwangsläufig sterbe alles, alles um ihn herum. Sogar die Zeit vergehe, sie zerfalle, er ahne es. Matthias. 26. September 1959– 7. Februar 1980“ (Hürlimann 1984, 122f.).

Das Wort „Sterbegröße“ ist die Entdeckung in diesem Text. Es kann den Blick radikal verändern. Wenn ich weiß und anerkenne, dass jeder Mensch jenseits aller Grenzen und jenseits von all dem, was äußerlich wahrzunehmen ist, eine letzte Größe hat, eine Sterbegröße hat. Diese Sterbegröße gilt es zu respektieren.

ROBERT GERNHARDT: K-GEDICHTE

Beim Lyriker Robert Gernhardt dominiert ein ganz anderer Ton. Der Titel K-Gedichte macht deutlich: es geht um Krebs, Krebserkrankung und ihre Bearbeitung im Gedicht. Auch der Gedichtband „Später Spagat“ enthält Krankheitsgedichte, im Ton von Heinrich Heine, der lange in der Matratzengruft gelebt und seine Spottverse über Gott losgelassen hat. Sein Gedicht „Miserere“ beginnt so:

O Gott, verkürze meine Qual,

Damit man mich bald begrabe;

Du weißt ja, daß ich kein Talent

Zum Martyrtume habe.

(Heine XI, 332)

So macht es auch Robert Gernhardt. Kein weihevoller Ton oder kein sich ergeben, sondern einfach noch mal alle Geschütze auffahren, die er sein Leben lang in Gebrauch hatte. Er war Lyriker und Parodist. Und wieso jetzt einen anderen Ton annehmen? Passt doch nicht zu mir. Ein bezeichnendes Gedicht von ihm lautet „Von Fall zu Fall“:

Herrgott! Ich fiel aus deiner Hand

grad in des Teufels Krallen.

Doch hör! Der kleine Unterschied

ist mir nicht aufgefallen.

(Gernhardt, 941)

Gott und der Teufel gehören in der alten „ars moriendi“ zu den Streitparteien am Sterbebett, die versuchen, die Oberhand zu behalten. Im christlichen Sterben soll Gott gewinnen: „In deine Hände lege ich meinen Geist.“ Bei Gernhardt sind beide Parteien gleich grausam: „Herrgott! Ich fiel aus deiner Hand grad in des Teufels Krallen. Doch hör! Der kleine Unterschied ist mir nicht aufgefallen.“

RAINER MALKOWSKI: DER ARME HEINRICH

Rainer Malkowski, ein bekannter Lyriker, der an Krebs erkrankt und dabei fast das Augenlicht verliert, trifft alle Vorbereitungen, um mit dem Hubschrauber nach Zürich geflogen zu werden, um dort dem Leben ein Ende machen zu können. Er geht noch einmal an seinem Bücherschrank entlang – das klingt jetzt wirklich abenteuerlich – und zieht daraus das mittelhochdeutsche Buch „Der arme Heinrich“ von Hartmann von Aue hervor. Dieses Buch lässt ihn nicht mehr los.

Es geht darum, dass der arme Heinrich erkrankt, unheilbar krank wird und deshalb nach Salerno pilgert zu den berühmtesten Ärzten der damaligen Zeit. Sie bedeuten ihm: es gibt keine Hilfe mehr für dich, außer du findest ein junges Mädchen, das sich für dich opfert. Er kehrt nach Hause zurück, erzählt im Gehöft, wo er lebt, diese Erfahrung. Ein junges Mädchen hört die Geschichte und ist entschlossen, ihm das Leben zu retten. Die beiden machen sich erneut auf den Weg nach Salerno. Als das junge Mädchen auf dem Tisch der Ärzte liegt und diese schon mit dem Messer nach ihr greifen, gebietet ihnen der arme Heinrich, der dies durch einen Spalt in der Wand beobachtet, Einhalt und lässt das Opfer nicht zu. Die beiden kehren nach Hause zurück und auf dem Rückweg geschieht das Wunder: der Aussatz des armen Heinrich heilt.

Was macht nun aber Rainer Malkowski in seiner Situation, in seiner lebensbedrohlichen Krankheit? Er übersetzt das Werk von Hartman von Aue neu ins Deutsche und kommt dabei zu der Entscheidung: Ich möchte den Wunsch aufgeben, durch irgendein Zaubermittel geheilt oder durch einen eigenen gewalttätigen Zugriff „erlöst“ zu werden. Ich willige ein.

