Kitabı oku: «Oktobermeer»
Eriksson
Oktobermeer
Erik Eriksson
Oktobermeer
Übersetzt aus dem Schwedischen
von Else Ebel
© 2010 Oktober Verlag, Münster
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
Alle Rechte vorbehalten
Originaltitel: Oktoberhavet
Satz: Linna Grage
Umschlag: Tom van Endert
unter Verwendung eines Fotos von www.photocase.de/JokeyEye
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net
ISBN: 978-3-941895-02-7
DER SOHN
1.
Es hatte die ganze Woche über geregnet, es war nicht besonders kalt, hinten auf dem Hügel am Hafen, dort wo die Campingwagen parkten, trugen die Eichen noch ihr grünes Laub. Einige Touristen waren noch da, aber die Imbissbuden waren geschlossen, die Saison war zu Ende. Tagsüber war ich mit Schreiben beschäftigt, abends saß ich am Kaminfeuer und las; ich hatte im Frühsommer einige große Kiefern fällen lassen und heizte jetzt mit deren Holz.
Eines Abends wurde ich recht spät von einem unbekannten jüngeren Mann angerufen, er sprach englisch mit einem Akzent, er entschuldigte sich, nahm an, dass er störe. Ich sagte, dass ich für gewöhnlich lange auf sei, und dass es deshalb nichts ausmache.
Der Regen hatte während des Gesprächs an Stärke zugenommen, es pladderte laut auf das Dach des Gewächshauses draußen vor dem Wohnzimmer, in dem ich saß. Natürlich war es reiner Zufall, dass der Unbekannte gerade an diesem Abend angerufen hatte, die ganze Woche hatte es geregnet. Es sollte sich jedoch zeigen, dass das Wetter für ihn von großer Bedeutung war. Der Herbstregen war wichtig.
Der Unbekannte kannte meinen Namen, er nannte mich Sir, Mister, er war auf eine altmodische Art sehr höflich. Vielleicht war er ein wenig nervös, er hatte vergessen, sich selbst vorzustellen. Ich fragte ihn nach seinem Namen.
»Anton, ich bitte um Entschuldigung, ich heiße Anton, ich komme aus Sankt Petersburg.«
»Ah, ja?«
»Ich glaube, Sie haben meinen Vater gekannt, er hat sich eine Zeitlang in Schweden aufgehalten.«
»Ah, ja?«
»Er ist im Herbst 1977 hier gewesen, auch einige Zeit im darauf folgenden Jahr, er ist von einem russischen Schiff gekommen, ja, unser Land hieß ja damals Sowjetunion, deshalb muss man wohl sagen, dass das Schiff sowjetisch war, es war ein sowjetisches Lastschiff.«
»Wie hieß Ihr Vater denn?«
»Michail Stein.«
Ich glaube, ich habe eine ganze Weile schweigend dagesessen, ich hörte, wie der Mann atmete, ich überlegte, ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Ich kannte Michail Stein, aber wie konnte diese unbekannte Person denn wissen, dass ich das alles durch einen reinen Zufall erfahren hatte? Dieser Unbekannte kam außerdem offenbar aus diesem chaotischen Russland, ich fühlte eine leise Unruhe in mir aufsteigen.
»Warum rufen Sie mich eigentlich an«, sagte ich schließlich und versuchte nicht, meine Zweifel zu verbergen.
»Ich weiß, dass ich Sie belästige«, antwortete der Mann, der sich Anton nannte, »mir ist klar, dass ich aufdringlich bin, das hier ist jedoch sehr wichtig für mich. Sie hatten Kontakt mit den Verwandten der Frau, die mein Vater hier in Schweden kennen gelernt hat.«
»Und wenn das so sein sollte?«
»Sie können mir helfen, ich bitte Sie darum, Sie könnten mir die allergrößte Hilfe sein.«
Er sprach ein gutes, allerdings etwas kompliziertes Englisch von einer Art, die wahrscheinlich in alten Übungsbüchern vorkam, er entschuldigte sich ständig, benutzte so altertümliche Wendungen wie: Could be of the greatest assistance, I urge, I would like to apologize. Ich nahm an, dass er gebildet war, er hatte eine gute Aussprache, wie sie gebildete Russen oft haben, wenn sie fremde Sprachen sprechen.
