Mathilde

Mathilde entfaltet das Bild einer jungen Frau aus der hohen Gesellschaft der Julimonarchie, die zwischen Standeserwartung, ökonomischen Zwängen und persönlichem Begehren zerrieben wird. In Salons, Theatern und Schuldenkontoren beobachtet der Roman die Mechanik des Heiratshandels und der Repräsentation, indem er das Glitzern aristokratischer Fassaden mit den Schatten aus Berechnung, Spekulation und moralischer Heuchelei kontrastiert. Stilistisch verbindet Sue die Spannung des Feuilletonromans – mit Cliffhangern, Szenenwechseln und stark dialogischer Führung – mit sozialkritischer Analyse und pathetischer Empörung, wodurch ein Panorama entsteht, das zwischen melodramatischer Zuspitzung und realistischem Detail changiert. Eugène Sue (1804–1857), der nach einer marineärztlichen Laufbahn zum Schriftsteller wurde, brachte in seine frühen Gesellschaftsromane die Erfahrung unterschiedlicher Milieus und die Beobachtungskraft des Reporters ein. Mathilde, entstanden in den frühen 1840er Jahren, markiert eine Übergangsphase hin zu den großen sozialen Zeitromanen des Autors: Die Kritik an Kastenvorrechten, die Aufmerksamkeit für weibliche Handlungsspielräume und die Sicht auf die Verquickung von Geld und Moral sind hier bereits programmatisch angelegt. Wer die Genese des europäischen Sozialromans verstehen will, findet in Mathilde eine unverzichtbare Lektüre: ein spannendes, scharfes und zugleich empathisches Sittenbild, das die Risse einer Epoche zeigt – und die Fragen nach Freiheit, Würde und Verantwortung mit seltener Klarheit stellt.