In einem Gedicht hält er fest: „Die Toten werfen Strickleitern über die Mauern.“ Er spürt plötzlich: Diese Situation, auf die er zugeht, muss er nicht allein meistern, sondern da gab es Menschen vor ihm, die diesen Weg gegangen sind. Sie sind jetzt nicht einfach fern oder weg, sondern sie kommen ihm zu Hilfe und werfen Strickleitern über die Mauer. So kann er in sein Sterben einwilligen. Für Margarete Malkowski, seine Frau, ist das Ganze wie ein Wunder gewesen. Sie sagte mir: Ich wüsste nicht, wie ich mit der anderen Situation zurechtkäme. Diese aber lässt mich gut weiterleben.

DER RADIOONKOLOGE MARTIN BLEIF

Der Radioonkologe Professor Martin Bleif, der früher an der Uni-Klinik in Tübingen war und jetzt in Göppingen eine Klinik leitet, war dabei, ein Handbuch über Krebs zu schreiben, „Krebs, die unsterbliche Krankheit.“ Und just in dem Moment erkrankt seine eigene Frau mit 35 Jahren, ein Knoten in der Brust wird festgestellt. Und er ist nicht mehr nur Experte in dieser Krankheit. Er ist Mitbetroffener.

Wer dieses Buch in die Hand nimmt, wird merken, dass dieses Fachbuch in einem ganz neuen Ton geschrieben ist. Jedes Kapitel beginnt immer mit den Fragen seiner Frau: An welchem Zeitpunkt habe ich was falsch gemacht? Also die berühmte Warum-Frage. Was habe ich übersehen? Was hast Du übersehen? Also permanent diese Fragen, die im Raum sind und an die er jeweils seine Informationen zur Krankheit anhängt. Am Schluss des Buches beschreibt er das Sterben seiner Frau. Mit den Worten Rilkes, aber ganz anders gewendet. „Sie war jetzt die Seine, wenn auch nicht lachenden Munds.“

„Sie verbrachte die letzten zwei Wochen im Bett mitten im Wohnzimmer, umgeben von mir, ihren Eltern und Geschwistern und unserer kleinen zweijährigen Tochter. Die Selbstgewissheit der Gläubigen ist mir verwehrt. Mir versagt die Stimme. Daher lasse ich sie sprechen: Ihr steht an meinem Grabe – hier bin ich nicht. Ihr sucht mich an meinem Grabe – hier bin ich nicht“ (Bleif, 476). Fast eine kleine Auferstehungsgeschichte.

Literatur, Medizin und Theologie berühren sich, wenn sie nicht vollmundig über das Sterben oder die Sterbenden sprechen, sondern wenn sie die Sterbegröße der Menschen respektieren – auf je eigene Weise. Das kann Ergebung genauso sein wie Protest oder Rebellion. ■

LITERATUR

Bleif, Martin, Krebs. Die unsterbliche Krankheit, Stuttgart 2013.

Everding, August, Schwere mit Schwung. Die Abgründe der Details. Laudatio auf Thomas Hürlimann, in: Bernhard Vogel (Hg.), Der Freiheit das Wort. Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 1993–2002, Sankt Augustin 2002, 81–93.

Hartmann von Aue, Der arme Heinrich. Nachdichtung von Rainer Malkowski, München/Wien 2003.

Heine, Heinrich, Sämtliche Werke, hg. von K. Briegleb, München 1976.

Hürlimann, Thomas, Die Tessinerin. Geschichten, Frankfurt a. M. 1984.

Ders., Rede an die Jugend, in: Weilheimer Hefte zur Literatur 40 (1995), nicht paginiert.

Gernhardt, Robert, Gesammelte Gedichte 1954–2006, Frankfurt a. M. 2008.

Malkowski, Rainer, Die Herkunft der Uhr. Gedichte, München/Wien 2004.

Dazu insgesamt:

Garhammer, Erich, Kann Kunst im Sterben trösten? Ein literarisch-theologischer Grenzgang, in: Friederike Felicitas Günther und Wolfgang Riedel (Hg.), Der Tod und die Künste (Würzburger Ringvorlesungen 13), Würzburg 2016, 343–361.

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