»Und was für eine Art von Hilfe, glauben Sie, kann ich Ihnen anbieten?«
»Wir könnten uns treffen, so dass ich mein Anliegen näher erläutern könnte.«
»Jetzt telefonieren wir miteinander, reicht das nicht?«
»Ich bitte Sie sehr, das hier ist von größter Bedeutung für mich, es betrifft mein weiteres Leben, es kann gar nicht überschätzt werden.«
Er wiederholte die alten englischen Wendungen, und jetzt betonte er die Wörter auf eine Art und Weise, die nicht britisch war, ich glaube sogar, dass er einmal etwas schluchzte. Ich ließ mich also überzeugen, denn ich begann zu begreifen, dass es ihm ernst war, er war vielleicht auf der Suche nach entscheidenden Fakten hinsichtlich seines Lebens. Ich wusste ja einiges darüber, was sein Vater durchgemacht und was er anderen Menschen zugefügt hatte.
»Und wenn wir uns treffen sollten, wie bald soll das sein?«
»So bald wie möglich, wenn es für Sie ginge, für meinen Teil würde ich ein sofortiges Treffen vorziehen.«
»Wo wohnen Sie denn?«
»In einem Hotel in Grisslehamn.«
»Also befinden Sie sich schon hier am Ort?«
»Ich habe ein Zimmer im Hotel »Havsbadet« gemietet.«
»Dann können wir uns dort vielleicht morgen Vormittag treffen.«
»Oh, ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Ich werde gegen elf dort sein, wir können eine Tasse Kaffee zusammen trinken und uns eine Weile unterhalten, Sie haben mir jedoch Ihren Nachnamen noch nicht genannt.«
»Muratov.«
»Sie tragen nicht den Namen Ihres Vaters?«
»Nein, das ist eine etwas umständliche Geschichte, die mit dem Verschwinden meines Vaters zusammenhängt.«
2.
Ich war früh dran, spazierte durch den Hafen, betrachtete die Fischerboote, die am Kai vertäut lagen. Ein einzelner Platz war leer, ein Boot war draußen auf dem Meer. Die Fischerei lag danieder, viele schoben den Mangel an Dorsch auf die Robben, aber es gab auch eine andere Erklärung dafür: die große Ausfischung, die das Meer zerstört hatte, alle diese gigantischen schwimmenden Mähmaschinen in den Händen von habgierigen Menschen.
Die armen Fischer der Ostküste besaßen nur ihre kleinen Boote, sie kamen gegen die Konkurrenz nicht an, sie wurden aus dem Feld geschlagen. Fünf unbedeutende, lecke Kähne lagen an diesem Morgen an der Brücke, ein einziger befand sich auf dem Weg zurück vom Meer, wie immer, ohne einen Fang gemacht zu haben.
Niemand wartete am Kai, hielt den Kaffee im Bootshaus warm, schliff die Filetmesser, hoffte, niemand.
Das Hotel ist groß, es liegt am Nordabhang, hat eine schöne Aussicht über die Felsen, die Hafeneinfahrt und die roten Hütten. Es ist ein Konferenzhotel, die Büroleute kommen mit Bussen aus der Stadt, bleiben ein paar Tage, halten eine Tagung ab, essen gut, machen Spaziergänge, baden in der Sauna, trinken, klopfen vorsichtig an die Tür des Nachbarn, wachen mit Kopfschmerzen auf, tagen weiter, fahren nach Hause.
Ich ging den Pfad hinauf, schnappte nach Luft, ging das letzte Stück langsamer, nickte der Frau am Eingang zu, ich kannte sie, sie wohnt auf Fogdö. Ich sagte, dass ich jemanden treffen wolle, wurde um diese Zeit noch Kaffee serviert?
Ja, natürlich, im Speisesaal, sie würde Bescheid sagen.
Ich ging weiter durch die Hotelhalle und dachte, dass der Mann, den ich treffen wollte, vermutlich schon da sein und warten würde, da er es ja so eilig gehabt hatte.
Der Speisesaal war leer, eine Kellnerin war dabei, das Frühstücksgeschirr wegzuräumen, eine Möwe flog am Fenster vorbei, drehte um, schnappte nach irgendetwas in der Luft, verschwand in der Richtung, aus der sie gekommen war. Anton Muratov war noch nicht da, der Mann, den ich suchte, war noch nicht gekommen. Ich sah auf die Uhr, es war noch nicht ganz elf, ich war derjenige, der zu früh gekommen war.
Es kam mir in den Sinn, dass dieses Treffen für mich vielleicht ebenso wichtig sein könne wie für Anton. Den ganzen Vormittag über war ich recht gespannt gewesen, das merkte ich jetzt erst. Als ich den leeren Saal und die abgeräumten Tische betrachtete, fühlte ich mich richtig einsam. Ich glaube, all das Weiß hatte dieses Gefühl ausgelöst: Die Tischtücher ohne Teller und Besteck, das Licht, das durch die großen Fenster hereinfiel, die sauberen Wände. Dazu kam der noch nicht ausgelüftete Geruch der Menschen, die bis vorhin hier noch gefrühstückt hatten.
Die Kellnerin war mit einem Tablett voller Geschirr hinausgegangen. Jetzt kam sie zurück, ich hatte mich an einem Tisch am Fenster niedergelassen, sie sagte, dass sie gehört habe, dass ich Kaffee bestellen wolle.
»Wir sind zwei, ich warte auf einen Gast, der hier wohnt, er kommt jeden Augenblick.«
»Zwei Kaffee also?«
»Ja, zwei Kaffee und ein bisschen Gebäck vielleicht.«
»Gut, das geht in Ordnung.«
Sie hatte hellrote Haare. Ich folgte ihr mit den Blicken, als sie ging. Im selben Augenblick, in dem sie durch die Tür in Richtung Küche verschwand, vernahm ich Schritte vom anderen Ende des Raumes her. Ich wandte mich um und sah einen kleinen Mann auf mich zukommen, er trug einen hellen Sommeranzug, er lächelte und streckte mir beide Hände mit nach oben gerichteten, leicht gebogenen Handflächen entgegen. Ich erhob mich und ergriff eine der ausgestreckten Hände. Der Mann in dem Sommeranzug legte seine freie Hand darauf. Er schüttelte unsere drei Hände und lächelte.
»Sir, ich bin so glücklich.«
»Danke, Anton, wir können wohl unsere Vornamen gebrauchen.«
»Ich bin so glücklich, wirklich, wirklich glücklich.«
Ich machte meine Hand frei, setzte mich wieder hin, er blieb stehen und sah tatsächlich glücklich aus, ich glaube, er hatte Tränen in den Augen. Ich nahm an, dass das wahrscheinlich ein Ausdruck russischer Empfindsamkeit war; Tränen scheinen ja oft zu ihren Empfindungen zu gehören.
Wir tranken unseren Kaffee, zunächst schweigend. Anton lächelte die ganze Zeit über, dann begann er, über sich selbst zu sprechen: Er war Ingenieur, Chemiker mit Hochschulabschluss, er war verheiratet, seine Frau war Lehrerin, sie hatten zwei Kinder, Alexander und Sonia.
Ich sagte, dass ich Schriftsteller sei, Anton sagte, dass er das wisse, ich fragte, wie er das wissen könne.
»Leute, bei denen ich mich erkundigt habe, kennen Sie, und dann habe ich mich durchgefragt.«
»Aber eigentlich suchen Sie Ihren Vater?«
»Ja, das ist mein Vater, Michail Stein.«
»Lebt Ihr Vater noch?«
»Vielleicht lebt er noch, aber ich glaube es nicht, ich hoffe es natürlich, aber ich weiß es nicht.«
»Wann haben Sie denn zuletzt etwas von ihm gehört?«
»Das ist schon lange her, er war keiner, der oft geschrieben hat.«
»Aber wie lange ist das denn her?«
»Viele Jahre sind seitdem vergangen.«
Er sah betrübt aus. Die Freude, die er gezeigt hatte, als er mich begrüßte, war verschwunden, ich meinte, wieder Tränen in seinen Augen erkennen zu können. Er nickte langsam, vielleicht um zu betonen, dass so viele Jahre vergangen waren.
Aber dann lächelte er wieder, breitete die Arme aus und hielt die leicht angewinkelten Handflächen eine Weile nach oben. Ich nahm an, dass diese Geste etwas Wichtiges unterstreichen sollte: Die angewinkelten Handflächen, ein Lächeln, ein kurzes Schweigen, eine neue Behauptung, eine Frage.
»Ich habe mit einer Dame gesprochen, mit Mrs. Bergman, sie kennt Sie, nicht wahr, Anna Bergman?«
»Ich kenne eine Dame, die so heißt, das stimmt.«
»Sie ist eine entfernte Verwandte von Mrs. Andersson, der Frau, die mein Vater in Schweden kennen gelernt hat.«
»Ja, das ist richtig, Sie sind gut informiert.«
»Ich habe lange gesucht, da das für mich wichtig ist.«
»Dann wissen Sie wahrscheinlich auch, dass Mrs. Andersson, Helena, keine Erben hatte, Anna musste sich um die Dinge kümmern, die nicht von ökonomischem Wert waren, unter anderem um die Tagebücher, der Hof ist laut Testament einer Stiftung zugefallen.«
»Das weiß ich nicht, aber Mrs. Bergman hat mir gesagt, dass Sie die Tagebücher jetzt haben, Sir.«
»Mir ist bestimmtes Material zugänglich gemacht worden, das ist so.«
»Haben Sie die Tagebücher gelesen?«
Er senkte die Stimme, er klang sehr ernst, als er über die Tagebücher sprach, so als ob er an ein Geheimnis rühre, und er nannte mich wieder Sir. Antons Ernst berührte mich, und ich glaube, dass auch ich meine Stimme ein wenig senkte, als ich ihm antwortete.
»Ja, ich habe die Tagebücher durchgesehen.«
»Gibt es darin eine Erklärung für das, was meinem Vater passiert ist?«
»Es ist ja Helena, die über ihr Leben geschrieben hat, aber sie hatte eine Zeitlang ein Verhältnis mit Ihrem Vater, und darüber schreibt sie auch, sogar ganz ausführlich, glaube ich. Ich habe jedoch noch nicht die Zeit gefunden, die Tagebücher genauer zu lesen.«
»Aber steht dort irgendetwas darüber, woraus hervorgeht, wohin mein Vater gegangen ist?«
»Darüber schreibt Helena sehr wenig, ich habe den Eindruck, dass sie nicht wusste, was mit Michail Stein geschehen ist.«
Anton saß schweigend da, er nickte leicht, sah betrübt aus, seine Hände lagen auf dem Tisch, er senkte den Blick, saß eine halbe Minute ganz still da.
»Sehen Sie Ihrem Vater ähnlich?«, fragte ich.
»Er war größer und kräftiger, er war stark, so habe ich ihn in Erinnerung, ich war vierzehn Jahre alt, als er verschwand. Jedoch weder ich selbst noch mein eigener Sohn sehen meinem Vater ähnlich.«
Er holte seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein kleines Foto von seinem Sohn, einem blonden Fünfjährigen in einem blauen Anzug und einem weißen Hemd mit Krawatte. Auf demselben Bild waren auch eine junge Frau und ein kleines Mädchen zu sehen.
»Ihre Frau und Ihre Kinder?«
»Ja, meine eigene Familie. Das Mädchen sieht meiner eigenen Mutter ähnlich, als sie ein Kind war. Meine Mutter hat sich wiederverheiratet, deshalb trage ich einen anderen Namen, sie hätte es nicht tun sollen, sie hätte auf meinen Vater warten sollen.«
Dann seufzte Anton tief, lächelte mich wieder an, ich hatte den Eindruck, dass er aufbrechen oder auf jeden Fall das Gesprächsthema wechseln wollte. Ich machte eine Geste des Einverständnisses: ein Nicken, ein Lächeln, eine unausgesprochene Frage: Sollen wir vielleicht gehen?
»Ist es weit bis zu dem Ort, an dem sie gewohnt haben«, fragte Anton.
»Nein, nicht besonders, ich habe ein Auto, wir können hinfahren.«
»Und die Stelle, an der mein Vater an Land gekommen ist?«
»Ja, dieser Strand befindet sich auch dort in der Nähe.«
3.
Nach dem Mittagessen lugte die Sonne hervor. Anton sagte, dass er Regen und einen grauen Himmel vorziehen würde, zumindest im Augenblick würde er das tun, da er recht sicher sei, dass das Wetter stürmisch gewesen sei, als sein Vater an die schwedische Küste kam.
Er wiederholte den Ausdruck die schwedische Küste, denn dorthin sei sein Vater gekommen, an die steinige Küste der kleinen Inseln. Wie das Wetter damals während dieser Tage im Oktober 1977 gewesen war, wusste er, denn seine Mutter hatte es ihm erzählt. Sie hatte erfahren, an welchem Tag ihr Mann von dem Schiff, auf dem er gearbeitet hatte, verschwunden war, das Wetter war zu der Zeit im Åländischen Meer nicht anders gewesen als in der Gegend um das damalige Leningrad herum.
»Das Wetter ist in beiden Regionen oft gleich«, sagte Anton, »es war regnerisch und kalt, und es wehte ein starker Wind.«
»Als Ihr Vater verschwunden ist?«
»Oder als mein Vater sich entschloss zu verschwinden.«
»Wissen Sie denn, ob er es selbst gewollt hat?«
»Ich glaube, dass ich es weiß.«
»Wie können Sie das denn wissen?«
»Ich fühle es, denn er war mein Vater, ich trage ihn in mir. In diesem Punkt weiß ich das so sicher, wie ein Sohn es wissen kann, was sein Vater vor langer Zeit gefühlt hat.« Die Sonne wurde von Wolken verdeckt, das Wetter war jedoch ziemlich ruhig, ein schwacher Wind wehte, und auf dem Meer waren nur kleine Wellen zu sehen; als wir über die lange Brücke hinüber nach Fogdö fuhren, es regnete nicht.
Anton saß schweigend da, ich merkte, dass er sich konzentrierte, er betrachtete alles mit gespanntem Blick, ich fuhr langsam, er kurbelte die Scheibe herunter, holte tief Atem, ich sagte nichts, er war unterwegs zu einem Ort, an den er wahrscheinlich lange Zeit oft gedacht hat. Ich hatte den Eindruck, als ob der Ort, den wir jetzt aufsuchen wollten, für Anton vielleicht dieselbe Bedeutung haben könne wie ein Grab für einen Trauernden.
Am Weg war ein kleines handgeschriebenes Schild angebracht: Vävargården.
Ich wusste, dass dieses Anwesen am Meer kürzlich den Eigentümer gewechselt hatte, es wurde jetzt von einem Stockholmer Unternehmer als Sommerhaus genutzt. Ich nahm an, dass sich im Augenblick niemand dort aufhalten würde. Wenn wir trotzdem Menschen antrafen, konnten wir uns ja entschuldigen und um das Anwesen herum hinunter zum Strand gehen.
Ich konnte keine Reifenspuren erkennen, ich parkte auf einer Lichtung, langsam gingen wir das letzte Stück bis zum Tor, das ein großes Schild mit der Aufschrift Privat trug. Es waren keine Menschen zu sehen. Wir überquerten den Hofplatz, ich hatte mir ein paar Entschuldigungen zurechtgelegt, aber die benötigte ich nicht, an diesem Tag im Oktober befanden sich nur Anton und ich auf dem Vävargård.
»Hier haben sie gewohnt.«
»Mein Vater und Helena?«
»Und Helenas Mann, es waren die ganze Zeit über drei Personen.«
»Die anderen interessieren mich eigentlich nicht besonders, ich möchte nur wissen, warum mein Vater uns verlassen hat.«
»Und wo er an Land gekommen ist?«
Anton nickte, sagte jedoch nichts. Er sah auf das Meer hinaus, es rauschte recht stark, der Wind heulte in dem Kiefernwäldchen zwischen dem Haus und dem Strand. Vielleicht begann er jetzt aufzufrischen.
Wir begannen, in Richtung Wasser zu gehen. Ein kleiner Felsen mit Wacholderbüschen versperrte die Sicht, ein natürlicher Windschutz vor dem Wohnhaus, aber auch eine Behinderung der freien Aussicht. Vielleicht konnte man das Meer vom Obergeschoss aus sehen, das nahm ich an, das Haus war breit, aus Holz, rot gestrichen mit schwarzen Hausecken, Sprossenfenstern, Veranda, Mansarden, gebaut um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, ein Schifferhof, an den später eine kleine Webstube angebaut worden war.
Als wir den Gipfel des kleinen Felsens erreichten, traf uns der Wind mit ziemlicher Stärke. Er hatte wirklich aufgefrischt, die Wellen, die an Land schlugen, hatten weiße Kronen.
Anton war stehen geblieben, er stand da mit halboffenem Mund, ließ den Wind Kehle und Lungen füllen. Dann streckte er die Arme aus, stand da mit gespreizten Fingern, mit auseinander gestellten Beinen, zurückgebogenem Hals und Kopf, er starrte direkt in den Himmel. Etwa zehn Sekunden stand er so da, ehe er die Arme senkte und begann, zum Wasser hinunterzugehen.
Der Strand war steinig, flach und nicht sehr gastfreundlich. Anton ging langsam auf die Wellen zu, das Wasser spritzte über seine Schuhe, er ging weiter, wurde nass, sogar die Hosen wurden nass.
Ich war etwas weiter oben stehen geblieben. Jetzt ging auch ich hinunter zum Wasser, aber ich machte ein Stück hinter Anton halt. Er wendete sich zu mir um.
»Hier ist es gewesen«, sagte er.
»Ja, wahrscheinlich hier irgendwo.«
»Nein, genau hier, ich fühle, dass er hier an Land getrieben wurde, oder schwamm, ich weiß nicht wie, aber es war hier.«
Wir blieben noch eine Weile dort stehen, ohne etwas zu sagen. Anton beugte sich hinunter, berührte das Wasser mit den Fingern, die Wellen schwappten über seine Ärmel.
Während ich Anton zurück ins Hotel brachte, wurde nicht viel geredet. Er musste sich etwas Trockenes anziehen, etwas Warmes trinken, vielleicht sich auch etwas ausruhen. Ich selbst konnte ebenfalls etwas Warmes vertragen. Ich war zwar trocken geblieben, aber ich fror, der Wind am Meer war recht durchdringend gewesen.
Ehe wir uns voneinander verabschiedeten, fragte ich Anton nach seinen Plänen für die nächste Zeit. Wenn er noch hier bliebe, könnten wir uns ja noch einmal treffen. Er antwortete, dass er bald nach Sankt Petersburg zurückkehren müsse. Ich sagte, dass es nicht unmöglich sei, dass ich Helena Anderssons Tagebücher für meine Arbeit nutzen würde.
»In einem Buch?«
»Ja, vielleicht in einem Roman.«
»Die Tagebücher haben ja nicht meinem Vater gehört, ich kann nicht verlangen, dass ich sie bekomme, das müssen Sie entscheiden. Aber wenn Sie etwas schreiben, werden Sie in diesem Fall ja auch wohl über meinen Vater schreiben? »Das wird sich wohl kaum vermeiden lassen, da er offenbar einen entscheidenden Einfluss auf Helenas Leben und das ihres Mannes hatte.«
»Wenn ich etwas dazu sagen darf, dann möchte ich Sie um etwas bitten. Suchen Sie nach etwas, das das Motiv meines Vaters erklären könnte, Sie können mir vielleicht helfen zu verstehen, warum er uns verlassen hat.«
»Es kann schwer werden, Einfluss auf eine Geschichte zu nehmen. Wenn sie begonnen hat, lebt sie manchmal ihr eigenes Leben, die Gefühle und Gedanken der Figuren lassen auch oft denjenigen, der schreibt, erstaunen. Und es kann auch vorkommen, dass das Privatleben des Verfassers sich in die Geschichte einschleicht.«
»Ich weiß nicht, ob ich das verstehe, aber wenn Sie über meinen Vater schreiben, dann denken Sie daran, dass er ein sehr freiheitsliebender Mensch gewesen ist, das weiß ich mit Sicherheit. Machen Sie ihn nicht zu Ihrem eigenen Abbild.«
»Ich werde es zu vermeiden suchen, meinen eigenen Spuren nachzugehen.«
»Ich nehme an, das ist eine ganz andere Geschichte?«
»Vielleicht, aber dessen bin ich mir nicht ganz sicher. Ich habe die Tagebücher zwar nur sehr flüchtig gelesen, aber ich meine trotzdem, etwas erkennen zu können, das mich an Dinge erinnert, die ich selbst erlebt habe.«
»Können Sie mir sagen, worum es sich dabei handelt?«
»Ich glaube, es hat mit einer Flucht vor der Liebe zu tun. Hier gibt es etwas, was ich noch nicht verstanden habe.«
Ich rief Anton am selben Abend im Hotel an, ich hatte mit einem weiteren Treffen gerechnet. Ich hatte noch Fragen. Er jedoch hatte sich entschlossen, früh am folgenden Tag nach Sankt Petersburg zurückzukehren. Er hinterließ mir seine Adresse, bat mich, ihn zu benachrichtigen, wenn ich irgendetwas über das Schicksal seines Vaters erfahren sollte.
In den nun folgenden Monaten habe ich Helenas Tagebücher mehrere Male gelesen, auch die Briefe und Aufzeichnungen, die sie hinterlassen hatte. Ich habe Fotos gefunden, ich bin den drei Menschen nähergekommen. Dann habe ich angefangen, ihre Geschichte aufzuschreiben.
Anton jedoch habe ich nur ein einziges Mal getroffen. Damals waren zwanzig Jahre vergangen, seit sein Vater Michail Stein an dem flachen und steinigen Strand am Åländischen Meer an Land gekommen war.